J. Barkhoff & V. Hefferman: Schweiz schreiben (Anthologie)

Literarische (De)Konstruktion des Mythos Schweiz

von Sig­rid Grün

Die na­tio­na­len My­then prä­gen bis heu­te das Ge­schichts­be­wusst­sein der Schweiz und tra­gen da­mit als iden­ti­fi­ka­ti­ons­stif­ten­de Ge­bil­de zum Zu­sam­men­halt bei, was bei ei­ner Na­ti­on, die vier Spra­chen und vier Kul­tu­ren ver­bin­det, ein Kunst­stück ist. Umso in­ter­es­san­ter ist es des­halb auch, ei­nen Blick auf den Kon­strukt­cha­rak­ter der zen­tra­len Schwei­zer My­then zu wer­fen und die zahl­rei­chen De­kon­struk­ti­ons­pro­zes­se zu ana­ly­sie­ren, die v.a. in der zeit­ge­nös­si­schen Schwei­zer Li­te­ra­tur (ins­be­son­de­re nach 1945) eine aus­ser­or­dent­lich wich­ti­ge Rol­le spielen.

Schweiz schreiben - Anthologie - Glarean MagazinIm vor­lie­gen­den, von Jür­gen Bark­hoff und Va­le­rie Hef­fer­man her­aus­ge­ge­be­nen Band wird ge­nau dies ge­macht: “Schweiz schrei­ben” ist die Zu­sam­men­fas­sung der Er­geb­nis­se ei­ner Ta­gung, die im Ok­to­ber 2006 in Ir­land (in und um Dub­lin) un­ter dem Ti­tel “My­thos Schweiz. Zu Kon­struk­ti­on und De­kon­struk­ti­on des Schwei­ze­ri­schen in der Ge­gen­wart” statt­fand. An drei Ta­gen ver­such­ten sich Schwei­zer Au­toren und Aus­lands­ger­ma­nis­ten dem The­ma “Die Lage der Schweiz in der Li­te­ra­tur, und die Lage der Li­te­ra­tur in der Schweiz” anzunähern.
Her­aus­ge­kom­men ist ein un­ge­heu­er ge­halt­vol­les und span­nen­des Buch, das iden­ti­fi­ka­to­ri­sche Pro­zes­se sicht­bar macht und ex­ak­te Ana­ly­sen zen­tra­ler Schwei­zer My­then bietet.

Schweizer Mythen von den “Alpen” bis zum “Sonderfall”

Im Mit­tel­punkt ste­hen fol­gen­de My­then und de­ren (De)Konstruktion: My­thos Schweiz­erli­te­ra­tur, My­thos Al­pen, My­thos Eid­ge­nos­sen­schaft, My­thos Son­der­fall, My­thos Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät, My­thos li­te­ra­ri­scher Ge­gen­dis­kurs so­wie der My­thos Ir­land. Beim Letzt­ge­nann­ten zielt die Be­zug­nah­me auf die Ge­mein­sam­kei­ten der bei­den Staa­ten. So­wohl die Schweiz als auch Ir­land sind durch ihre Rand­stän­dig­keit (in Eu­ro­pa) ge­kenn­zeich­net. Der In­sel­cha­rak­ter ist ein­mal geo­gra­phisch, ein­mal po­li­tisch be­dingt. Bei­de Staa­ten ste­hen für Un­ab­hän­gig­keit – wäh­rend Ir­land sei­ne Ei­gen­stän­dig­keit ge­gen­über Gross­bri­tan­ni­en al­ler­dings in ei­nem er­bit­ter­ten Un­ab­hän­gig­keits­kampf im­mer wie­der be­haup­ten muss­te, sind die Ur­sprün­ge der “be­waff­ne­ten Neu­tra­li­tät” der Schweiz beim Wie­ner Kon­gress von 1815 zu su­chen, auch wenn die­se eher auf­er­leg­te Neu­tra­li­tät an­ge­sichts der Grün­dungs­my­then Bun­des­brief und Rüt­li­schwur schon viel frü­her ver­mu­tet werden.

Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt als Mythenzertrümmerer

Im Be­reich der Li­te­ra­tur wer­den Max Frisch und Fried­rich Dür­ren­matt als die My­then­zer­trüm­me­rer schlecht­hin ge­han­delt. Pe­ter von Matt er­klärt, wel­che Mo­ti­ve zen­tral sind und schlägt ei­nen Bo­gen zu frü­he­ren Wer­ken der Schwei­zer Li­te­ra­tur. Das “schul­di­ge Kol­lek­tiv” ist hier von gros­ser Be­deu­tung – man den­ke nur mal an Gott­helfs “Schwar­ze Spin­ne” und an Dür­ren­matts “Be­such der al­ten Dame”.
Doch auch der “My­thos li­te­ra­ri­scher Ge­gen­dis­kurs” wird an an­de­rer Stel­le the­ma­ti­siert. Die Schwei­zer Li­te­ra­tur greift näm­lich im­mer wie­der die Po­li­tik des Lan­des auf und ent­wi­ckelt ei­nen – nicht im­mer frucht­ba­ren – Ge­gen­dis­kurs, wie Els­beth Pul­ver be­tont: “Die Vor­stel­lung ei­ner an­de­ren, bes­se­ren Schweiz mit den In­tel­lek­tu­el­len als He­rol­den und Sach­wal­tern, sie löst die Be­klem­mung nicht; sie droht sie zu zementieren.”

“Schweiz schrei­ben” ist ein fa­cet­ten­rei­cher und ge­halt­vol­ler Band, der sich auf eine äus­serst in­ter­es­san­te Wei­se mit der Schweiz aus­ein­an­der­setzt. Hier wird das Brö­ckeln zen­tra­ler Schwei­zer My­then auf­ge­zeigt und ein Schweiz­bild ent­wor­fen, das nicht nur auf der “Heidi-Land”-Idylle ba­siert, son­dern auch Kri­sen in­te­griert. Sehr zu empfehlen!

Die jün­ge­re Schrif­steller­ge­nera­ti­on – bei­spiels­wei­se Zoe Jen­ny, Ruth Schwei­kert und Pe­ter Stamm – scheint für eine eher “un­schwei­ze­ri­sche Schweiz­erli­te­ra­tur” (Va­le­rie Hef­fer­man) zu ste­hen. Doch trifft dies tat­säch­lich zu? Zur be­son­de­ren Be­zie­hung Schweiz – Ir­land wird die Li­te­ra­tur der in Ir­land le­ben­den Schwei­zer Au­torin Ga­bri­el­le Ali­oth auf­ge­grif­fen. Ne­ben Ali­oth ha­ben üb­ri­gens meh­re­re Schwei­zer Ge­gen­warts­au­toren auf der grü­nen In­sel ein neu­es Zu­hau­se ge­fun­den, u.a. Rolf Lap­pert und Hans­jörg Schertenleib.

Schweiz schrei­ben” ist ein fa­cet­ten­rei­cher und ge­halt­vol­ler Band, der sich auf eine äus­serst in­ter­es­san­te Wei­se mit der Schweiz aus­ein­an­der­setzt. Hier wird das Brö­ckeln zen­tra­ler Schwei­zer My­then auf­ge­zeigt und ein Schweiz­bild ent­wor­fen, das nicht nur auf der “Heidi-Land”-Idylle ba­siert, son­dern auch Kri­sen in­te­griert. Sehr zu empfehlen! ♦

Jür­gen Bark­hoff / Va­le­rie Hef­fer­man (Hrsg.), Schweiz schrei­ben – Zu Kon­struk­ti­on und De­kon­struk­ti­on des My­thos Schweiz in der Ge­gen­warts­li­te­ra­tur, 320 Sei­ten, De Gruy­ter Ver­lag, ISBN 9783484108127

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Ma­rio An­dreot­ti: Ten­den­zen der Schwei­zer Literatur

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