Peter Ahrendt: Zum 10. Todesjahr von Grete Weil

Ich bin eine schlechte Hasserin”

Über die jüdische Schriftstellerin Grete Weil

von Peter Ahrendt

Je wei­ter Ausch­witz ent­fernt ist, desto näher kommt es, die Jahre dazwi­schen sind weg­ge­wischt. Ausch­witz ist Rea­li­tät, alles andere Traum. Nicht Maut­hau­sen, wo Waiki ermor­det wurde und ich mit ihm. Das Ent­set­zen hat sich vom eige­nen Schick­sal ver­la­gert auf das der vie­len. Ausch­witz ist Chif­fre, kein Ort auf der Landkarte.
Meine Ner­ven reagie­ren auf jede Gewalt, Men­schen, ihre Mör­der, eine sadis­ti­sche Meute beam­te­ter, uni­for­mier­ter Pei­ni­ger. Eltern, die ihre Kin­der quä­len, Ehe­leute, die sich lang­sam erwür­gen, Gemet­zel mit Bajo­net­ten, Peit­schen, Elek­tro­den, Wör­tern, in Fol­ter­kam­mern und guten Stu­ben. Es ver­folgt mich.”

Es verfolgt mich”

Grete Weil (1906-1999)
Grete Weil (1906-1999)

So steht es in einem Buch, das ich vor eini­gen Jah­ren, und mit dring­li­cher Lese­emp­feh­lung, geschenkt bekam: in Grete Weils Roman “Gene­ra­tio­nen”.1
Die­ses Buch beein­druckte und bewegte mich der­art, dass ich dar­auf­hin alle wei­te­ren Bücher der Weil las und begann, mich mit Leben und Werk der Autorin zu beschäf­ti­gen, einer Autorin, die nur ein Lebens­thema hat: Die Juden­ver­fol­gung (ihr eige­nes Schick­sal), den Faschis­mus und die Nicht­auf­ar­bei­tung der Ver­gan­gen­heit durch die Deut­schen. Ein Thema, das sie immer erneut gestal­tete, in ein­fa­cher, kla­rer, oft stak­ka­to­haf­ter Spra­che, unbe­schö­nigt, aber nicht unschön.

Glückliche Kindheit: verwöhnt und verhätschelt

Grete Weil wurde 1906 in Rot­tach-Egern am Tegern­see als Mar­ga­rete Eli­sa­beth Dispe­ker gebo­ren, Toch­ter einer gross­bür­ger­li­chen jüdi­schen Fami­lie, und ver­lebte nach ihren eige­nen Wor­ten eine unend­lich glück­li­che Kind­heit, ver­wöhnt und ver­hät­schelt. Sie stu­dierte Ger­ma­nis­tik in Ber­lin, Mün­chen und Frankfurt/M, begann zu schrei­ben, denn Schrift­stel­le­rin zu wer­den war ihr eigent­li­ches Lebens­ziel schon früh, und hei­ra­tete 1932 den Dra­ma­tur­gen der Münch­ner Kam­mer­spiele Edgar Weil, dem sie 1936 nach Hol­land ins Exil folgte.
Dort arbei­tete sie zunächst als Por­trait-Pho­to­gra­phin. Als die Nie­der­lande kapi­tu­lier­ten (1940), ver­such­ten sie und ihr Mann nach Eng­land zu flie­hen, aber der Ver­such miss­lang. 1941 wurde Edgar Weil auf der Strasse ver­haf­tet und im KZ Maut­hau­sen ermor­det. Grete Weil mel­dete sich zur Arbeit beim jüdi­schen Rat in der “Schouw­burg” in Ams­ter­dam, dem Sam­mel­la­ger für die zur Depor­ta­tion bestimm­ten Juden, als Selbst­ret­tung und um nach Kräf­ten die Depor­ta­tio­nen zu behin­dern und zu ver­zö­gern. Im Herbst 1943 tauchte sie jedoch bei Freun­den unter und überlebte.

Aussöhnung ohne Vergessen

Nach­dem die Deut­schen den Juden 1941 die Staats­bür­ger­schaft aberkannt hat­ten, war auch Grete Weil staa­ten­los gewor­den, und da die Alli­ier­ten nach dem Krieg keine Staa­ten­lo­sen nach Deutsch­land lies­sen, ging sie 1947 heim­lich über die grüne Grenze in die Hei­mat zurück, in das trotz allem geliebte Land. Immer hatte sie sich als Deut­sche gefühlt, denn ihre Spra­che und ihre Kul­tur waren deutsch. Sie söhnte sich aus mit die­sem Land und die­sem Volk, aber ohne zu ver­ges­sen oder zu ver­drän­gen. Ihr Schick­sal, das Schick­sal ihrer Lei­dens­ge­nos­sen blieb ihr gegen­wär­tig und wurde das Thema ihrer nun im fort­ge­schrit­te­nen Alter wie­der auf­ge­nom­me­nen lite­ra­ri­schen Pro­duk­tion: “Zwölf Jahre nicht geschrie­ben, in der Zeit, die ent­schei­det, in der man die bes­ten Ein­fälle hat und die meiste Kraft. Nach dem Krieg schreibe ich ein paar Bücher. Sie han­deln von Krieg und Depor­ta­tion. Ich kann von nichts ande­rem erzäh­len. Der Angel­punkt mei­nes  Lebens.”2

Ans Ende der Welt

Ans Ende der Welt”3 hiess ihr ers­tes Buch, das 1949 in Ber­lin erschien. Diese Erzäh­lung ist eine Dar­stel­lung ihrer Erfah­run­gen in der Schouw­burg. Hier sind hun­derte von Men­schen jeden Alters zusam­men­ge­pfercht in Erwar­tung ihres Schick­sals, so auch ein Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor mit Frau und Toch­ter, einer der nur sehr lang­sam begreift, dass den Nazis seine soziale Stel­lung, seine Ver­dienste nichts bedeu­ten, dass auch er nur eine Num­mer in den Lis­ten ist, einer von vie­len, die ster­ben müs­sen. Beklem­mend ist diese Schil­de­rung der Atmo­sphäre von Angst, Ver­zweif­lung, Hoff­nung auch, an die sich die Ver­lo­re­nen klam­mern, und anrüh­rend die Begeg­nung der Toch­ter Anna­beth mit dem Jun­gen Ben und ihre erste scheue Liebe im Ange­sicht des nahen Todes.
Die­ses Buch wurde zwar von einem Albert Ehren­stein als “knap­pes Meis­ter­werk” bezeich­net, “eine ein­fa­che, herz­er­grei­fende Geschichte von Liebe und Tod, die viele ken­nen sol­len, ken­nen müs­sen …”4, aber ein Erfolg war es nicht, kaum jemand wollte nach dem Krieg etwas wis­sen von die­sen Din­gen, man war beschäf­tigt damit Neues auf­zu­bauen und das Alte zu verdrängen.

Nachdenken über die deutsche Schande

Weil-Libretto zu Henz-Oper-Boulevarde Solitude
Weil-Libretto zu Henz-Oper: “Bou­le­varde Soli­tude” (Auf­nahme von 1953)

Aber die Weil schrieb wei­ter. Nach­dem sie ihren Jugend­freund, den Opern­re­gis­seur Wal­ter Jockisch wie­der­ge­fun­den hatte, (den sie 1960 hei­ra­tete), ent­stand zunächst, zusam­men mit ihm, das Libretto zu Hans Wer­ner Hen­zes Oper “Bou­le­vard Soli­tude”, die 1952 in Han­no­ver urauf­ge­führt wurde, sowie der Text zu Fort­ners Pan­to­mime “Die Witwe von Ephe­sus” (Urauf­füh­rung in Ber­lin 1952). Sie über­setzte Bücher aus dem Eng­li­schen (Dur­rell, Aiken, Buchanan, Haw­kes) und Hol­län­di­schen (J. Brou­wers), tex­tete Kurz­filme, besprach Bücher im Funk, und bevor ihr nächs­tes Buch erschien, ver­ging Zeit. Aber sie hatte sich kei­nes­wegs abge­fun­den mit der prak­ti­zier­ten “Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung” der Deut­schen. Sie bestand wei­ter dar­auf, über die deut­sche Schande nach­zu­den­ken, zu reden, zu schreiben.

Schonungslose Offenheit

Und sie tat es mit scho­nungs­lo­ser Offen­heit in dem 1963 erschie­nen Roman “Tram­halte Beet­ho­ven­straat”5, in dem sie aber­mals ihre Hol­land-Erleb­nisse zu ver­ar­bei­ten sucht. Indem sie hier einen jun­gen deut­schen Jour­na­lis­ten zum Prot­ago­nis­ten macht, der 1942 als Bericht­erstat­ter in Ams­ter­dam Zeuge der Juden­de­por­ta­tio­nen wurde, bemüht sie sich um etwas objek­ti­vie­rende Distanz.
Aber auch er will nach dem Krieg nicht ver­ges­sen, sich nicht arran­gie­ren, son­dern ver­sucht auf einer Reise in die Ver­gan­gen­heit mit sich und sei­nen Erin­ne­run­gen ins Reine zu kom­men. Ein auf­wüh­len­des Buch, das ergreift und angreift, keine gemüt­li­che Lek­türe, “in einer Prosa von gros­ser Schlicht­heit und Wärme, Direkt­heit und Kraft, wie man sie sel­ten fin­det”,6 wie Mar­tin Gre­gor-Del­lin schrieb.

Ein Ghetto des Nichtwissenwollens

1968: “Happy, sagte der Onkel”7 – drei Impres­sio­nen aus Ame­rika, auch dort wie­der das stän­dige Thema. Die Titel­er­zäh­lung schil­dert einen Besuch bei Ver­wand­ten, die der Ver­nich­tung im Drit­ten Reich ent­ron­nen, die Ver­gan­gen­heit völ­lig ver­drängt haben und als 150prozentige Ame­ri­ka­ner jede Erin­ne­rung daran weit von sich wei­sen. Sie haben sich rüh­rend in ein Ghetto aus Nicht­wis­sen­wol­len, Nicht­an­rüh­ren zurück­ge­zo­gen, eine Hal­tung, die Grete Weil bit­te­rem Spott anheim­gibt. In der zwei­ten Skizze (“Glo­ria Hal­le­luja”) besucht sie Har­lem, ein Ghetto von heute, in dem sie mit Hass und Ableh­nung kon­fron­tiert wird. Es gibt keine Soli­da­ri­tät der Unter­drück­ten und Ver­folg­ten, wenn sie ver­schie­de­ner Haut­farbe sind. Schliess­lich eine Tou­ris­ten­reise nach Mexiko, ins azte­ki­sche Chi­chen-Itza, auch das eine Schä­del­stätte, für die Weil eine Par­al­lele zu Ausch­witz, und dort begeg­net sie einem SS-Scher­gen wie­der (oder glaubt ihm zu begeg­nen), der jetzt als Frem­den­füh­rer tätig ist. Anlass zu einer Selbst­be­fra­gung, einem noch­ma­li­gen Durch­le­ben der schlim­men Ver­gan­gen­heit (“B sagen”). Spä­ter notiert sie: “Ich ver­stehe jeden, habe eine Geschichte geschrie­ben, in der ich mich mit einem SS-Mann iden­ti­fi­ziere, wir haben beide über­lebt, sind beide schul­dig”8.

Schuld des Überlebens

Schuld des Überlebens:
Schuld des Über­le­bens: “Spät­fol­gen” (Grete Weil)

In ihrem letz­ten Buch, mit dem bezeich­nen­den Titel “Spät­fol­gen” setzt sie sich in klei­nen Erzäh­lun­gen noch­mals mit dem Wei­ter­wir­ken des Ent­setz­li­chen und mit der Scham des Über­le­ben­den aus­ein­an­der. Da ist jenes jüdi­sche Mäd­chen, das dem Nazi-Mor­den ent­kommt, auf einer Reise durch das heu­tige Deutsch­land einen Auto­un­fall erlei­det und stirbt, weil sie sich von kei­nem deut­schen Arzt anfas­sen las­sen kann (“Don’t touch me”). Oder jener Mann, der nach Ita­lien zurück­kehrt, an die Orte eins­ti­gen Glücks mit der in Sobi­bor ver­gas­ten Bella und sich dort erschiesst, weil er sich als Über­le­ben­der schul­dig fühlt. (“Das Schönste der Welt”). Der Band ent­hält auch eine Neu­fas­sung von “Happy, sagte der Onkel” (“Das Haus in der Wüste”), die im wesent­li­chen eine Straf­fung dar­stellt, eine stren­gere, knap­pere Form; diese Bear­bei­tung zeigt, dass Grete Weil auch gerade an die­ser Geschichte über Ver­drän­gung und Arran­gie­rung viel gele­gen war.
1970 starb auch Wal­ter Jockisch, und Grete Weil, jetzt 64 Jahre alt, allein, nicht mehr gesund, noch heim­ge­sucht von den Gespens­tern der Ver­gan­gen­heit, schrieb jenen Roman, der 1980 ihren künst­le­ri­schen Durch­brach brachte: “Meine Schwes­ter Antigone”.

Gegenwart gewordene Vergangenheit

In Auf­zeich­nun­gen einer alten Frau, die minu­ziös ihren Tages­ab­lauf notiert, ihr Leben allein, ihr Lei­den an der Ein­sam­keit, die sie doch auch braucht, ihr Lei­den am Alter, das sie doch mit ver­bis­se­nem Stolz trägt, und ihr Rin­gen mit dem unfer­ti­gen und nie voll­ende­ten Antigone-Stoff.
Die sopho­klei­sche Hel­din, die sie beschäf­tigt und ver­folgt, sieht sie als Eben­bild, aber auch als Gegen­part, des­sen Hand­lun­gen sie in unzäh­li­gen Gedan­ken­spie­len ana­ly­siert und inter­pre­tiert, immer in Bezug auf sich selbst. Anti­gone aber auch als rebel­li­sche Ver­kör­pe­rung einer Jugend, “die uns nicht die kleinste Aus­flucht erlaubt, diese Welt noch in Ord­nung zu fin­den”9, einer Jugend, für die die Autorin Ver­ständ­nis und Zunei­gung empfindet.
Immer wie­der sind da auch die Erin­ne­run­gen an ihre toten Ehe­män­ner, auch an ihren ver­schwun­de­nen Hund, den ein­zi­gen ver­blie­be­nen Gefähr­ten, vor allem aber an die furcht­bare Ver­gan­gen­heit, die Ver­fol­gung, die Zeit im jüdi­schen Rat in Ams­ter­dam, die unver­mit­telt in die Gegen­warts­schil­de­run­gen ein­ge­fügt und damit selbst zur stän­di­gen Gegen­wart wer­den. Noch nie wur­den zudem die Pro­bleme des Alterns, die Ein­sam­keit wie der Kampf um eine wür­di­ges sinn­vol­les Dasein so ein­dring­lich beschworen.

Verschachtelte Zeitebenen

“Auf­lö­sung” des pol­ni­schen Ghet­tos Pio­tr­kow (Petrikau): “Die Bes­tie Mensch”

Am Ende wer­den die Zeit­ebe­nen immer stär­ker ver­schach­telt, durch­drin­gen sich Erin­ne­run­gen der Autorin, die Iden­ti­fi­zie­rung mit Anti­gone, die Gegen­wart, die Kind­heit, die hypo­the­ti­schen Erleb­nisse so stark, dass sie fast untrenn­bar wer­den. Letzt­lich wird die Erzäh­le­rin nicht damit fer­tig, dass sie hin­ge­nom­men hat, nicht wie Anti­gone auf­ge­stan­den ist und um den Preis des Unter­gangs ein Zei­chen der Revolte gege­ben hat.
Ein­ge­fügt in die­ses Buch ist ein furcht­ba­res Doku­ment: 20 Sei­ten eines Augen­zeu­gen­be­richts über die “Auf­lö­sung” des Juden-Ghet­tos Petrikau (Pio­tr­kow) 1943, den Fried­rich Hell­mund geschrie­ben hatte, ein let­ti­scher Autor, 1945 in Polen ver­misst. Hier wird nüch­tern-sach­lich, aber mit bru­ta­ler Deut­lich­keit vor­ge­führt, was sich hin­ter so leicht zu hand­ha­ben­den Voka­len wie “Ghetto-Auf­lö­sung” und “End­lö­sung” ver­birgt: die Bes­tie Mensch in gera­dezu unvor­stell­ba­rer Form. Die­ses Doku­ment macht mit einem Schlag auch dem letz­ten Zweif­ler klar, warum die Weil nicht ver­ges­sen kann, nicht ver­ges­sen will, und warum sie das Erschies­sungs­kom­mando hin­ter sich spürt, wenn sie Erde im Gar­ten aus­hebt, um Blu­men zu pflan­zen, warum sie Sym­pa­thie hat mit der ver­folg­ten “Sym­pa­thi­san­tin”.

Der Erfolg tut weh, der Preis war zu hoch”

Das Buch war, wie gesagt, ein Erfolg. “Der späte Erfolg tut gut. Der späte Erfolg tut weh”, schrieb sie, “der Preis war zu hoch. Ich bin Zeuge, und als Zeuge muss ich aus­sa­gen. Und die­ser Zwang hat mir Kraft gege­ben durch­zu­hal­ten. Viele Jahre wollte es nie­mand hören, aber das ist anders gewor­den.”10
Die Offen­heit einer nach­ge­wach­se­nen Gene­ra­tion für die längst über­fäl­lige Beschäf­ti­gung mit der jün­ge­ren deut­schen Geschichte trug sicher zum Erfolg auch des nächs­ten Buches bei, jene “Gene­ra­tio­nen” von 1983. Hier wird der Ver­such einer Wohn­ge­mein­schaft dreier unter­schied­li­cher Frauen geschil­dert: Einer älte­ren, die Autorin mit der schwe­ren Hypo­thek der Ver­folg­ten und Gede­mü­tig­ten, einer Jun­gen und einer Frau mitt­le­ren Alters, beide ohne diese Erfahrungen,aber mit eige­nen Pro­ble­men und auch mit einem gewis­sen rück­sichts­lo­sen Ego­is­mus. Der Ver­such die­ses Zusam­men­le­bens ver­schie­de­ner Gene­ra­tio­nen schei­tert, an Miss­ver­ständ­nis­sen, Emp­find­sam­kei­ten, Riva­li­tä­ten. Die Junge sucht ihren eige­nen Weg, eine Arbeit, in der sie sich ver­wirk­li­chen kann, die mitt­lere ist eine ein­zel­gän­ge­ri­sche Künst­le­rin, und alle füh­ren in wech­seln­den Kon­stel­la­tio­nen einen Kampf um Wärme, Ver­ste­hen, Freund­schaft, wozu letzt­lich kei­ner fähig ist, weil jeder mit sei­nem Geschick auf einer Insel lebt.
Auch dies wie­der ein Tage­buch (in dem übri­gens die Ent­ste­hung der “Anti­gone” ver­folgt wer­den kann), und eigent­lich ein sehr ähn­li­ches Buch, doch neu auf­ge­rollt, neu gespie­gelt, der Ein­sam­keit dort ein Ver­such von Gemein­schaft hier gegen­über­ge­stellt, stets im Schat­ten der Vergangenheit.

Keine Wehleidigkeit

Grete Weil - Glarean Magazin
Grete Weil in einem Inter­view vor eini­gen Jahren

Aber hier, wie immer bei der Weil, fehlt jede Weh­lei­dig­keit, jede Lar­moy­anz, immer bleibt sie nüch­tern, von gros­ser, har­ter Auf­rich­tig­keit, scho­nungs­los auch sich selbst gegen­über. Und noch­mals, nach einem Herz­in­farkt und einem schwe­ren Schlag­an­fall schafft sie es, einen Roman, den “Braut­preis” zu schrei­ben. Hierin liest man: “Herr­lich, dass du wenigs­tens schrei­ben kannst. Nein, es ist nicht herr­lich, kein biss­chen. Es ist eine gewal­tige Anstren­gung. Die dau­ernde Furcht, es nicht mehr zu kön­nen. “11
In die­sem Buch ent­deckt die Weil ein neues Thema für sich, steigt sie tief hinab in die jüdi­sche Geschichte; sie, die nie­mals eine jüdi­sche, nur eine deut­sche Iden­ti­tät in sich ent­de­cken konnte, wird hier zu Michal, Toch­ter des Königs Saul und erste Frau König Davids, auch sie nun eine alte Frau, die ihr lan­ges kum­mer­vol­les Leben berich­tet. Dann aber spricht auch wie­der die Autorin selbst: Ein Dia­log über die Zei­ten hin­weg, zwi­schen einer Jüdin am Anfang und einer am Ende der Geschichte. “3000 Jahre lie­gen dazwi­schen. Eine lange Zeit zur Ein­sicht, doch geän­dert hat sich nicht viel.”12

Zum ersten Mal in Israel

Um ihr Buch schrei­ben zu kön­nen, ist sie, die immer gern und viel reiste (bis nach Lad­akh und Nepal!), end­lich auch nach Israel gefah­ren, zum ers­ten Mal in ihrem Leben, denn sie hatte bis­lang wohl immer Angst vor ihren Emo­tio­nen, eine Angst, die sich dann als unbe­grün­det erwies. Das Land erschien ihr fremd, ver­mit­telte ihr nicht das Gefühl nach Hause zu kom­men; wohl aber emp­fand sie eine Zärt­lich­keit für Land und Bewoh­ner und hoffte, wenn auch zwei­felnd, dass es gut gehen möge mit ihnen.
Eine Skep­sis, gebo­ren aus leid­vol­ler Erfah­rung und aus einer leid­vol­len Geschichte voll Blut und Gewalt, wie sie auch in die­ser Erzäh­lung berich­tet wird. Aber Michal, diese Stimme aus fer­ner Ver­gan­gen­heit setzte die Hoff­nung auf eine künf­tig bes­sere, mensch­li­chere Welt und ahnte doch nicht, wel­ches Schick­sal ihrem Volk noch bevor­stand. Grete, die andere Stimme, hat die­ses Schick­sal durch­lebt und über­lebt und muss mit die­ser Wunde leben; den­noch ist sie bereit zu ver­ge­ben. Ein Buch von gros­ser Trauer und gros­ser Menschlichkeit.

Das Schuldgefühl der Davongekommenen

In den “Spät­fol­gen” wird dann ein resi­gnier­ter Ton hör­bar: “Über vier­zig Jahre lang habe ich mir ein­ge­bil­det ein Zeuge zu sein, und das hat mich befä­higt so zu leben wie ich es getan habe. Ich bin kein Zeuge mehr. Ich habe nichts gewusst. Wenn ich Primo Levi lese, weiss ich, dass ich mir ein KZ nicht wirk­lich vor­stel­len konnte. Meine Phan­ta­sie war nicht krank genug.”13
Primo Levi hat sich wie andere, die das KZ über­leb­ten: Jean Améry, Bruno Bet­tel­heim, Paul Celan spä­ter das Leben genom­men, und was schon zuvor gele­gent­lich bei Grete Weil anklang, wird hier noch­mals sehr deut­lich: das Schuld­ge­fühl der Davon­ge­kom­me­nen gegen­über den Opfern des Nazi-Terrors.
Für den “Braut­preis” und für ihr Lebens­werk erhielt Grete Weil 1988 den mit 20’000 DM dotier­ten Geschwis­ter-Scholl-Preis. In ihrer Dank­rede erklärte sie, die­ser Preis sei der ein­zige, den sie sich immer gewünscht habe, denn er gelte nicht nur der Lite­ra­tur, son­dern auch der Gesin­nung, und da glaube sie ihn im Sinne von Hans und Sophie Scholl mit Recht anneh­men zu dürfen.
“Ich, die Spät­ge­bo­rene”, schreibt sie in dem Roman, “muss mit dem Wis­sen um Ausch­witz mein Leben zu Ende brin­gen, es wird mich quä­len bis zum letz­ten Atem­zug.”14
Aber, auch das sagte sie ein­mal in einem Inter­view, has­sen könne sie nicht: “Ich bin wohl eine schlechte Hasserin.” ♦

1 Grete Weil, Gene­ra­tio­nen, Roman, Ber­lin: Volk und Welt, 1985
Grete Weil, Meine Schwes­ter Anti­gone, Roman, Zürich/Köln: Ben­zi­ger, 1980
3 Grete Weil, Ans Ende der Welt, Erzäh­lung, Ber­lin: Volk und Welt, 1949
4 zitiert nach G. Weil, Ans Ende der Welt
Grete Weil, Tram­halte Beet­ho­ven­straat, Roman, Wies­ba­den: Limes, 1963
6 zitiert nach G. Weil, Tram­halte Beethovenstraat
7 Grete Weil, Happy sagte der Onkel, Wies­ba­den: Limes, 1968
8 G. Weil, Antigone
9 G. Weil, Antigone
10 G. Weil, Generationen
11 Grete Weil, Der Braut­preis, Roman, Zürich/Frauenfeld: Nagel&Kimche, 1988
12 G. Weil, Der Brautpreis
13 Grete Weil, Spät­fol­gen, Erzäh­lun­gen, Zürich/Frauenfeld: Nagel&Kimche, 1992
14 G. Weil, Der Brautpreis

(Die­ser Bei­trag von Peter Ahrendt stammt aus dem Jahre 1994)


Peter AhrendtPeter Ahrendt

Geb 1940 in Penzlin/D, bis 2005 Kon­zern-Betriebs­prü­fer, Prosa-, Lyrik- und essay­is­ti­sche Publi­ka­tio­nen in Büchern und Zeit­schrif­ten, Mit­glied der Gesell­schaft der Arno-Schmidt-Leser GASL und der Fritz-Reu­ter-Gesell­schaft, lebt in Norderstedt/D

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema “Kriegs­li­te­ra­tur” auch über die Erzäh­lung von Michel Berg­mann: Alles was war

… sowie zum Thema Nach­kriegs­zeit über den Roman von Vol­ker Kut­scher: Olympia

Ein Kommentar

  1. Vie­len Dank für den Link auf meine Buch­be­sprech­hung von Sima Vais­mans erschüt­tern­den Bericht über Auschwitz.
    Lei­der hat sich durch ein ver­se­hent­li­ches Löschen mei­nes Arti­kels die Inter­net­adresse geändert.
    Zu fin­den ist der Arti­kel nun unter:

    Für eine Link-Ände­rung wäre ich dankbar.
    Herzlichst,
    Thors­ten Kneuer

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