Michel Bergmann: Alles was war (Erzählung)

Ins Leben.  Unbeschwert”

von Gün­ter Nawe

Je­des jü­di­sche Kind im Deutsch­land der Fünf­zi­ger Jah­re wächst am Ran­de ei­nes Mas­sen­grabs auf.” – Es lebt mit all den Op­fern von Ausch­witz, Maj­da­nek und den vie­len an­de­ren Ver­nich­tungs­la­gern der Na­zis: den nicht mehr exis­tie­ren­den Gross­el­tern, On­keln und Tan­ten. Es wächst auf mit den Trä­nen, die um die vie­len, vie­len Ver­wand­ten im­mer und im­mer wie­der ver­gos­sen werden.
Von ei­nem sol­chen Kind schreibt Mi­chel Berg­mann in sei­ner be­rüh­ren­den Er­zäh­lung “Al­les was war”. Es ist ein klei­nes gros­ses Buch des Er­in­nerns – vol­ler Trau­er und vol­ler Witz, me­lan­cho­lisch und hei­ter. Und er schreibt si­cher von ei­ge­nem Er­le­ben, denn die­ser Mi­chel Berg­mann wur­de 1945 als Kind jü­di­scher El­tern in ei­nem In­ter­nie­rungs­la­ger ge­bo­ren. Sei­ne Kind­heit ver­brach­te er in Pa­ris und Frankfurt/Main.  Es wa­ren sei­ne Jah­re als jü­di­sches Kind, als jü­di­scher Jun­ge, die er in den 50er Jah­ren im Nach­kriegs­deutsch­land ver­brach­te. In ei­nem Land, das ei­ner­seits vom schreck­li­chen Ge­sche­hen wäh­rend der Na­zi­herr­schaft und des Krie­ges trau­ma­ti­siert war; an­de­rer­seits aber auch noch längst nicht “ent­na­zi­fi­ziert” war.

Michel Bergmann - Alles was war - Erzählung - Arche VerlagBerg­mann ist be­reits durch drei wun­der­ba­re Bü­cher li­te­ra­risch auf­fäl­lig ge­wor­den.  Und das im bes­ten Sin­ne. Mit sei­nen Ro­ma­nen “Die Teil­a­cher”, “Mach­loi­kes” und “Herr Klee und Herr Feld” hat er von den  Er­leb­nis­sen der Ju­den er­zählt, die sich wie­der in Frank­furt nie­der­ge­las­sen habe. Sie alle tra­gen schwer an dem Schick­sal, das ih­nen die Ge­schich­te, das ih­nen die Deut­schen an­ge­tan haben.
Und nun also die Er­zäh­lung ei­nes al­ten Man­nes, der auf sei­ne Kind­heit zu­rück­blickt. Er er­in­nert sich an die Schul­zeit, dar­an, das er, den Ran­zen auf dem Rü­cken,  los­rennt: “Ins Le­ben. Un­be­schwert.  Es ist sein Tag!  Wie je­der Tag sein Tag ist!” Arzt soll er wer­den, stellt sich je­den­falls die Mut­ter vor, die müh­sam wie­der ein an­nä­hernd nor­ma­les Le­ben zu­rück­ge­fun­den hat als Geschäftsfrau.

Ein Kind stromert durch die Trümmergrundstücke…

Michel Bergmann auf der Leipziger Buchmesse 2013
Mi­chel Berg­mann auf der Leip­zi­ger Buch­mes­se 2013

Dass das nicht ein­fach wür­de – alle wuss­ten es, die den Weg des  Jun­gen be­glei­te­ten. Erst aber ein­mal wird “ge­lebt”. So stromert das Kind durch die Trüm­mer­grund­stü­cke. Er hat Freun­de und spä­ter Freun­din­nen. Oft al­ler­dings nur so­lan­ge, bis her­aus­kommt, dass er Jude ist. Freun­de und Freu­de hat er in und mit der Fa­mi­lie, der Misch­pacha, mit Freun­den, den Cha­ver­im. Er fei­ert un­ter et­was Weih­nuk­ka – eine Mi­schung aus Weih­nach­ten und Cha­nuk­ka. Er ge­rät in den ei­nen und an­de­ren Schla­mas­sel. Vol­ler Witz auch die Schil­de­rung der Bar Miz­wa, die der Jun­ge trotz ers­ter re­li­giö­ser Zwei­fel über sich er­ge­hen las­sen muss.

In drei­zehn wun­der­voll er­zähl­ten Ka­pi­teln, teil­wei­se im leicht jid­disch ein­ge­färb­ten Deutsch, schreibt der alte Mann, hin­ter dem wir ge­trost Berg­mann ver­mu­ten dür­fen, sein klei­ne, sei­ne ex­em­pla­ri­sche Ge­schich­te, die für den Le­ser auch eine Art Ge­schichts­un­ter­richt wird. Nicht drö­ge und kei­nes­falls be­leh­rend, aber ein­fühl­sam und bei al­ler Schwe­re leicht und mit Witz und ei­nem ge­hö­ri­gen Schuss Me­lan­cho­lie. Und im­mer ge­gen­wär­tig in die­sem jun­gen Le­ben sind die, die nicht mehr sind. Schliess­lich ist er “am Ran­de ei­nes Mas­sen­grabs” aufgewachsen.

Ankläger Fritz Bauer im Frankfurter Auschwitz-Prozess
An­klä­ger Fritz Bau­er im Frank­fur­ter Auschwitz-Prozess

Der Jun­ge wird äl­ter. Er ver­liebt sich, wird be­tro­gen, schafft ge­ra­de mal so das Ab­itur, ge­niesst sei­ne Frei­heit und ver­ach­tet al­les An­ge­passt­heit und – auch sie gibt es wie­der –  die sa­tu­rier­te Bür­ger­lich­keit. Was aber steht hin­ter all dem? Ka­sches, Fra­gen, wer­den ge­stellt – und blei­ben oft un­be­ant­wor­tet. Die jü­disch-deut­sche Pro­ble­ma­tik, die Ge­schich­te der Ju­den in Deutsch­land soll­te für den Ich-Er­zäh­ler spä­ter ein­mal von exis­ten­zi­el­ler Be­deu­tung werden.

Ein alter Mann erinnert sich

Erst ein­mal aber wird er Vo­lon­tär bei den “Frank­fur­ter Rund­schau”. Auch kein Traum­job, aber… Hier lernt er den Ge­ne­ral­staats­an­walt Fritz Bau­er ken­nen. Des­sen un­er­müd­li­ches En­ga­ge­ment um den und im Ausch­witz-Pro­zess ist bei­spiel­haft ge­we­sen. Mit gros­ser Lei­den­schaft und gros­ser An­teil­nah­me wird der jun­ge Journalist.
Ein al­ter Mann er­in­nert sich. Auch dar­an, dass im Lau­fe der Jah­re die Ver­bin­dung zur Mut­ter ab­ge­bro­chen ist. Er er­in­nert sich an die Men­schen, de­nen er in den Jah­ren sei­nes Le­bens be­geg­net ist. So trifft er bei der Be­er­di­gung der Mut­ter ei­nen al­ten Freund Ma­ri­an wie­der – und es war “wie am ers­ten Tag”. Ihm wird er die­ses klei­ne wun­der­vol­le Buch, die­se auf ih­rer Wei­se ein­zig­ar­ti­ge Bio­gra­phie widmen.

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Die Ge­schich­te ei­ner jü­di­schen Kind­heit im Deutsch­land der Nach­kriegs­zeit – Mi­chel Berg­mann hat sie auf­ge­schrie­ben. Auch sie ein Ka­pi­tel deut­scher Ge­schich­te – wun­der­bar er­zählt, hei­ter und wit­zig und vol­ler Me­lan­cho­lie und Nach­denk­lich­keit. Ein klei­nes gros­ses Buch, das trau­rig und zu­gleich glück­lich macht.

Im letz­te Ka­pi­tel, das be­zeich­nen­der­wei­se die Über­schrift “Cha­im – Le­ben” trägt, zi­tiert Mi­chel Berg­mann Sø­ren Kier­ke­gaard: “Das Le­ben kann nur nach rück­wärts schau­end ver­stan­den,  aber nur nach vor­wärts schau­end ge­lebt wer­den”. In die­sem Sin­ne hat Mi­chel Berg­mann die­ses Buch ge­schrie­ben – und uns, sei­ne Le­ser, auf wun­der­ba­re Wei­se beschenkt. ♦

Mi­chel Berg­mann: Al­les was war, Er­zäh­lung, Ar­che Ver­lag, ISBN 978-3-7160-2716-5

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma “Ausch­witz in der Li­te­ra­tur” auch über den
Mo­no­log von Jürg Amann: Der Kommandant

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