K. Müller & R. Knaak: 222 Eröffnungsfallen (Schach)

Von den Rein- und Ausfällen in der Schach-Eröffnung

von Wal­ter Eigenmann

Mo­no­gra­phien über Er­öff­nungs­fal­len ha­ben in der viel­hun­dert­jäh­ri­gen bzw. aber­tau­send­tei­li­gen Schach-Bi­blio­gra­phie eine ver­schwin­dend kur­ze Ah­nen-Rei­he: Ne­ben den bei­den (noch heu­te viel­zi­tier­ten) Klas­si­kern von Emil Ge­len­c­zei („200 Eröffnungsfallen“/1964 und „200 neue Eröffnungsfallen“/1973), Eu­gen Sno­sko-Bo­row­skys „Er­öff­nungs­fal­len am Schach­brett“ (1938), A. Ro­is­mans „400 Kurz­par­tien“ (1982) und ein paar ähn­li­chen „Shorties“-Anthologien so­wie ei­ni­gen spe­zi­fi­schen Test-Samm­lun­gen (z.B. G. Trepp­ners „Test­buch der Er­öff­nungs­fal­len“) wur­de das glei­cher­mas­sen lehr­rei­che wie amü­san­te Feld der „Ope­ning Traps“ er­staun­li­cher­wei­se in den letz­ten Jahr­zehn­ten von den Theo­re­ti­kern kaum beackert.

Karsten Müller Rainer Knaak 222 Eröffnungsfallen nach 1.d4 - Glarean MagazinUmso will­kom­me­ner und ver­dienst­vol­ler die In­itia­ti­ve der Edi­ti­on Olms, wel­che in ih­rer be­kann­ten, mitt­ler­wei­le über 80 Bü­cher um­fas­sen­den „Praxis-Schach“-Reihe nun den zwei­ten Band un­ter dem Ti­tel „222 Er­öff­nungs­fal­len“ her­aus­bringt – dies­mal (nach „1.e4“) ge­wid­met den Er­öff­nun­gen „nach 1.d4“ (in­klu­si­ve alle an­de­ren ge­schlos­se­nen Par­tie-An­fän­gen). Wie­der­um hat­te da­bei mit den zwei deut­schen Spit­zen­spie­lern Rai­ner Knaak und Kars­ten Mül­ler (Bild) ein be­kann­tes, be­reits mit dem ers­ten Band er­folg­rei­ches Gross­meis­ter-Duo die Au­toren­schaft inne.

Kaum einen Bereich nach 1. d4 ausgelassen

Die bei­den Fal­len-Ana­lys­ten ge­hen in ih­rer knapp 150-sei­ti­gen Ar­beit ei­nem brei­ten Spek­trum an Eröffnungs-„Rein- und -Aus­fäl­len“ nach: Vom Trom­pow­sky-An­griff über die ver­schie­de­nen Be­noni-Sys­te­me, Da­men-Gam­bit-Spie­le und Hol­län­disch-Va­ri­an­ten bis hin zu den zahl­rei­chen, weit­läu­fi­gen Da­men-, Nim­zo- und Königs-„Indern“ las­sen Knaak und Mül­ler kaum ei­nen 1.d4-Bereich aus. Für man­chen ein­ge­fleisch­ten An­hän­ger der „Of­fe­nen“ mag da­bei über­ra­schend sein, dass der dop­pel­schrit­tig an­zie­hen­de Da­men­bau­er nicht min­der für tak­ti­sche Blind­gän­ger bzw. Kon­ter an­fäl­lig ist.

Rainer Knaak und Karsten Müller - Schach-Grossmeister - Glarean Magazin
Er­folg­rei­ches deut­sches Au­toren-Duo: Rai­ner Knaak und Kars­ten Müller

Wie die Au­toren be­kun­den, sei als Haupt­quel­le der ent­spre­chen­den Par­tien-Re­cher­chen die ca. drei Mil­lio­nen Games zäh­len­de „Me­ga­ba­se 2005“ aus der Ham­bur­ger Schach-Soft­ware-Schmie­de „Ch­ess­ba­se“ her­an­ge­zo­gen wor­den. Die „sys­te­ma­ti­sche Su­che“ der Theo­re­ti­ker in die­ser ge­wal­ti­gen, non-stop ak­tua­li­sier­ten Re­fe­renz-Samm­lung führ­te denn auch wohl­tu­end dazu, dass nicht nur das „klas­si­sche“ Ma­te­ri­al der His­to­rie, son­dern auch ziem­lich breit das neu­es­te Par­tien-Gut des mo­der­nen in­ter­na­tio­na­len Tur­nier-Be­trie­bes be­rück­sich­tigt wer­den konn­te. Den meis­ten der 222 Par­tie-Un­ter­su­chun­gen wur­de da­bei ein tref­fen­des, den the­ma­ti­schen Kern der je­wei­li­gen Er­öff­nungs­fal­le als Auf­hän­ger um­reis­sen­des Eti­kett auf­ge­klebt: „Der Iso­la­ni ge­hört hin­ter Schloss und Rie­gel“, „Lö­cher in der Ro­cha­de­stel­lung“, „An­griff am Flügel/Gegenstoss im Zen­trum“, „Sprin­ger ohne Halt“, „Über­stürz­ter Vor­stoss“, „Weiss­fel­d­ri­ge Ka­ta­stro­phe“, „Töd­li­che Pas­si­vi­tät“, „Macht des Läu­fer­paa­res“, „Ro­cha­de ins De­sas­ter“, „Ein­schlag auf dem neur­al­gi­schen Punkt“ etc. nen­nen sich bei­spiels­wei­se die­se ver­ba­len Erinnerungsstützen.

Aspekte des Gambit-Spiels inklusive

Der Klassiker der "Eröffnungsfallen"-Forschung: 200 Eröffnungsfallen von Emil Gelenczei (Sportverlag Berlin)
Der Klas­si­ker der „Eröffnungsfallen“-Forschung: „200 Er­öff­nungs­fal­len“ von Emil Ge­len­c­zei (Sport­ver­lag Berlin)

Den Be­griff „Er­öff­nungs­fal­le“ neh­men Mül­ler und Knaak recht weit­ge­fasst, ja be­zie­hen gar Aspek­te des Gam­bit-Spiels mit ein. Und im Ge­gen­satz etwa zu Ge­len­c­zei („Eine Fal­le stellt man, wenn man es dem Geg­ner schein­bar er­mög­licht, Ma­te­ri­al­ge­winn oder sons­ti­gen Vor­teil zu er­zie­len, und ihn da­durch zu ei­nem fal­schen Zug ver­lei­tet“ / aus dem Vor­wort zu „200 Er­öff­nungs­fal­len“) de­fi­nie­ren Mül­ler und Knaak: „Je­mand macht ei­nen ’nor­mal‘ aus­se­hen­den Zug, der durch eine un­ge­wöhn­li­che Va­ri­an­te (Zug) wi­der­legt wird.“ Die­ser klei­ne, aber fei­ne Un­ter­schied der Be­griffs­be­stim­mung führt dann die zwei Au­toren durch­aus auch mal zu ei­ner theo­re­tisch-ob­jek­tiv nicht ab­schlies­send be­ur­teil­ten, aber sta­tis­tisch (ge­mäss „Me­ga­ba­se“) sehr „hoff­nungs­vol­len“ Va­ri­an­te. Poin­tiert ge­sagt: Es geht in die­sem Buch um die Fal­len, nicht um die Stel­ler. Wo­mit der Band nicht nur zur ver­gnüg­li­chen, wo­mög­lich gar scha­den­freu­di­gen Lek­tü­re, son­dern gleich­zei­tig zum Lehr­buch wird, wel­ches des ge­le­gent­li­chen Ver­eins- eben­so wie des re­gel­mäs­si­gen Tur­nier-Spie­lers theo­re­ti­sche Vor­be­rei­tung un­ter­stützt bzw. das ei­ge­ne Er­öff­nungs-Re­per­toire in­for­ma­tiv ver­süsst (oder auch versalzt…).
Wie die­ser An­satz der bei­den Gross­meis­ter in de­ren Buch-Pra­xis aus­sieht, lässt sich gut mit dem fol­gen­den, je­dem 1.d4-Spieler grund­sätz­lich be­kann­ten, aber be­züg­lich Kom­men­tie­rung il­lus­tra­ti­ven Bei­spiel aus der „Sla­wi­schen Er­öff­nung“ zitieren:

Was soll man tun, wenn Schwarz ein­fach auf c4 schlägt und ver­sucht, den Mehr­bau­ern zu hal­ten? Die fol­gen­de Par­tie zeigt die ty­pi­sche Antwort:

Ace­bal Mu­niz – Gil Re­guera, Al­me­ria 1989 (D11)
1. d4 d5 2. c4 c6 3. Sf3 dxc4 4. a4 b5? 5. axb5 cxb5 6. e3 Db6 7. b3!
Das ist ein wich­ti­ger Stan­dard­zug, mit Fal­le hat das nichts zu tun.
7… cxb3 8. Dxb3 b4?
(8… e6 9. Lxb5 Ld7 +/- Ob­wohl Weiss kei­ne Fal­le ge­stellt hat (son­dern nur die bes­ten Züge mach­te) – Schwarz tappt hier­mit hinein.
9. Dd5!
Die­ser star­ke Zug wird schon bei Sno­sko-Bo­row­sky er­wähnt. In drei äl­te­ren  Par­tien der „Mega 2005″ wird er ge­macht, in den drei jün­ge­ren nicht; geht das Wis­sen wie­der verloren?
9… Lb7 (9… Sc6 10. Se5 +-)
10. Lb5 Lc6 (10… Sc6 11. Ta6+-)
11. Se5! Lxb5 (11… e6 12. Df3!+-)
12. Dxf7 Kd8 13. Dxf8+ Kc7 14. Dxg7 Df6 15. Dg3 Kb7 16. Sd2 1-0“
(Zi­tiert nach Sei­te 55 / Par­tie Nr.71)

Exkurs: Das Computer-Schach im modernen Schach-Verlagswesen

In ih­rem Band nen­nen die Au­toren nicht nur ihr ei­ge­nes (na­tur­ge­mäss enor­mes) Gross­meis­ter­li­ches Schach-Wis­sen, zwei­tens die frü­he­ren (oben er­wähn­ten) Buch-Klas­si­ker der The­ma­tik, so­wie drit­tens „Tipps von an­de­ren“ als wich­ti­ge Quel­len ih­rer Fal­len-For­schung. Aus­drück­lich be­to­nen die bei­den Theo­re­ti­ker, dass die Ver­wen­dung des Com­pu­ters eine zen­tra­le Rol­le bei ih­rer Buch-Ar­beit spiel­te. Denn nicht nur, dass mit solch rie­si­gen, sta­tis­tisch viel­fäl­tig ver­wert­ba­ren Par­tien-Da­ten­ban­ken bzw. Da­ten­bank-In­ter­faces wie der „Me­ga­ba­se“ von „Ch­ess­ba­se“ und dem „Ch­ess-As­sistant“ von „Con­vek­ta“ oder auch pri­va­ten Free­ware-Al­ter­na­ti­ven wie „José“ oder „Scid“ mitt­ler­wei­le in­nert Se­kun­den auf Mil­lio­nen von Schach­par­tien zu­ge­grif­fen wer­den kann – ganz zu schwei­gen von den zahl­rei­chen On­line-Ser­vern, die eben­falls eine dif­fe­ren­zier­te Re­cher­che nach Spie­len, Na­men und/oder Stel­lun­gen er­lau­ben, bei­spiels­wei­se „On­line Da­ta­ba­se“, „Shred­der-Da­ten­ban­ken“ oder „PDB Ser­ver“ u.a. Nein, auch in die schach­ana­ly­ti­sche Ar­beit selbst greift der Rech­ner längst mas­siv ein – in Form der Zu­hil­fe­nah­me tak­tisch ex­trem leis­tungs­fä­hi­ger Pro­gram­me, die dem mensch­li­chen Ana­ly­ti­ker eben­falls se­kun­den­schnell die kleins­te kom­bi­na­to­ri­sche Un­ge­nau­ig­keit melden.

Knaak und Mül­ler „ge­ste­hen“ denn auch in ih­rem „Quel­len­ver­zeich­nis“ un­ge­niert, dass sie be­züg­lich ih­rer Par­tien-Se­lek­ti­on auch auf die En­gi­ne „Fritz“ zu­rück­ge­grif­fen hät­ten, um die „Haa­re in der Sup­pe zu fin­den“ – wo­mit nur die wohl be­kann­tes­te, aber noch nicht mal spiel­stärks­te ver­füg­ba­re Schach-En­gi­ne zum Ein­satz kam (vergl. hier­zu auch die wich­tigs­ten ein­schlä­gi­gen Pro­gramm-Rang­lis­ten CEGT, CCRL, SSDF und COMP2007). Der Le­ser ak­tu­el­ler Schach­buch-No­vi­tä­ten darf also (hof­fent­lich…) be­ru­higt da­von aus­ge­hen, dass die ana­ly­ti­sche Kost, die er heut­zu­ta­ge vor­ge­setzt be­kommt, auf Herz und Nie­ren bzw. Bits und Bytes ge­prüft wur­de. Ganz im Ge­gen­satz zur (kei­nes­wegs we­ni­ger zu re­spek­tie­ren­den!) Ar­beit frü­he­rer Au­toren-Ge­ne­ra­tio­nen, die mit der mensch­li­chen „tak­ti­schen An­fäl­lig­keit“ le­ben muss­ten, und de­ren Bü­cher (bei al­lem Ni­veau z.B. sol­cher hoch­ka­rä­ti­ger Kom­men­ta­to­ren wie Al­je­chin, Ke­res, Bot­win­nik, Kar­pow u.a.) nur so strot­zen vor klei­ne­ren oder grös­se­ren „Über­se­hern“. Im Sin­ne so­wohl der „päd­ago­gi­schen Wahr­heit“ wie des ob­jek­ti­ven „schach­li­chen Er­kennt­nis­ge­win­nes“  ist die­se Ent­wick­lung nicht nur zwangs­läu­fig, son­dern auch sehr zu be­grüs­sen. Ob­wohl da­mit die ggf. jahr­zehn­te­lang auf­ge­stock­te häus­li­che Schach-Bi­blio­thek (zu­mal wo sie sog. „stra­te­gi­schen“ In­hal­tes ist) zu ei­nem wohl nicht klei­nen Teil nun­mehr blos­se Ma­ku­la­tur wird… – –

Qualität von Inhalt und Gestaltung

Der in­halt­lich-the­ma­ti­schen Qua­li­tät und Viel­falt die­ser An­tho­lo­gie ent­spre­chen – wie beim Olms-Ver­lag ge­wohnt – Prä­sen­ta­ti­on und Ty­po­gra­phie (sie­he hier­zu als Il­lus­tra­ti­on auch den un­ten­ste­hen­den Sei­ten-Aus­zug). Kla­re Ti­tel­ei und Ab­satz-Glie­de­rung, nicht über­la­de­ne, doch reich­li­che Dia­gramm-Un­ter­stüt­zung, über­sicht­lich ge­stal­te­ter, eher knapp ver­ba­li­sier­ter Kom­men­tar-Ap­pa­rat, und last but not least die vier An­hän­ge Quel­len-, Er­öff­nungs-, Per­so­nen- und Par­tien-Ver­zeich­nis – das al­les hilft beim Le­sen und Den­ken. Fa­zit: „222 Er­öff­nungs­fal­len nach 1.d4“ ist eine längst fäl­li­ge, mo­dern auf­be­rei­te­te, im Ver­bund mit „…nach 1.e4“ ziem­lich um­fas­sen­de, da­bei eben­so amü­san­te wie in­for­ma­ti­ve, mit viel neu­em Ana­ly­se-Ma­te­ri­al auf­be­rei­te­te An­tho­lo­gie, die je­den Ama­teur (also bei­na­he je­den Schach­spie­ler…) vor zahl­rei­chen Ir­run­gen und Wir­run­gen beim Par­tie-An­fan­gen be­wah­ren kann, und die als schön ge­stal­te­te, auch hin­sicht­lich Pa­pier, Druck und Bin­dung qua­li­täts­vol­le Edi­ti­on ih­ren Kauf­preis mehr als wert ist. ♦

Kars­ten Mül­ler & Rai­ner Knaak, 222 Er­öff­nungs­fal­len nach 1.d4, Edi­ti­on Olms, 148 Sei­ten, ISBN 978-3-283-01001-0

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Schacher­öff­nun­gen auch über Va­le­ri Bron­z­nik: 1.d4 – Rat­ge­ber ge­gen Un­or­tho­do­xe Verteidigungen

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