Joachim Raff: Werke für Violine und Orchester

Terra firma eines neutralen Terrains

von Markus Gärtner

Ge­schichts­schrei­bung ist im­mer auch eine Fra­ge der Blick­rich­tung, aus der sie be­trie­ben wird. For­scher stel­len da­bei die Ver­gan­gen­heit nicht um­fas­send dar (das wäre un­mög­lich), son­dern se­lek­tie­ren, was für ihr je­wei­li­ges The­ma aus­schlag­ge­bend sein könn­te. Dazu zie­hen sie Quel­len ver­schie­de­nen Aus­sa­ge­wer­tes her­an. Für be­stimm­te Un­ter­su­chungs-Zeit­räu­me, z.B. die An­ti­ke kann das sehr schwie­rig sein, denn die An­zahl der Quel­len ist – und bleibt auch wo­mög­lich – be­grenzt. Für die letz­ten zwei Jahr­hun­der­te gilt eher das Ge­gen­teil: Hier bil­det die Aus­wahl aus der Un­men­ge an ver­füg­ba­rem Ma­te­ri­al die ei­gent­li­che Herausforderung.

Joachim Raff: Werke für Violine und Orchester (Violin-Konzert Nr. 1 & Suite für Solo-Violine und Orchester)Um so er­staun­li­cher mu­tet es an, dass die Mu­sik­ge­schichts­schrei­bung bzgl. des 19. Jahr­hun­derts noch im­mer an ei­nem be­reits al­ters­schwa­chen Mo­dell fest­hält: dem Streit zwi­schen den so­ge­nann­ten „Kon­ser­va­ti­ven“ um Jo­han­nes Brahms und den „Neu­deut­schen“ um Franz Liszt. Der Ver­ein­fa­chungs­cha­rak­ter liegt mitt­ler­wei­le auf der Hand. Für kei­ne der bei­den Sei­ten lässt sich ein ein­heit­li­ches Bild kon­stru­ie­ren, was denn nun ge­nau die Zu­ge­hö­rig­keit aus­macht, oder wie „kon­ser­va­tiv“ bzw. „neu­deutsch“ ei­gent­lich klingt.

Komponisten jenseits der je ersten Reihe zum Klingen bringen

Wäh­rend also die Mu­sik­wis­sen­schaft nicht nur am be­kann­ten di­cho­to­mi­schen Kon­zept fest­hält, son­dern, so will es je­den­falls schei­nen, selbst re­flex­ar­tig die­se Kon­flikt­li­nie mit­tels ei­fer­süch­tig ge­gen­ein­an­der aus­ge­rich­te­ter For­schungs­schwer­punk­te per­p­etu­iert, ist es die Mu­sik­in­dus­trie, die Ver­gleichs­mög­lich­kei­ten wie­der her­stellt und mit ih­ren Mit­teln hilft, Ras­te­run­gen der Ver­gan­gen­heit zu über­den­ken. Je mehr Mu­sik der zwei­ten Hälf­te des „lan­gen“ 19. Jahr­hun­derts ver­öf­fent­licht wird, des­to mehr ver­flüs­si­gen sich auch die Ge­gen­sät­ze. Da­bei sind es be­son­ders un­ab­hän­gi­ge Fir­men, die sich der Auf­ga­be stel­len, Kom­po­nis­ten jen­seits der je ers­ten Rei­he wie­der zum Klin­gen zu bringen.
So hat das schwe­di­sche La­bel Ster­ling kürz­lich eine CD mit Wer­ken für Vio­li­ne und Or­ches­ter des ge­bür­ti­gen Schwei­zers Joa­chim Raff (1822–1882) her­aus­ge­bracht. Schon Hugo Rie­mann rech­ne­te Raff zur „Neu­deut­schen Schu­le“, stell­te ihm ver­glei­chend Fe­lix Drae­se­ke und Alex­an­der Rit­ter an die Sei­te. Doch geht es wirk­lich um Be­kannt­schafts­ver­hält­nis­se? Geht es wirk­lich dar­um, wer zu wel­chem Zeit­punkt im fort­schritts­ori­en­tier­ten Wei­mar leb­te und arbeitete?

Am Lisztschen Klagideal orientiert

Titel-Blatt der "Liebesfee" (Joachim Raff: Werke für Violine und Orchester)
Joa­chim Raff: Ti­tel-Blatt der „Lie­bes­fee“

Die Kom­po­si­tio­nen Raffs je­den­falls las­sen dar­an zwei­feln. Selbst in un­mit­tel­ba­rer zeit­li­cher und lo­ka­ler Nähe zu sei­nem Men­tor Franz Liszt ent­stand mit der ein­ge­spiel­ten La feé d’amour 1854 eine Mu­sik, die sich kaum grund­le­gen­der vom Liszt­schen Klang­ide­al un­ter­schei­den könn­te. Raff setzt nicht auf die gros­se Ges­te, son­dern auf Zu­rück­hal­tung in Aus­druck und In­stru­men­ta­ti­on. Fast durch­ge­hend fehlt die für sein Um­feld so ty­pi­sche Chro­ma­tik. Die­sen sei­nen, nur in we­ni­gen Al­ters­wer­ken durch­bro­che­nen Stil baut Raff in den fol­gen­den Jah­ren und Jahr­zehn­ten wei­ter aus, was die CD durch Zu­sam­men­stel­lung mit zwei wei­te­ren Wer­ken, die bei­de in den 1870er Jah­ren fer­tig­ge­stellt wur­den, be­legt. So spar­sam wie bei der Fee geht es hier al­ler­dings nicht mehr zu. Das ers­te Vio­lin­kon­zert er­öff­net mit ei­nem ge­wich­ti­gen Kopf­satz, der in sei­nem kom­pri­mier­ten Haupt­mo­tiv En­er­gie für den gan­zen fol­gen­den Satz­ver­lauf ge­spei­chert hält.
Mit der Suite für Solo-Vio­li­ne und Or­ches­ter hin­ge­gen zeigt sich Raff als Ahn­va­ter des Neo­klas­si­zis­mus, in­dem er klas­si­sche und ba­ro­cke Tanz­mus­ter in ro­man­ti­scher Ma­nier re­inter­pre­tiert. Be­rühm­tes­tes Er­geb­nis sei­nes dies­be­züg­li­chen In­ter­es­ses ist die von ihm in­stru­men­tier­te Cha­conne aus der 2. Par­ti­ta für Vio­li­ne solo von Jo­hann Se­bas­ti­an Bach. Doch auch in der Suite von 1873 ge­lang dem Kom­po­nis­ten rei­zen­de Mu­sik, so z. B. der zwei­te Satz, ein Me­nu­ett. Alle die­se Bei­spie­le aus Raffs Schaf­fen ma­chen Rie­manns oben er­wähn­te Zu­ord­nung mehr als zwei­fel­haft, eine Skep­sis, die sich eben­so auf Fe­lix Drae­se­ke aus­deh­nen liesse.

Kraftvoller Orchester-Körper mit opulentem Klangbild

Joachim Raff
Joa­chim Raff

Doch die­se CD hat noch mehr zu bie­ten als ein Stück aus­ge­gra­be­ne Mu­sik­ge­schich­te, denn mit dem Sym­pho­ny Or­ches­tra of Norr­lands Ope­ra ist ein saft- und kraft­vol­ler Klang­kör­per zu ge­nies­sen, wel­cher, un­ter­stützt vom opu­len­ten Klang­bild, der Mu­sik Raffs ge­ra­de­zu schwel­ge­ri­sche Züge ab­ge­winnt. Und wem das im­mer noch nicht ge­nügt, der sei auf den So­lis­ten To­bi­as Ring­born hin­ge­wie­sen, des­sen Gei­gen­ton (ver­gleich­bar viel­leicht mit dem­je­ni­gen Ni­ko­laj Zna­iders oder Hen­ning Krag­ge­ruds) satt wie be­weg­lich der Pro­duk­ti­on das letz­te Sah­ne­häub­chen aufsetzt.
So be­legt vor­lie­gen­de Ver­öf­fent­li­chung ein­mal mehr, dass die Mu­sik­ge­schich­te des 19. Jahr­hun­derts weit­aus dif­fe­ren­zier­ter zu be­trach­ten wäre als bis­her ge­sche­hen. Von sol­cher­art Vor­ar­bei­ten der Plat­ten­in­dus­trie an­ge­regt soll­ten sich auch His­to­ri­ker end­lich dar­auf ei­ni­gen, we­ni­ger von La­ger­bil­dung denn von ei­nem Kon­ti­nu­um von In­ter­de­pen­den­zen aus­zu­ge­hen. Ein wich­ti­ger Hin­weis dar­auf stammt von Raff selbst. In der Neu­en Zeit­schrift für Mu­sik no­tiert er 1853, dass es ihm vor al­lem dar­um gin­ge, die „ter­ra fir­ma ei­nes neu­tra­len Ter­rains zu ge­win­nen […]“ – also eine Po­si­ti­on nicht nur ne­ben, son­dern jen­seits von vor­ge­fer­tig­ten (mu­sik­his­to­rio­gra­phi­schen) Schubladen. ♦

Jo­seph Joa­chim Raff, Vio­lin­kon­zert Nr. 1 – Suite für Vio­li­ne und Or­ches­ter – La fee d’amour, Sym­pho­ny Or­ches­tra of Norr­lands Ope­ra, An­drea Quinn (Di­ri­gen­tin), To­bi­as Ring­born (Vio­li­ne): , Ster­ling CDS 1075-2

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Mu­sik für Vio­li­ne auch über Egon Wel­lesz: Vio­lin­kon­zert (CD)

Aus­ser­dem zum The­ma Strei­cher­mu­sik über String Thing: Groo­vy Strings

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