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Groove it!
von Walter Eigenmann
Pop auf der Geige, Rock mit der Bratsche, Folk im Cello, oder Latin für den Bass – geht das?? Das geht. Und wie. Den Beweis angetreten haben (längstens auf der Konzert-/Studiobühne und nun auch in Buchform) die vier deutschen StreicherInnen Jens Peizunka (Kontrabass), Mike Rutledge (Violine), Nicola Kruse (Violine) und Susanne Paul (Violoncello) – genannt “String Thing”. Das (durchwegs auf Hochschulen klassisch ausgebildete) Streicherensemble String Thing “groovt” nunmehr schon seit zwanzig Jahren durch volle Konzertsääle und hat sich jetzt mit dem Wiesbadener Musikverlag Breitkopf & Härtel zusammengetan, um dem ganz besonderen Musik-Phänomen “Groove” auch auf den theoretischen bzw. instrumentaldidaktischen Grund zu gehen. Entstanden ist die 140-seitige Grundlagen-Untersuchung “Groovy Strings – Rhythmus&Groove im Streicherunterricht”.
Was ist eigentlich Groove?
Doch was ist eigentlich Groove? Mit “Groove” verbinden die vier BuchautorInnen keinen fixierten musikwissenschaftlichen Terminus, sondern als erstes mal ein “stiltypisches Rhythmusmodell”, eine “stilistisch eindeutige rhythmische Ausprägung eines Musikstückes”; Groove umfasst “Tempo, Art der rhytmischen Phrasierung bis hin zur Verwendung typischer harmonischer, melodischer und rhythmischer Strukturen und Figuren” (Christoph Hempel). Sodann betonen die AutorInnen den körperlichen, den spontan mitreissenden Aspekt dieses Begriffes: “Groove kann entstehen, wenn bei einem Musiker die Vorstellung des Rhythmus und seine Körperbewegung genau übereinstimmen. Dazu müssen ihm beide Ebenen mit einer Selbstverständlichkeit, einer ‘Von-alleine-Qualität’ verfügbar sein wie etwa der Herzschlag, das Atmen oder das Gehen”.

“Jazz, Rock und Pop kann man lernen”
Diese Selbstverständlichkeit ist allerdings erst das Resultat, nicht die Voraussetzung der Jazz-/Pop-Ausbildung, denn wie die AutorInnen grundsätzlich die gängige Unterrichtspraxis an den Musik-Schulinstitutionen kritisieren: “Die Meinung unter Jazz-Pädagogen ist immer noch verbreitet, ein Schüler könne von selbst gut phrasieren oder eben nicht. Entgegen dieser Einschätzung sind wir der festen Überzeugung, dass man lehren und lernen kann, Musik aus den Bereichen Jazz, Rock und Pop stilgerecht und ‘akzentfrei’ zu spielen. Was bisher fehlte, ist eine Methodik, die es ermöglicht, die notwendigen Grundlagen dazu systematisch zu vermitteln.” Und weiter: “Es erscheint uns gerechtfertigt, so unterschiedliche Stile groovender Musik wie Swing, Heavy Metal, Reggae, Bossa Nova und Blues unter einem aufführungspraktischen Dach zusammenzufassen und von einer übergeordneten Aufführungspraxis zu sprechen, denn bei allen beträchtlichen Unterschieden haben diese Stile eines gemeinsam: ihre afroamerikanischen Wurzeln. Daraus erklären sich die keineswegs zufälligen, beliebigen oder austauschbaren Gesetzmässigkeiten, von denen das Rhythmusempfinden (Groove), die Artikulation, die Phrasierung und damit die spieltechnischen Besonderheiten groovender Musik geprägt sind.”
Didaktisch und praktisch leicht realisierbare Unterweisung

Dass ihre “groovige”, theoretisch-methodisch sehr durchdachte, didaktisch leicht realisierbare und dabei betont am praktischen, ja “emotionalen”, weil v.a. rhythmischen Musizieren ausgerichtete Unterweisung in ziemliches musikpädagogisches Neuland vorstösst, ist den vier Buch-AutorInnen durchaus bewusst. Zu sehr verbreitet ist im herkömmlichen Streicherunterricht noch immer das “klassische”, zuweilen mit fast versnobtem Rokokko-Perücken-Puder überzuckerte Image des brav vor seinem Notenständer aufgestellten Geigenschülers, welcher lustlos, aber pflichtbewusst sein Boccherini-Menuettchen rauf- und runterfiedelt, mehr ahnend als wissend, dass seine Violine einen der Hauptpfeiler altehrwürdiger abendländischer Instrumentalkultur symbolisiert. Und das Autoren-Quartett bedauert: “Für Bläser, Pianisten und Gitarristen ist die Beschäftigung mit Jazz, Rock und Pop längst selbstverständlich. Nur bei den Streichern ist dies nach wie vor eher ungewöhnlich, und entsprechende Literatur ist kaum zu finden.”
Grooviger Zugang zur Streichmusik
Sehr richtig auch die Feststellung im Vorwort des Bandes, dass “groovende” Musikstile aller Richtungen den jungen Musikinteressierten möglicherweise überhaupt erst den Zugang zu Geige, Bratsche oder Cello eröffnet: “Die Beschäftigung mit populärer Musik in der mitunter schwierigen Phase der Pubertät kann eine neue Perspektive aufzeigen, wenn z.B. das Spielen von klassischer Musik als ‘uncool’ gilt und deshalb die Möglichkeit erwogen wird, den Musikunterricht entweder ganz aufzugeben oder von einem Streichinstrument zu einem Pop-tauglicheren, ‘cooleren’ Instrument zu wechseln.” Allein dies schon eine schlagende Argumentierung für den Einbezug von Pop-Musik in den “klassischen” Geigenunterricht, dessen Musikauswahl nicht nur mit vergangenen Jahrhunderten, sondern auch mit der persönlich-alltäglichen, massiv Medien-gesteuerten Erlebniswelt der Jugendlichen zu tun haben sollte. (Andernfalls dürften in der Tat, wie allenthalben befürchtet, die Jahre der Geige als “Breiteninstrument” gezählt sein.)
Unterschiedliche Musikpädagogik bei Klassik und Pop

Allerdings erfordern Jazz- und Popularmusik eine von Klassik deutlich unterschiedene Musikpädagogik. Deren Methodik- und Repertoire-Ansätze für den modernen Streicherunterricht jetzt auf gleichermassen umfassende wie anregende Weise systematisiert und in ein effizientes Unterrichtskonzept gebracht zu haben ist eine echte Pionierarbeit der als Musiker und Lehrer mehrfach international ausgezeichneten “String-Thing”-Autoren. Zusätzlich aufgewertet wird der grossformatige, auch layouterisch und notentypographisch sehr ästhetisch gestaltete Band durch die mitgelieferte Extra-CD, deren Audio-Tracks (Geige, Bratsche & Cello) sowohl zur Einstimmung am Unterrichtsbeginn als auch für den Playback-Hintergrund eingesetzt werden können.
Alles in allem ist “Groovy Strings” nicht nur eine bis jetzt sehr vermisste Materialsammlung, sondern auch ein methodisch progressiv anwendbarer Leitfaden, der zwar nur bedingt bei Anfängern, aber ab spätestens drittem Unterrichtsjahr systematisch eingesetzt werden kann, und dessen hoher Spassfaktor die vor lauter ehrwürdiger Geigentradition muffige Luft in so mancher Musikschulstube schlagartig verbessern könnte. “Groovy Strings” ist nicht die Alternative, aber eine wertvolle Ergänzung zum “Klassik”-Unterricht. Das Werk gehört definitiv in die Notenmappe eines jeden Streicher-Pädagogen – direkt neben Mozart & Co. ♦
String Thing: Groovy Strings, Rhythmus&Groove im Streicherunterricht, 140 Seiten & CD, Breitkopf-Härtel Verlag, ISBN 978-3-7651-0387-2