Christian Linder: Heinrich Böll (Biographie)

Vom “Schwirren des heranfliegenden Pfeils”

von Wil­ma Ruth Albrecht

Chris­ti­an Lin­ders kürz­lich ver­öf­fent­lich­te 617-Sei­ten-Bio­gra­phie ist in An­leh­nung an eine Me­ta­pher von Jean Paul “Das Schwir­ren des her­an­flie­gen­den Pfei­les” be­ti­telt. Neu­ig­kei­ten über Hein­rich Böll (1917-1985, 1972 Li­te­ra­tur­no­bel­preis) gibt es nicht. Neu ist al­lein der Blick, den Bio­graf Lin­der auf sei­nen Bio­gra­fen­den Böll wirft, und apart ist die Form wie sich der Bio­graf mit sei­nem Bio­gra­fen­den in Be­zie­hung setzt – ver­sucht Lin­der doch, wie in der Nach­be­mer­kung aus­ge­führt, “ein Le­ben und ein Werk aus sich selbst her­aus zu er­klä­ren und zu er­kun­den, wie ich die­se Me­tho­de mit mei­nem ei­ge­nen Le­ben ver­bin­den könnte.”

Christian Linder: "Das Schwirren des heranfliegenden Pfeils" - Heinrich Böll - Eine BiographieDie­se mit ge­cken­haf­ter At­ti­tü­de ver­bun­de­ne Dop­pelim­manenz ist des­halb ein pro­ble­ma­ti­scher An­satz, weil ein Le­ben nicht “aus sich selbst her­aus” er­klärt wer­den kann, die­ses sich viel­mehr im her­me­neu­ti­schen Zir­kel win­det; auch kann ein Werk nicht al­lein über die Bio­gra­phie ei­nes Künst­lers bzw. Schrift­stel­lers er­schlos­sen werden.

Suche nach der verlorenen Heimat

Lin­der un­ter­legt sei­ner Bio­gra­phie die­se exis­ten­ti­el­le Fra­ge­stel­lung: “Zu fra­gen ist […] ob sein Werk auf­grund die­ser durch die in­di­vi­du­el­le Be­son­der­heit sei­ner Per­son und sei­ner Her­kunft zu er­klä­ren­den Er­kennt­nis­chan­cen und Irr­tü­mern un­se­rem Blick aufs Le­ben und auf den Tod neue Seh­wei­sen hin­zu­fü­gen konn­te; was Böll zum Bei­spiel un­ter ´Hei­mat´ ver­stand und ob das in sei­nen Bü­chern auf­schei­nen­de, meis­tens funz­lig, sen­ti­men­tal-hei­me­lig wir­ken­de Däm­mer­licht auf den al­ten Bil­dern, mit de­nen im Kopf er durch das Le­ben ge­reist ist und die er schrei­bend auf­ge­stellt hat auf der Su­che nach der ver­lo­re­nen Hei­mat, für uns wirk­lich be­geh­ba­re ´Heim­we­ge´ be­deu­ten (wo­hin auch im­mer); aus wel­chen Er­in­ne­run­gen nicht nur sei­nes Ge­dächt­nis­ses, son­dern auch sei­nes Kör­pers sein Werk über­haupt zu­sam­men­ge­baut ist…”
Die­se Leit­fra­gen will der Bio­graf in drei breit an­ge­leg­ten Ka­pi­teln: “Der Rei­sen­de”, “Der Staub der Trüm­mer” und “Das Im­pe­ri­um” beantworten.

Briefe aus dem Krieg

Lieferte Böll wichtige Motive wie Armut, Liebe, Religion: Léon Bloy (1846-1917)
Lie­fer­te Böll wich­ti­ge Mo­ti­ve wie Ar­mut, Lie­be, Re­li­gi­on: Léon Bloy (1846-1917)

Im ers­ten Ka­pi­tel wer­tet Lin­der vor al­lem Bölls “Brie­fe aus dem Krieg” aus und fin­det Be­kann­tes her­aus: Böll wur­de von Léon Bloys kon­ser­va­tiv-mys­ti­schem Den­ken, das sich mit ei­ge­nen Er­fah­run­gen im Zwei­ten Welt­krieg ver­band, er­heb­lich beeinflusst:
“Sei­ne Kri­tik an der ka­tho­li­schen Amts­kir­che we­gen ih­rer Nähe zu den Rei­chen und der ´in­hu­ma­nen El­len­bo­gen­men­ta­li­tät der Wohl­stands-Ka­tho­li­ken´ hat Böll spä­ter in sei­nem Werk wei­ter­ge­schrie­ben, in der di­rekt in­spi­rier­ten und manch­mal wört­li­chen Nach­fol­ge Bloys – die­ser Ein­fluss fin­det sich von den frü­hen Nach­kriegs­tex­ten über den Ro­man An­sich­ten ei­nes Clowns von 1963 bis zu den letz­ten Ro­ma­nen ‘Für­sorg­li­che Be­la­ge­rung’ von 1979 und ‘Frau­en vor Fluss­land­schaf­ten’  von 1985.”
Von Bloy über­nom­men sind auch zen­tra­le Mo­ti­ve und The­men wie Ar­mut, Lie­be, Re­li­gi­on und das Ver­hält­nis zur mo­der­nen, ka­pi­ta­lis­tisch be­stimm­ten Zeit.

Suche nach der Hauptidentität als Schriftsteller

Im zwei­ten Ka­pi­tel sucht Lin­der nach Bölls Haupt­iden­ti­tät als Schrift­stel­ler. Er spürt sie vor al­lem in der eig­nen Fa­mi­lie, in den Trüm­mern und im Staub des Jah­res 1945 auf. Sie er­laub­ten es Böll, Ge­richts­tag über Ver­ur­sa­cher die­ser Trüm­mer­land­schaft, gros­ses Ka­pi­tal, Mi­li­tär, kon­ser­va­ti­ve Po­li­ti­ker und au­to­kra­ti­sche Kir­che, zu hal­ten “und dem Ver­lauf der po­li­ti­schen Ge­schich­te Wi­der­stand” ent­ge­gen­zu­set­zen, “in­dem er sein Le­ben und das sei­ner Fa­mi­lie und ih­rer Pri­vat­my­tho­lo­gien erzählt…”
Nach Wie­der­auf­bau, po­li­ti­scher, so­zia­ler und wirt­schaft­li­chen Re­stau­ra­ti­on und der an­geb­lich vor al­lem kon­sum­ge­präg­ten ´ni­vel­lier­ten Mit­tel­stands­ge­sell­schaft´ (Hel­mut Schelsky) des ´rhei­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus´ (Jür­gen Be­cker) der al­ten Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ver­flüch­tig­te sich frei­lich der An­kla­ge­ge­gen­stand zu­neh­mend. Das Su­jet von Bölls Li­te­ra­tur und das klein­bür­ger­lich, hei­mat­li­che, von Kind­heits­mus­tern ge­präg­te Le­bens­ide­al il­lu­sio­nier­te sich. Die Er­kennt­nis der Ver­geb­lich­keit des Tuns führ­te auch Böll in zu­neh­men­de De­pres­si­on, för­der­te sei­ne Hin­wen­dung zu kirch­li­cher Mys­tik und liess ihn Trost in de­ren Sa­kra­men­ten suchen.

Der politische Schriftsteller

Der politische Literat mit Willy Brandt (1974)
Der po­li­ti­sche Li­te­rat mit Wil­ly Brandt (1974)

Das drit­te Ka­pi­tel kreist um die Be­deu­tung Bölls als “po­li­ti­scher Schrift­stel­ler” und um des­sen po­li­ti­sches En­ga­ge­ment. Böll war auch als um in­ter­es­sens­be­zo­gen-prak­ti­sche “Ei­nig­keit der Ein­zel­gän­ger” (Die­ter Latt­mann) be­müh­ter Au­tor kein ex­po­nier­ter po­li­tisch-rea­lis­ti­scher Schrift­stel­ler, ver­stand viel­mehr sein “Schrei­ben als Ver­tei­di­gung und Kon­ser­vie­rung von Kind­heit und der Stun­de der Ein­fach­heit.” Bölls Art des Schrei­bens rieb sich je­doch an der (bun­des-) deut­schen ge­sell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit und wirk­te da­durch eben­so po­li­tisch wie sei­ne mo­ra­li­schen, im hu­ma­nen Chris­ten­tum ver­an­ker­ten For­de­run­gen (in) sei­ner po­li­ti­schen Pu­bli­zis­tik ag­gres­siv erschienen.

Der Schriftsteller als moralische Instanz: Manuskript-Auszug der
Der Schrift­stel­ler als mo­ra­li­sche In­stanz: Ma­nu­skript-Aus­zug der “Ver­lo­re­nen Ehre der Ka­tha­ri­na Blum”

Lin­der führt sei­ne as­so­zia­ti­ven Ge­dan­ken­gän­ge so breit wie mög­lich aus. Er stützt sich auf lan­ge Zi­ta­te aus Bölls Brie­fen und Ar­ti­keln, Aus­füh­run­gen von Theo­re­ti­kern und Kri­ti­kern so­wie ei­tel-ge­fäl­li­gen Böl­lein­schät­zun­gen durch Leu­te, mit de­nen Böll zeit­wei­lig zu tun hat­te, etwa dem Müns­ter­eif­ler Deutsch­leh­rer und Au­tor Heinz Küp­per, oder dem Bio­gra­fen Lin­der selbst. Den Text über­frach­ten zu vie­le Wie­der­ho­lun­gen und zu un­kri­ti­sche Ein­schät­zun­gen; dies be­son­ders am Schluss, wenn sich Lin­der als Böll­spu­ren­su­cher an Zeit­zeu­gen der ver­fem­ten Ju­den von Dro­ve (Kreuzau) heranmacht.

Grundsatzthemen der Nachkriegszeit aufgegriffen

Im Ge­gen­satz zu Lin­der kann ich nicht er­ken­nen, dass Bölls Werk fremd da­her­kommt, son­dern sehe eher, dass Böll als Schrift­stel­ler “Grund­satz­the­men der Nach­kriegs­zeit” (um eine Bio­gra­fen­for­mel zu zi­tie­ren) auf­ge­grif­fen und ge­stal­tet hat. Die­se Grund­satz­the­men wir­ken auch heu­te his­to­risch nach und sind teil­wei­se so ak­tu­ell wie etwa (nun frei­lich ganz­deut­sche) Kriegs­be­tei­li­gung, Fi­nanz- und Wirt­schafts­kri­se, Arm-Reich-Ge­gen­satz, amts­kirch­li­che und re­li­giö­se Ge­gen­auf­klä­rung un­ter­schied­li­cher Schat­tie­run­gen, po­li­ti­sche Kor­rup­ti­on und mo­ra­li­sche Kor­rum­pie­rung. In­so­fern könn­te es dem nun er­wei­ter­ten So­zi­al­ge­bil­de Deutsch­land gut an­ste­hen, ge­gen die Zeit und ih­ren Geist schrei­ben­de Au­toren wie Hein­rich Böll – auch als ´mo­ra­li­sche´ In­stanz – zu haben.
Die­se Böll-Bio­gra­phie ist grot­ten­schlecht ge­schrie­ben. Sie ist kaum les­bar. Sie muss auch nicht ge­le­sen werden. ♦

Chris­ti­an Lin­der: Das Schwir­ren des her­an­flie­gen­den Pfeils, Hein­rich Böll – Eine Bio­gra­phie, Matthes&Seitz Ver­lag, 616 Sei­ten, ISBN 978-3-88221-656-1


Wilma Ruth AlbrechtWil­ma Ruth Albrecht

Geb. 1947 in Ludwigshafen/D, Pro­mo­ti­on in So­zi­al­wis­sen­schaf­ten, seit 1972 be­ruf­lich als Wis­sen­schaft­le­rin, Stadt- & Re­gio­nal­pla­ne­rin und Leh­re­rin tä­tig, 1989-1999 eh­ren­amt­li­che Stadt­ver­ord­ne­te so­wie Frak­ti­ons- und Aus­schuss­vor­sit­zen­de im Rat der Stadt Bad Müns­ter­ei­fel, zahl­rei­che fach­wis­sen­schaft­li­che, es­say­is­ti­sche und po­li­ti­sche Pu­bli­ka­tio­nen und On­line-Bei­trä­ge, lebt in Bad Münstereifel/D

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin auch über Ralph Lud­wig: Jo­hann Pe­ter He­bel (Bio­gra­phie)

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