See Siang Wong (Klavier): Fantasia – Werke von Beethoven

Virtuoses und farbenreiches Klavierspiel

von Mario Knöpfler

Bitte nicht noch eine Beet­ho­ven CD? Das Beet­ho­ven-Jahr 2020 im Rah­men sei­nes 250. Geburts­ta­ges fiel wegen der Corona-Pan­de­mie ins Was­ser. Nun wur­den, um den Jubi­lar zu ehren, die Fei­er­lich­kei­ten bis 2021 ver­län­gert. So prä­sen­tiert uns auch der Pia­nist See Siang Wong – nach einer beein­dru­cken­den und umfang­rei­chen Dis­ko­gra­phie bei Decca und Sony – das erste Album sei­ner Beet­ho­ven-Tri­lo­gie, “Fan­ta­sia”, die er mit den “Fan­ta­sie”-Kla­vier­wer­ken des Meis­ters gestal­tet: Den bei­den op. 27 Sona­ten, der Fan­ta­sie op. 77, und – als Schluss­werk – der Chor­fan­ta­sie op. 80.

Wong möchte uns vor allem unbe­kann­tere Per­len des Kom­po­nis­ten näher­brin­gen. Dass die Mond­schein-Sonate op. 27/2 etwas aus die­ser Dra­ma­tur­gie her­aus­fällt, stört nicht, da der chi­ne­sisch-schwei­ze­ri­sche Kon­zert­pia­nist See Siang Wong mit sei­ner höchst per­sön­li­chen Inter­pre­ta­tion besticht.
So ist der Anfang der “Mond­schein” bei ihm nicht ein sen­ti­men­ta­les Ada­gio mit Mon­des­schim­mer, son­dern wirkt wie eine düs­tere gespens­ti­sche Geis­ter­nacht. Die lang­sa­men Trio­len rau­schen weh­mü­tig wie der Wind über den Grä­bern und die punk­tier­ten Rhyth­men ertö­nen rau wie Todes­glo­cken. Wong setzt dabei quasi buch­stäb­lich die Anwei­sun­gen Beet­ho­vens um, für den gan­zen Satz nur ein ein­zi­ges Pedal zu neh­men – und das lässt sich hören: Die leicht dis­so­nie­ren­den Har­mo­nien und Far­ben wech­seln sich ab und bewir­ken, dass die Klänge melan­cho­lisch zu schwe­ben begin­nen. Es ent­ste­hen so uner­hörte Klang­fel­der im Raum, die einen an eine fast impres­sio­nis­ti­sche Klang­spra­che erinnern.

Donner und Blitz

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Als Kon­trast inter­pre­tiert er den zwei­ten Satz leicht­füs­sig und spon­tan, wie ein Zwie­ge­spräch. Ein klei­nes Inter­mezzo zwi­schen den zwei gross ange­leg­ten Eck­sät­zen, oder wie Liszt es so schön nannte: “Wie eine Blume zwi­schen zwei Abgründen”.
Naht­los geht Wong dann “attaca” über in den Pres­tis­simo-Satz, mit stür­mi­schem Drang und vol­ler Ener­gie. Plas­tisch wirkt seine Kla­vier­kunst, und sel­ten wurde das Finale mit so viel Don­ner und Blitz gehört und gespielt!

Betörend schlicht

See Siang Wong - Pianist - Glarean Magazin
Vir­tuo­ses und klang­sinn­li­ches Kla­vier­spiel: “Fantasia”-Pianist See Siang Wong (Foto: SRF / Christoffel)

Die Sonate “Quasi una Fan­ta­sia” op. 27.1 ist zu unrecht die weni­ger bekannte der zwei Sona­ten. Beet­ho­ven hat sie noch mehr wie eine grosse Fan­ta­sia aus­kom­po­niert. Die vier Sätze gehen direkt inein­an­der über und machen das Werk in sei­ner Gesamt­ar­chi­tek­tur zu einer der inter­es­san­tes­ten Sona­ten Beethovens.
See Siang Wong spielt die Sonate mit einer betö­ren­den Schlicht­heit und dem Ver­ständ­nis für die Form und Struk­tur. So wirkt der erste Satz erfri­schend neu und klar. Das Sei­ten­thema mit punk­tier­ter Arti­ku­la­tion tönt in sei­ner Inter­pre­ta­tion unge­wöhn­lich, keck und leicht wie einer Opern­arie. Ros­sini schaut hier­bei zu um die Ecke! Auch den ande­ren Sät­zen zeich­nen sich aus durch ein wun­der­bar spre­chen­des und far­ben­rei­ches Spiel, den Fan­ta­sia-Cha­rak­ter der Sonate zurecht.

Virtuose Spielfreude

Ludwig van Beethoven am Klavier - Glarean Magazin
Beet­ho­ven am Kla­vier im Kreise von Adepten

Die Fan­ta­sia op. 77 ist viel­leicht auf dem Album das kurio­seste der Werke. So hat Beet­ho­ven diese sel­ber an sei­nem legen­dä­ren Aka­de­mie-Kon­zert vom 22. Dezem­ber 1808 gespielt – ein Kon­zert, das mit einem Mam­mut­pro­gramm von fünf Stun­den (dar­un­ter das 4. Kla­vier­kon­zert und zwei Sin­fo­nien sowie die Chor­fan­ta­sie) eigent­lich unmög­lich war für das Publi­kum. Beet­ho­ven hat dabei die Fan­ta­sia impro­vi­siert und danach auf­ge­schrie­ben. Sie ist wahr­schein­lich die ein­zige wirk­lich über­lie­ferte Impro­vi­sa­tion Beethovens.
Wong kann den dra­ma­tur­gi­schen Ver­lauf des Wer­kes nach­emp­fin­den und gestal­tet die ver­schie­de­nen Varia­tio­nen und Umspie­lun­gen des The­mas mit viel Spiel­freude und Virtuosität.

Dialogisierend und klangsinnlich

Ludwig van Beethoven - Chorfantasie op. 80 für Klavier, Chor und Orchester - Anfang - Glarean Magazin
Lud­wig van Beet­ho­ven: Anfang der Chor­fan­ta­sie op. 80 für Kla­vier, Chor und Orchester

Am Schluss ertönt die ful­mi­nante Chor­fan­ta­sie op. 80. Sie hat eine unkon­ven­tio­nelle Beset­zung mit Chor, Orches­ter und Kla­vier und war ein Fiasko bei der Urauf­füh­rung im Aka­de­mie-Kon­zert. Das Orches­ter geriet mit Beet­ho­ven als Solis­ten wegen eines Miss­ver­ständ­nis­ses um eine Wie­der­ho­lung völ­lig aus­ein­an­der: Beet­ho­ven spielte sie, das Orches­ter nicht, ein gros­ser Tumult brach aus.
Da wäre Beet­ho­ven wohl voll­ends zufrie­den gewe­sen mit der vor­lie­gen­den Ein­spie­lung, worin See Siang Wong gemein­sam mit dem RSO Wien und dem Wie­ner Sing­ver­ein unter der Lei­tung von Leo Huss­ain wun­der­bar dia­lo­gi­sie­rend und mit viel Gespür für Klang­sinn dem Text von Kup­fer gerecht wer­den: “Gro­ßes, das ins Herz gedrun­gen, blüht dann neu und schön empor, hat ein Geist sich auf­ge­schwun­gen, hallt ihm stets ein Geis­ter­chor”. Einer der gelun­gens­ten Auf­nah­men die­ses Werks und eine schöne Krö­nung des ers­ten Teils von Wong’s Beethoven-Trilogie.
Zum Glück doch noch eine Beet­ho­ven CD! ♦

See Siang Wong (Kla­vier): Fan­ta­sia – Tri­logy 1 mit Beet­ho­ven-Kla­vier­mu­sik, ORF Radio-Sym­pho­nie­or­ches­ter Wien, Wie­ner Sing­ver­ein, Leo Huss­ain (Diri­gent), Audio-CD RCA Red Seal (Sony Music)


Mario Knöpf­ler

Geb. 1957 in St.Gallen, lang­jäh­rige Tätig­keit beim Schwei­zer Radio und Fern­se­hen als Redak­teur und Pro­du­zent, lebt in Zürich

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema Beet­ho­ven auch über den Musik-Kalen­der 2020: Beet­ho­ven und ich

… sowie über Bernd Strem­mel: Beet­ho­ven-Inter­pre­ta­tio­nen auf Tonträgern


 

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