Egon Wellesz: Klavierkonzert und Violinkonzert (CD)

Musikalisches Ringen um Schönheit

von Jörn Severidt

Mal ehr­lich: Wen über­rascht es nicht, zu hö­ren, dass Egon Wel­lesz (1885-1974) um die Mit­te der 30er Jah­re des letz­ten Jahr­hun­derts zu den an­ge­se­hens­ten und meist­ge­spiel­ten zeit­ge­nös­si­schen Kom­po­nis­ten im deutsch­spra­chi­gen Raum ge­hör­te? Und doch war dem so, Wel­lesz war so­wohl als Kom­po­nist als auch als Mu­sik­wis­sen­schaft­ler an­er­kannt, un­ter an­de­rem ent­schlüs­sel­te er als ers­ter die by­zan­ti­ni­sche No­ten­schrift und galt als eine füh­ren­de Ka­pa­zi­tät in Fra­gen der Barockmusik.
Dann kam der An­schluss Ös­ter­reichs an Hit­ler-Deutsch­land und der Jude Wel­lesz wur­de über Nacht zu ei­nem po­li­zei­lich Ge­such­ten, des­sen als “ent­ar­tet” ein­ge­stuf­tes Werk von al­len Spiel­plä­nen ge­stri­chen war. Wel­lesz ging nach Eng­land, wo er sei­ne mu­si­ko­lo­gi­schen For­schun­gen an ei­nem ei­gens für ihn ge­grün­de­ten Lehr­stuhl an der Uni­ver­si­tät von Ox­ford fort­set­zen durf­te und wei­ter an sei­nem so­wohl um­fang­rei­chen wie viel­sei­ti­gen Oeu­vre ar­bei­te­te. Nach dem Krieg be­eil­te man sich um eine Re­ha­bi­li­tie­rung des ver­stos­se­nen Soh­nes, es reg­ne­te ge­ra­de­zu Aus­zeich­nun­gen und Ehr­be­kun­dun­gen, doch Auf­füh­run­gen des mu­si­ka­li­schen Wer­kes blie­ben die Ausnahme.

Egon Wellesz - Klavierkonzert & Violinkonzert - Capriccio
Egon Wel­lesz – Kla­vier­kon­zert & Vio­lin­kon­zert – Capriccio

Umso er­freu­li­cher ist es da, dass das ös­ter­rei­chi­sche La­bel Ca­pric­cio nun die­se künst­le­risch und klang­lich sehr ge­lun­ge­ne Ein­spie­lung des Kla­vier­kon­zer­tes von 1933 und des Vio­lin­kon­zerts von 1961 vor­legt. An­hand die­ser zwei Kon­zer­te, das frü­he­re von gut 20, das spä­te­re von über 30 Mi­nu­ten Spiel­dau­er, wird die künst­le­ri­sche Ent­wick­lung und Per­sön­lich­keit des Egon Wel­lesz nachvollziehbar.

Musikalisches Bild eines verirrten Menschen

Egon Wellesz (1885-1974)
Egon Wel­lesz (1885-1974)

Die CD be­gann für mich mit ei­ner ech­ten Über­ra­schung, denn von den ers­ten Tö­nen an er­in­ner­te mich das Kla­vier­kon­zert in sei­ner un­mit­tel­ba­ren Bild­haf­tig­keit we­der an Spät­ro­man­tik noch an Mo­der­ne, son­dern an das vier­te Kla­vier­kon­zert Beet­ho­vens. Wie die­ses Werk, be­ginnt auch Wel­lesz’ Kon­zert mit ei­ner ly­ri­schen, in­tro­ver­tiert-mä­an­dern­den So­lo­stim­me, die mit dem Or­ches­ter ge­ra­de­zu zu rin­gen scheint. In­ner­halb we­ni­ger Tak­te iden­ti­fi­zier­te ich die­se So­lo­stim­me mit ei­nem In­di­vi­du­um, dem sich eine un­wirt­li­che, von Dis­so­nanz und Wi­der­sprü­chen ge­präg­te Welt ent­ge­gen­stellt. Es ent­steht das Bild ei­nes ver­ein­zelt um­her­ir­ren­den Men­schen, ge­trie­ben von der Su­che nach Schön­heit, aber auch nach Aus­söh­nung und Hoff­nung. Dies sind die gros­sen The­men Beet­ho­vens. Na­tür­lich bricht Wel­lesz sie im Pris­ma der Er­fah­run­gen des frü­hen zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts, sein In­di­vi­du­um er­scheint na­men­los, hei­mat­los, ihm feh­len der Idea­lis­mus, der macht­vol­le Glau­be an die Mög­lich­keit ei­ner hei­len Welt. Doch der Kon­flikt an sich, das Rin­gen um Schön­heit, sind gleich.

Dies mag man­chem zu bild­haft er­schei­nen, doch mir drängt es sich auf, die­ses Werk als Be­schrei­bung der Le­bens­si­tua­ti­on des Kom­po­nis­ten zu se­hen: Im Jahr 1933, dem Jahr der Macht­er­grei­fung der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten in Deutsch­land also, be­ginnt Wel­lesz’ Welt end­gül­tig, zu zer­fal­len und ih­rem Un­ter­gang ent­ge­gen zu streben.

“Kar­ge, kraft­vol­le, dis­so­nan­te, spät­ro­man­ti­sche, klar struk­tu­rier­te und ar­ti­ku­lier­te Ton­spra­che”: Aus Wel­lesz’ “Deut­schem Lied” (R. Deh­mel) für Mitt­le­re Sing­stim­me und Kla­vier (Uni­ver­sal Edi­ti­on 1915)

.Im ers­ten Satz stei­gert sich das des­ori­en­tier­te Um­her­ir­ren des In­di­vi­du­ums zu ei­nem fast pa­ni­schen Aus­bruchs­ver­such, be­vor im zwei­ten Satz Mo­men­te der Ruhe ein­keh­ren. Das geis­ti­ge Bild ist das ei­nes Men­schen, der eine hek­ti­sche Gross­stadt hin­ter sich ge­las­sen hat und nun auf die freie Flur hin­aus­tritt. Im ab­schlies­sen­den, am deut­lichs­ten spät­ro­man­tisch an­mu­ten­den Satz führt Wel­lesz In­di­vi­du­um und Um­ge­bung in ei­ner vor­wärts­drän­gen­den Ge­mein­schaft zu­sam­men, de­ren in­ne­re Span­nun­gen und Wi­der­sprü­che den­noch bis zum Fi­na­le er­hal­ten bleiben.

Mu­si­ka­lisch cha­rak­te­ri­sie­ren das Werk so­wohl ba­ro­cke, als auch klas­si­sche Struk­tu­ren im Or­ches­ter­teil, in de­nen auch in die­ser Schaf­fens­pha­se be­reits ge­le­gent­lich an Mahler und Bruck­ner er­in­nern­de Klang­tep­pi­che aus­ge­brei­tet wer­den. Sie kon­tras­tie­ren mit der Stim­me des Kla­viers, in wel­cher klas­si­scher Aus­druck durch die Bril­le der schön­berg­schen Form­spra­che ge­se­hen er­scheint. Zu­ge­ge­ben, Wel­lesz schafft hier we­nig wirk­lich Neu­es, doch man muss die geis­ti­ge Frei­heit des Kom­po­nis­ten be­wun­dern, der ek­lek­tisch aus­zu­wäh­len ver­mag, ohne sich ei­ner Epo­che oder ei­ner Stil­rich­tung völ­lig zu verschreiben.

Wer die Vio­lin­kon­zer­te von Ar­nold Schön­berg (des­sen Schü­ler Wel­lesz zwei Jah­re lang war) und Al­ban Berg mag, mit de­nen es bei sei­ner Ur­auf­füh­rung zu sei­nen Guns­ten ver­gli­chen wur­de, der soll­te sich das Vio­lin­kon­zert von Wel­lesz nicht ent­ge­hen las­sen. Drei Jahr­zehn­te nach dem Kla­vier­kon­zert ent­stan­de­nen, ist es durch­drun­gen vom Geist der so ge­nann­ten Zwei­ten Wie­ner Schu­le, wenn­gleich es auch auf­fäl­li­ge Un­ter­schie­de gibt. Ei­ner­seits ba­sie­ren alle Sät­ze auf dem­sel­ben Ma­te­ri­al, an­de­rer­seits sind es ih­rer vier, Wel­lesz ver­leiht sei­nem Kon­zert also die for­ma­le Struk­tur ei­ner Symphonie.

Karge, doch kraftvolle Tonsprache

Rundfunkorchester Berlin - Glarean Magazin
Das Rund­funk­or­ches­ter Berlin

Wel­lesz Ton­spra­che ist gleich­zei­tig karg und kraft­voll, dis­so­nant und spät­ro­man­tisch, da­bei so­wohl klar struk­tu­riert als auch ar­ti­ku­liert. In den ers­ten drei Sät­zen bleibt das Or­ches­ter als Gan­zes im Hin­ter­grund, aus dem es nur ge­le­gent­lich in be­droh­li­chem, teils mi­li­tä­risch an­mu­ten­dem Auf­be­geh­ren nach vor­ne drängt und so den Rah­men schafft, in dem sich die So­lo­stim­men be­we­gen. So­lo­stim­men, denn es sind meh­re­re, mit de­nen die erst nach und nach Do­mi­nanz er­rei­chen­de Vio­li­ne in Dia­log tritt. Sie alle um­gibt ein Ge­fühl der Ein­sam­keit, des Stre­bens nach et­was Ver­lo­re­nem. Erst im vier­ten Satz steu­ert die Mu­sik ei­ner Ka­thar­sis ent­ge­gen, wo­bei die Or­ches­ter­pas­sa­gen nun an Gus­tav Mahlers Klang­welt er­in­nern. Eine lan­ge, in­ten­si­ve Ka­denz un­ter­bricht das erup­ti­ve Fi­na­le, dem die Vio­li­ne eine Art Nach­wort in den höchs­ten Re­gis­tern hin­zu­fügt, des­sen letz­te, schwe­ben­de Töne noch lan­ge nach­zu­klin­gen schei­nen, haar­sträu­bend in ih­rer emo­tio­na­len Am­bi­va­lenz – Wel­lesz wei­gert sich bis zu­letzt, sei­ne Welt zu ver­ein­fa­chen oder ihre in­ne­ren Kon­flik­te zu lösen.

Verwebung des Orchesters mit den Solisten

Die Auf­nah­me ist von sehr gu­ter Qua­li­tät. Bei­de So­lis­ten über­zeu­gen, ver­mö­gen eine spe­zi­fi­sche Spra­che zu fin­den, die Wel­lesz nicht zu stark an sei­ne Vor­bil­der an­nä­hert. Auch in den vir­tuo­ses­ten Pas­sa­gen der lan­gen Vio­lin­ka­denz bleibt der mu­si­ka­li­sche Be­zug in je­dem Au­gen­blick er­hal­ten. Das Rund­funk­sin­fo­nie-Or­ches­ter Ber­lin ver­zich­tet dan­kens­wer­ter­wei­se dar­auf, Span­nung durch ex­tre­me Laut­stär­ken zu un­ter­strei­chen und ver­webt sich un­ter der of­fen­kun­dig kom­pe­ten­ten Lei­tung von Ro­ger Epp­le mit den Solostimmen.
Eine CD, die Lieb­ha­bern der deut­schen Spät­ro­man­tik und der Mo­der­ne gleich­falls ans Herz ge­legt sei, die je­doch auch die­je­ni­gen an­ge­nehm über­ra­schen dürf­te, de­nen die­se Epo­chen eher fern liegen. ♦

Egon Wel­lesz, Pia­no Con­cer­to op. 49 & Vio­lin Con­cer­to op. 84, Mar­ga­re­te Ba­b­in­sky (Kla­vier), Da­vid Früh­wirth (Vio­li­ne), Ber­li­ner Ra­dio Sin­fo­nie­or­ches­ter (Ro­ger Epp­le), Ca­pric­cio (CAP5027)


Jörn Severith

Jörn Se­ve­ridt

Geb. 1968 in Göttingen/D, Stu­di­um der Fin­nou­gris­tik, Skan­di­na­vis­tik und Ger­ma­nis­tik in Göt­tin­gen, Tur­ku (Finn­land) und Ham­burg, brei­te mu­si­ka­li­sche In­ter­es­sen und Ak­ti­vi­tä­ten, ver­hei­ra­tet mit ei­ner Fin­nin und Va­ter zwei­er zwei­spra­chi­ger Töch­ter, lebt als Deutsch-Leh­rer in Rovaniemi/Finnland

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Mo­der­ne Kla­vier­mu­sik auch über Er­nest Bloch & Fer­ruc­cio Bu­so­ni: Klavier-Werke

… und le­sen Sie zum The­ma Vio­li­ne & Or­ches­ter auch über Al­ber­to Cur­ci: Vio­lin­kon­zer­te (CD)

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)