Zoryana & Olena Kushpler: Slawische Seelen (CD)

Fesselnde Darbietung russischer Liedkunst

von Jörn Severidt

Da die­se mei­ne Ein­schät­zung ei­ner neu­en CD-Pro­duk­ti­on des ukrai­ni­schen Mu­sik-Schwes­tern­paa­res Zory­a­na und Ole­na Kush­pler schliess­lich – das sei schon ver­ra­ten – be­tont po­si­tiv en­den wird, sei mir er­laubt, mit ein paar kri­ti­schen An­mer­kun­gen zu be­gin­nen. Umso mehr, als ich beim Er­halt die­ser CD kaum Lust hat­te, auch nur die Plas­tik­fo­lie auf­zu­reis­sen – und mich so­mit fast um den Ge­nuss ei­nes un­ge­wöhn­li­chen mu­si­ka­li­schen Er­leb­nis­ses be­tro­gen hätte.

Zoryana & Olena Kushpler - Slavonic Souls (Slawische Seelen) - Tschaikowsky - Mussorgsky - Rachmaninow (Capriccio Label)Wo­her der an­fäng­li­che Wi­der­wil­le? Nun, an der Ober­flä­che sprach aus mei­ner Sicht ein­fach al­les ge­gen die­se CD: Ein sinn­lo­ser Ti­tel; ein Lay­out, das sich an die Ku­schel­klas­sik-Kund­schaft zu wen­den scheint; Lie­der mit Kla­vier­be­glei­tung von vier Kom­po­nis­ten, die mir al­le­samt nicht als Schöp­fer sol­cher Wer­ke be­kannt wa­ren; und das Gan­ze dann auch noch rus­sisch ge­sun­gen – wer braucht das denn?

Bereits nach dem ersten Hören begeistert

Beginn von Tschaikowskis
Be­ginn von Tschai­kow­skis “In­mit­ten des Bal­les” (op. 38 Nr. 3) für Mez­zo­so­pran und Klavier

Doch zum Glück ist mir das ös­ter­rei­chi­sche La­bel Ca­pric­cio (mit sei­ner hier kürz­lich be­spro­che­nen CD von Egon Wel­lesz: Kla­vier­kon­zert und Vio­lin­kon­zert) noch in gu­ter Er­in­ne­rung, und so gab ich die­ser Ver­öf­fent­li­chung die Chan­ce, die sie, wie sich dann her­aus­stell­te, mehr als ver­dient hat. Denn wäh­rend ich mei­ne Ab­nei­gung ge­gen die Mar­ke­ting-Aspek­te bis heu­te nicht über­wun­den habe, so war ich doch be­reits nach dem ers­ten Hö­ren von die­ser Mu­sik be­geis­tert und (bei­na­he) auch be­reit, die im Bei­heft auf­ge­stell­te Be­haup­tung, die rus­si­sche Lied­tra­di­ti­on sei der deut­schen eben­bür­tig, zu un­ter­schrei­ben. Auch durch die Spra­che emp­fand ich kei­ner­lei Min­de­rung des mu­si­ka­li­schen Ge­samt­ein­drucks, im Ge­gen­teil: sie lässt die in­halt­li­che Di­men­si­on umso glaub­wür­di­ger erscheinen.
Das ist letzt­lich we­nig über­ra­schend, er­freu­en sich doch auch Schu­bert, Wolff und Strauss ei­ner welt­wei­ten An­hän­ger­schaft, die die deut­schen Tex­te kaum ver­ste­hen dürf­ten. In die­sem Fall liegt aus­ser­dem ein äus­serst in­for­ma­ti­ves Bei­heft vor (dies scheint bei Ca­pric­cio die dan­kens­wer­te Re­gel zu sein), das in die Ge­fühls­welt der ein­zel­nen Kom­po­nis­ten und Lie­der ein­stimmt. Auch die deut­schen Über­set­zun­gen der Lie­der­ti­tel sind hilf­reich, ich muss­te mich in kei­nem Fall fra­gen, was hier denn nun wohl kom­mu­ni­ziert wer­den sol­le – Mu­sik ist eben eine ech­te Lin­gua Franca.

Hochrangige Komponisten der russischen Romantik

“Ans Sym­pho­ni­sche gren­zen­de Stür­me”: Ser­gei Rach­ma­ni­now (1873-1943)

Ver­tre­ten sind mit Tschai­kow­ski, Rach­ma­ni­now, Rim­s­ki-Kor­sa­kow und Mus­sorg­ski vier hoch­ran­gi­ge Kom­po­nis­ten der rus­si­schen Ro­man­tik, die si­cher­lich kei­ner­lei Vor­stel­lung mehr be­dür­fen. Mus­sorg­ski ist mit 23 Mi­nu­ten Spiel­zeit am stärks­ten re­prä­sen­tiert, Tschai­kow­ski wur­den 12, den an­de­ren bei­den Kom­po­nis­ten je­weils 9 Mi­nu­ten ein­ge­räumt. Es hät­te also mehr auf die CD ge­passt, doch mög­li­cher­wei­se woll­te man bei Ca­pric­cio die sehr hohe Qua­li­tät des ein­ge­spiel­ten Ma­te­ri­als nicht ver­wäs­sern. Im­mer­hin lässt sich die­se Plat­te von vorn bis hin­ten durch­hö­ren, ohne dass auch nur ei­nen Mo­ment lang Lan­ge­wei­le aufkäme.

Die Dar­bie­tung der In­ter­pre­tin­nen, des ukrai­ni­schen Schwes­tern­paa­res Ole­na und Zory­a­na Kush­pler, ist voll­endet. Ole­na Kush­pler meis­tert die ans Sym­pho­ni­sche gren­zen­den Stür­me Rach­ma­ni­nows eben­so wie die gra­zi­le Fein­sin­nig­keit Mus­sorgskis. Sie schafft es, in For­tis­si­mo-Pas­sa­gen Tie­fe und Aus­drucks­stär­ke zu ver­mit­teln, ohne ihre Schwes­ter je­mals an die Wand zu spie­len. Die­se wie­der­um ver­fügt über ei­nen üp­pi­gen, sat­ten Mez­zo­so­pran, der mich ge­le­gent­lich (trotz der an­de­ren Stimm­la­ge) an Jes­sye Nor­man er­in­nert. Bei al­ler Kraft bleibt ihre Stim­me im­mer kon­trol­liert und klar ar­ti­ku­liert, ver­zich­tet ih­rer­seits eben­falls dar­auf, das Kla­vier in den Hin­ter­grund zu drän­gen. Hier wird nicht ge­gen­ein­an­der, son­dern mit­ein­an­der mu­si­ziert und da­bei ech­te Lied­kunst erreicht.

Begeisterndes Klavierspiel bei Rachmaninow

Zoryana Kushpler - Sopranistin - Glarean Magazin
So­pra­nis­tin Zory­a­na Kushpler

Los geht es mit Tschai­kow­ski, des­sen sehn­suchts­voll schwel­gen­de und doch nie auf­dring­lich dra­ma­ti­sche Ro­man­zen (wie sie im Rus­si­schen ge­nannt wer­den) vom ers­ten Mo­ment an ge­fan­gen neh­men. Es feh­len der Hang zum Gros­sen und zu ge­le­gent­li­cher Här­te, die ei­nen Teil der sym­pho­ni­schen und Kam­mer­mu­sik die­ses Kom­po­nis­ten kenn­zeich­nen. Tat­säch­lich er­reicht Tschai­kow­ski in den hier aus­ge­wähl­ten Wer­ken eine Ein­heit von In­halt und Aus­druck, so­wie ein Gleich­ge­wicht von Emo­ti­on und mu­si­ka­li­scher Kon­trol­le, die die­se Lie­der auf das Ni­veau des schu­bert­schen Oeu­vres he­ben. Beeindruckend!
Bei Rach­ma­ni­now, des­sen Bei­trä­ge im Bei­heft mit “Schmer­zen” über­schrie­ben sind, wird in Sa­chen ex­pres­si­ver Dra­ma­tik deut­lich zu­ge­legt. Wer Strauss‘ “Vier letz­te Lie­der” liebt (und wer tut das nicht?), wird da­hin­schmel­zen. Hier be­geis­ter­te mich das Kla­vier­spiel. Ich muss­te so­fort nach­se­hen, ob Ole­na Kush­pler nicht viel­leicht auch Rach­ma­ni­nows Wer­ke für So­lo­kla­vier ein­ge­spielt habe. (Ich hät­te sie so­fort be­stellt, doch lei­der steht eine sol­che Auf­nah­me noch aus).

Unterschiede zwischen den Komponisten trotz ähnlichem Repertoire

Die vier Lie­der von Rim­s­ki-Kor­sa­kow un­ter­schei­den sich un­ter­ein­an­der recht deut­lich, stei­gern sich vom in­tim an­mu­ten­den Wie­gen­lied über in­tro­ver­tiert sin­nen­de Sehn­suchts­be­zeu­gun­gen bis zum opern­haf­ten, stür­mi­schen Sturm-und-Drang-Lied. Bei Letz­te­rem er­in­ner­te mich die rei­che, opern­haf­te Dra­ma­tik des stimm­li­chen Aus­drucks spon­tan an Gun­du­la Ja­no­witz. Be­ein­dru­ckend, wie gut Zory­a­na Kush­pler ih­ren Aus­druck dem Re­per­toire an­passt und so­mit die Un­ter­schie­de zwi­schen den Kom­po­nis­ten auch bei äus­ser­lich ähn­li­chem Re­per­toire er­fahr­bar macht.

Auszug aus Mussorgskys
Aus­zug aus Mus­sorgs­kys “Abend­ge­bet” (Teil des Lie­der­zy­klus’ “Die Kinderstube”)

Mus­sorg­ski ist si­cher­lich ei­ner der un­ge­wöhn­lichs­ten, am schwers­ten ein­zu­ord­nen­den rus­si­schen Kom­po­nis­ten. Von sei­nen neun hier ein­ge­spiel­ten Wer­ken bil­den die ers­ten sie­ben den Zy­klus “Kin­der­stu­be”. Mit des­sen ers­tem Ton wird ein neu­es Ka­pi­tel auf­ge­schla­gen. Vor­bei ist es mit schwel­gen­der Dra­ma­tik und voll­tö­ni­gem In­ners­tes-nach-aus­sen-Stül­pen. Mus­sorgskis in­halt­lich all­täg­li­chen Er­zäh­lun­gen, de­ren Tex­te er selbst ver­fass­te, wer­den in ei­ner Art kind­lich an­mu­ten­dem Sprech­ge­sang vor­ge­tra­gen, der mit sei­ner spär­li­chen, wie selbst­ver­ges­sen mä­an­dern­den Kla­vier­be­glei­tung fast ka­ba­ret­tis­ti­sche Züge trägt. Wenn ich es nicht bes­ser wüss­te, hät­te ich den Kom­po­nis­ten deut­lich spä­ter ein­ge­ord­net, denn eine ähn­li­che Mi­schung aus Nai­vi­tät und Er­fin­dungs­reich­tum er­for­dert ein Mass an Selbst­re­fle­xi­on, das der ro­man­ti­schen Pe­ri­ode ei­gent­lich per de­fi­ni­tio­nem abging.

Hohes Niveau der Aufnahmequalität

Die neue CD der Musik-Schwestern Zoryana und Olena Kushpler gibt gleichzeitig einen schönen Überblick über die russische Liedtradition, macht Lust auf viel mehr, nimmt den Hörer gefangen und überrascht musikalisch immer von neuem.
Die neue CD der Mu­sik-Schwes­tern Zory­a­na und Ole­na Kush­pler gibt gleich­zei­tig ei­nen schö­nen Über­blick über die rus­si­sche Lied­tra­di­ti­on, macht Lust auf viel mehr, nimmt den Hö­rer ge­fan­gen und über­rascht mu­si­ka­lisch im­mer von neu­em. “Sla­wi­sche See­len” sei al­len Lie­der­freun­den und Lieb­ha­bern rus­si­scher Mu­sik ans Herz gelegt.

Da Mus­sorg­ski, wie be­reits er­wähnt, am meis­ten Spiel­zeit be­kommt, ent­steht eine Art Zwei­tei­lung, denn wenn sich auch die Lie­der der an­de­ren drei Kom­po­nis­ten be­reits deut­lich von­ein­an­der un­ter­schei­den, so ste­hen sie im Ver­gleich zu Mus­sorg­ski doch in der glei­chen Ecke.
Die Auf­nah­me­qua­li­tät be­wegt sich auf eben­so ho­hem Ni­veau wie die be­reits lo­bend er­wähn­te Dar­bie­tung der Kush­pler-Schwes­tern. Si­bilan­ten (Zisch­lau­te) sind der Fluch des Ton­meis­ters bei Vo­kal­mu­sik­auf­nah­men, und ein Nach­klang beim schar­fen S hat sich auch hier nicht ganz ver­mei­den las­sen. Wenn man be­denkt, wie reich an Zisch­lau­ten die rus­si­sche Spra­che ist, muss die tech­ni­sche Leis­tung den­noch als über­aus ge­lun­gen ge­wür­digt werden.

Eine CD, die gleich­zei­tig ei­nen Über­blick über die rus­si­sche Lied­tra­di­ti­on gibt, Lust auf viel mehr macht, den Hö­rer ge­fan­gen nimmt und im­mer wie­der über­rascht. Sie sei Lie­der­freun­den und Lieb­ha­bern rus­si­scher Mu­sik glei­cher­mas­sen ans Herz gelegt. ♦

Zory­a­na Kush­pler (Mez­zos­poran) & Ole­na Kush­pler (Kla­vier), Sla­wi­sche See­len (Sla­vo­nic Souls) – Lie­der von Tschai­kow­sky, Rach­ma­ni­now, Rims­ky-Kors­sa­kow und Mus­sorgs­ky, Au­dio-CD, Ca­pric­cio Di­gi­tal (Na­xos)

Inhalt

Tschai­kow­sky: Mein Ge­ni­us; Nur wer die Sehn­sucht kennt; In­mit­ten des Bal­les op. 38 Nr. 3; Ich öff­ne­te mei­ne Fens­ter op. 63 Nr. 2; Es war im frü­hen Früh­ling op. 38 Nr. 2 / Rach­ma­nin­off: Oh nein; Ich er­war­te dich op. 14 Nr. 1; Wie schmerzt es mich op. 21 Nr. 12; Im Schwei­gen der Nacht op. 4 Nr. 3; Al­les nahm er mir weg op. 26 Nr. 2 / Rims­ky-Kors­sa­koff: Lei­se der Abend er­lischt op. 4 Nr. 4; Es ist nicht der Hauch des Win­des von oben op. 43 Nr. 2; Die Wol­ken zie­hen sich zu­rück op. 42 Nr. 3 / Mus­sorgs­ky: Lie­der­zy­klus Die Kin­der­stu­be; Wie­gen­lied des Jer­jo­musch­ka; Gopak

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma So­pran-Ge­sang auch über
Dia­na Damrau: Arie di Bravura

… so­wie zum The­ma Klas­si­sche Mu­sik von
Mau­ricio Bo­tero: Don Ot­tos Klassikkabinett

Ein Kommentar

  1. Sehr ge­ehr­ter, lie­ber Herr Severidt,
    Auf der Su­che nach ei­nem gu­ten Foto von un­se­rem ers­ten CD mit mei­ner Schwes­ter stoß ich auf Ih­ren Kom­men­tar das al­ler­dings schon acht Jah­re zu­rück liegt… aber lie­ber spä­ter als nie habe ich es jetzt ge­le­sen und möch­te mich bei Ih­nen ganz herz­lich für so um­fang­rei­che und prä­zi­se Kri­tik von un­se­rer CD herz­li­chen Dank!!
    Herz­lich Ihre
    Zory­a­na Kushpler

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)