Robert Hübner: SCHUND (Schach)

Chronik eines privaten Schachzirkels

von Ralf Binnewirtz

Aus dem aktu­ell wie­der etwas üppi­ge­ren Ange­bot an Schach­bü­chern in deut­scher Spra­che sollte das neue Werk von Groß­meis­ter Robert Hüb­ner eine nähere Betrach­tung ver­die­nen, auch weil es mit dem erklä­rungs­be­dürf­ti­gen Titel “SCHUND” und dem dubios anmu­ten­den Unter­ti­tel “Ein Schach­buch von Dilet­tan­ten für Dilet­tan­ten” prä­de­sti­niert scheint, ein neu­gie­ri­ges Lese­pu­bli­kum anzu­lo­cken. Man mag sich fra­gen, ob diese Titu­lie­rung einem zuwei­len gern geüb­ten Under­state­ment des Autors ent­springt, zumal auf der Buch­rück­seite das ein­same Dik­tum “Ein über­flüs­si­ges Buch” in eine ähn­li­che Kerbe schlägt. Deu­tet sich hier etwa ein kurio­ser Akt von Selbst­gei­ße­lung an?

Nein, dem ist kei­nes­wegs so: Denn die “Dilet­tan­ten” sind hier aus­schließ­lich als “Lieb­ha­ber” zu ver­ste­hen, und SCHUND ergibt sich aus dem Namen des Mini-Ama­teur­schach­ver­eins “Schach­ver­band unver­zag­ter Dilet­tan­ten”, des­sen His­to­rie im Buch dar­ge­legt wird. Die­ses ent­hält alle Par­tien der Mit­glie­der unter­ein­an­der, und die Berichte zu zwei Fern­rei­sen, die sich im Lauf der Ver­eins­ge­schichte erge­ben haben, sind in die Par­tie­samm­lung ein­ge­bun­den. Eine (laut Vor­wort ver­se­hent­lich hin­ein­ge­ra­tene 😉) schach­fremde Zugabe “Mumi­en­por­traits” beschließt das Werk.

Eine famose Einleitung

Robert Hübner: SCHUND (Ein Schachbuch von Dilettanten für Dilettanten) - Rezension im GLAREAN MAGAZINIn einem glän­zend for­mu­lier­ten Ein­lei­tungs­text gibt Robert Hüb­ner einen kur­zen Rück­blick auf die letz­ten 50 Jahre Schach­be­trieb und die teils umwäl­zen­den Ver­än­de­run­gen, die sich in die­ser Zeit zuge­tra­gen haben, und die kei­nes­falls immer bzw. völ­lig zum Vor­teil des Schachs und sei­ner Prot­ago­nis­ten gera­ten sind. Hüb­ners unver­wech­sel­bare Dik­tion dürfte aus sei­nen frü­he­ren Publi­ka­tio­nen hin­läng­lich bekannt sein, sie ist u.a. cha­rak­te­ri­siert durch die Ver­wen­dung eines oft ein wenig anti­quiert wir­ken­den Wort­schat­zes, und auch der bevor­zug­ten alten deut­schen Recht­schrei­bung hat er die Treue gehalten.
Seit jeher hat er es ver­stan­den, seine (schach)kulturkritischen Aus­füh­run­gen mit einer gehö­ri­gen Prise Witz oder mit sub­ti­ler Iro­nie anzu­rei­chern, wes­halb ich diese Ein­lei­tung mit wach­sen­dem Ver­gnü­gen gele­sen habe. Wir erfah­ren hier auch über die bei­den Grün­der des SCHUND-Ver­bands, Arndt Bork­hardt und Gun­tram Hil­benz, und den weit­ge­hend macht­lo­sen Ver­bands­prä­si­den­ten, offen­bar Robert Hüb­ner persönlich.

Nur eine Handvoll Mitglieder

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Zu den bei­den Grün­dungs­mit­glie­dern stie­ßen spä­ter Adriaan Pof­fers aus dem Osten der Nie­der­lande (Nij­ver­dal), der sich als spiel­stärks­tes Mit­glied ent­pup­pen sollte, sowie der bekannte deut­sche FM René Born­gäs­ser, der bis­her aller­dings nur eine ein­zige Stipp­vi­site bei einem Tref­fen in Düs­sel­dorf gege­ben hat. Zwei Mit­glie­der, A. Bork­hardt und A. Pof­fers, haben ihren schach­li­chen Wer­de­gang mit eige­nen Wor­ten im Buch prä­sen­tiert, über ihr Leben außer­halb des Schachs wird der Man­tel des Schwei­gens gebrei­tet.1) Ange­sichts der klei­nen Mit­glie­der­zahl mag es vie­len Lesern ver­mes­sen erschei­nen, von einem Schach­ver­band und einer Ver­bands­welt­meis­ter­schaft zu spre­chen, wie im Buch gesche­hen. Offen­bar darf diese Form der Über­trei­bung, die das gesamte Buch durch­zieht, nicht allzu ernst genom­men werden.

Großmeisterlich kommentierte Partien

Robert Hübner an einer öffentlichen Schach-Simultanvorstellung
Groß­meis­ter Robert Hüb­ner (geb. 1948) an einer öffent­li­chen Schach-Simultanvorstellung

Von den 45 Par­tien, die alle vom Autor in der ihm eige­nen akri­bi­schen Art kom­men­tiert wur­den, sind nur zwei von Hüb­ner selbst, eine wei­tere von Born­gäs­ser, die rest­li­chen 42 Par­tien wur­den bei diver­sen Anläs­sen von den drei Mit­glie­dern Bork­hardt, Hil­benz und Pof­fers aus­schließ­lich unter­ein­an­der aus­ge­tra­gen. Es ist klar, dass sich diese Ama­teur-Par­tien nicht auf hohem Meis­ter­ni­veau bewe­gen kön­nen, zuwei­len häu­fen sich auf bei­den Sei­ten Unge­nau­ig­kei­ten und Feh­ler jeg­li­cher Art, und nicht sel­ten wer­den Gewinn­stel­lun­gen zum Ver­lust ver­korkst, so dass der Par­tie­aus­gang unvor­her­seh­bar ist.
Bei vie­len Nach­spie­len­den mögen sol­che Par­tien auf­grund ihres limi­tier­ten Unter­hal­tungs­werts wenig Begeis­te­rung aus­lö­sen, sie könn­ten sich aller­dings gut eig­nen als Lehr- und Übungs­stoff in Schach­kur­sen für fort­ge­schrit­tene Anfän­ger. Es sei dahin­ge­stellt, ob dies der Inten­tion des Autors ent­sprach, kund­ge­tan hat Hüb­ner die­sen Ver­wen­dungs­zweck sei­nes Buchs nicht.

Im fernen Usbekistan

Fund von Alten Schachfiguren aus Afrasiab (Nähe Samarkand) Usbekistan - König, Streitwagen, Wesir, Elephant - Glarean Magazin
Fund der ältes­ten Schach­fi­gu­ren in Afra­siab (Nähe des usbe­ki­schen Samar­kand) aus dem 6.-8. Jahr­hun­dert: König, Streit­wa­gen, Wesir, Ele­phant (v.l.n.r.)

2017 wird Hüb­ner von Ver­bands­arzt Hil­benz eine kraft­schöp­fende Reise ver­ord­net, um einer tem­po­rä­ren Schlaff­heit abzu­hel­fen. Es ist hier nicht mög­lich, auf Sta­tio­nen und Details die­ser Grup­pen­reise, an der auch Hil­benz als betreu­en­der Arzt teil­nahm, näher ein­zu­ge­hen. Ob von der Rei­se­schil­de­rung wohl merk­li­che Spu­ren im Gedächt­nis der Leser ver­blei­ben? Viel­leicht von der Rei­se­lei­te­rin, einer läh­mende Lan­ge­weile ver­brei­ten­den matro­nen­haf­ten “Babuschka”, die von Hüb­ner treff­lich ver­bal imi­tiert wird. Oder vom usbe­ki­schen Natio­nal­hel­den in spe, Temur (= Tamer­lan), bei des­sen Name mir spon­tan “Der Eiserne Käfig des Tamer­lan”2) in den Sinn kommt. Aber der­lei Asso­zia­tio­nen schei­nen Hüb­ner nicht zu befal­len, und auch zum Besuch von Afra­siab bei Samar­kand bleibt uner­wähnt, dass dort 1977 die ältes­ten Schach­fi­gu­ren der Welt aus­ge­gra­ben wur­den. Am Ende der Reise wird Hüb­ner die “Mops­haf­tig­keit sei­nes Tuns” bewusst (“Was suchte ich in Zen­tral­asien?”), und er schließt das Kapi­tel mit dem erhei­tern­den Kurz­ge­dicht “Mop­sen­le­ben” von Chris­tian Morgenstern.

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Ich ver­merke, dass beide Rei­se­be­richte ohne schach­li­che Zuta­ten aus­kom­men. Bei der zwei­ten Reise im Mai 2019 ist erneut das Gespann Hil­benz / Hüb­ner unter­wegs: Im von Hil­benz gesteu­er­ten Leih­wa­gen geht es über Stock und Stein durch die grie­chi­sche Land­schaft, durch Orte und Berg­dör­fer mit mehr oder weni­ger zugäng­li­chen Sehens­wür­dig­kei­ten. Erneut erspare ich mir Ein­zel­hei­ten. Ich erwähne ledig­lich, dass der Alt­phi­lo­loge Hüb­ner mehr­fach an ihm geeig­net erschei­nen­den Stel­len aus anti­ken Tex­ten zitiert, beson­ders umfäng­lich von Thuky­di­des, und ein­mal kür­zer von Pla­ton. Die Über­set­zun­gen aus dem Alt­grie­chi­schen hat er selbst besorgt. Chapeau!

Ansehnliche Mumienportraits

Die vier im Schluss­ka­pi­tel wie­der­ge­ge­be­nen Mumi­en­por­traits (Nach­bil­dun­gen, Eitem­pera auf Holz) sind in Farbe repro­du­ziert wor­den. Mumi­en­por­traits waren Bei­ga­ben zur alt­ägyp­ti­schen Mumi­en­be­stat­tung (nach 30 v. Chr.), die den Ver­stor­be­nen meist in jugend­li­chem, zumin­dest deut­lich jün­ge­rem Alter zei­gen, mög­li­cher­weise ein wenig idea­li­siert in der Dar­stel­lung. Aus mei­ner Sicht ein gefäl­li­ger Schluss­punkt, der vom Autor schon im Vor­wort mit einer klei­nen Eulen­spie­ge­lei vor­beu­gend ent­schul­digt wird (siehe Lese­probe) – wegen der the­ma­ti­schen Ferne vom Rest des Buchs.

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Robert Hüb­ner hat in die­sem Buch eine pri­vate Schach­idylle beschrie­ben, die sich eine kleine Gruppe von Freun­den geschaf­fen hat in dem Bestre­ben, sich ihrem Hobby nach eige­nen Vor­stel­lun­gen und unbe­ein­flusst von den Aus­wüch­sen eines moder­nen Spiel­be­triebs wid­men zu kön­nen. Ein weit­ge­hend her­me­ti­scher Mikro­kos­mos, der Inter­ak­tio­nen mit der rest­li­chen Schach­welt nicht vor­sieht. Gut 75% des Buchs wer­den von den Par­tien bean­sprucht, die an sich für die Nach­welt kaum erhal­tens­wert wären. Erst Hüb­ners ein­ge­hende, oft tief­schür­fende, aber stets gut ver­ständ­li­che Kom­men­tie­rung sorgt dafür, dass die Par­tien nutz­bar wer­den als Trai­nings­ma­te­rial für auf­stre­bende Schach­jün­ger. Zugleich hat der Autor sei­nen SCHUND­lern eine Art Ver­eins­chro­nik der letz­ten rund acht Jahre beschert, die die Erin­ne­rung an gemein­same Akti­vi­tä­ten fest­hält, auch wenn letz­tere bald ver­san­den soll­ten(?) Im Buch wird nicht mit­ge­teilt, ob die­ser kleine Schach­zir­kel wei­ter­hin Bestand haben wird. Aber viel­leicht stel­len sich auch Nach­ah­mer ein.

SCHUND - Robert Hübner - Beispielseite - Glarean Magazin
Groß­meis­ter­li­che Kom­men­tie­rung klein­meis­ter­li­cher Par­tien: Bei­spiel­seite aus “SCHUND” von Robert Hübner

Ein überflüssiges Buch?

Dies mag von einem Teil der Leser bejaht wer­den, sofern sie bereits schach­lich so hoch qua­li­fi­ziert sind, dass ein Stu­dium der Par­tien für sie ent­behr­lich ist. Gerin­ger qua­li­fi­zierte Schach­freunde haben hier umfäng­li­ches Mate­rial an der Hand, wo sie Feh­lern begeg­nen, wie sie sie wohl oft selbst bege­hen: man­gel­hafte tak­ti­sche Berech­nun­gen, stra­te­gi­sche Fehl­ein­schät­zun­gen, allzu sche­ma­ti­sche Züge, Miss­griffe im End­spiel und andere leicht­fer­tige Ver­ge­hen. Für sie kann die­ses Buch durch­aus emp­foh­len wer­den. Alle ande­ren wer­den hof­fent­lich aus­rei­chende Ori­en­tie­rung hin­sicht­lich einer Kauf­ent­schei­dung erhal­ten haben.
Zu erwäh­nen bleibt letzt­lich die gedie­gene Aus­stat­tung des Buchs (Faden­hef­tung!) und eine exzel­lente Text­satz-Gestal­tung von Ulrich Dirr. ♦

1)Über Prof. Dr. med. Arndt Bork­hardt erfah­ren wir mehr aus des­sen Wiki­pe­dia-Seite; Dr. med. Gun­tram Hil­benz ist ein All­ge­mein­me­di­zi­ner aus dem hes­si­schen Flor­stadt (Wet­terau-Kreis) mit einer ELO von knapp unter 2000, soweit ich dies eru­ie­ren konnte
2)Siehe z.B. Hil­mar Ebert, Fried­rich Wol­fen­ter: Kegel­schach, Aachen 1997, S. 277

Robert Hüb­ner: SCHUND – Ein Schach­buch von Dilet­tan­ten für Dilet­tan­ten, 183 Sei­ten, Edi­tion Marco, ISBN 978-3-924833-84-8

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Schach-Feuil­le­ton auch über Geilmann/Stiefel/Herbold: Boris Spas­ski (Schach-Bio­gra­phie)

Außer­dem zum Thema Schach über: Gert von Ameln – Salin und der Schwarze Zau­be­rer (Schach-Mär­chen)

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