Bernd Stremmel: Beethoven-Interpretationen auf Tonträgern

Schall-Aufzeichnungen eines Titanen-Werks

von Chris­tian Busch

Als Lud­wig van Beet­ho­ven am 26. März 1827 in Wien im Alter von nicht ein­mal 57 Jah­ren starb, hin­ter­liess er ein umfang­rei­ches kom­po­si­to­ri­sches Werk von gewal­ti­ger Spreng­kraft und berü­cken­der Schön­heit – und daher eine grosse trau­ernde Fan-Gemeinde – mehr als 20’000 Men­schen sol­len den Trau­er­zug bei sei­ner Bestat­tung gebil­det haben.
Seine Sym­pho­nien, Kon­zerte und Sona­ten, seine Kam­mer­mu­sik, sein “Fide­lio” und seine Missa solem­nis sichern ihm bis heute den Ruf des unum­strit­te­nen Voll­enders der Wie­ner Klas­sik und einen unan­tast­ba­ren Platz an der Spitze des unver­gäng­li­chen Erbes der Musik­ge­schichte. Wahr­heit und Schön­heit, Revo­lu­tion und Har­mo­nie waren die Ele­mente, die er kon­ge­nial in Töne goss, die “von Her­zen” kom­mend auch heute immer noch “zu Her­zen” gehen und in der Ver­to­nung von Schil­lers Ode “An die Freude” (“Alle Men­schen wer­den Brü­der”) kulminieren.

Bernd Stremmel - Beethoven-Interpretationen auf Tonträgern (Band 1) - Klassik Prisma - Glarean MagazinVon kei­nem gerin­ge­ren als Wil­helm Furtwäng­ler stammt das fol­gende Zitat: “Beet­ho­ven begreift in sich die ganze, runde, kom­plexe Men­schen­na­tur. […] Nie­mals hat ein Musi­ker von der Har­mo­nie der Sphä­ren, dem Zusam­men­klang der Got­tes­na­tur mehr gewusst und mehr erlebt als Beet­ho­ven.” Dass der Schöp­fer der “Mond­schein­so­nate” und der Europa-Hymne Zeit sei­nes Lebens ein in sich und in seine Arbeit ver­gra­be­ner, ein­sa­mer, im Umgang mit Men­schen äus­serst schwie­ri­ger Ein­zel­gän­ger und gegen Ende auch noch völ­lig taub war, hat die Fas­zi­na­tion Beet­ho­ven eher gestei­gert denn geschmälert.

Die “Berliner” am Beginn der Schallaufzeichnungen

Arthur Nikisch und den Ber­li­ner Phil­har­mo­ni­kern war es 1913 – also fast 90 Jahre nach dem Tod des Meis­ters – vor­be­hal­ten, die erste Schall­auf­zeich­nung (damals noch im Trich­ter­ver­fah­ren) eines Wer­kes des gros­sen Bon­ner Kom­po­nis­ten zu rea­li­sie­ren: die Sym­pho­nie Nr. 5 in c-moll. Damit beginnt die Geschichte der Schall­auf­zeich­nun­gen, die über das alte Gram­mo­phon zur Schall­platte (heute Vinyl genannt) bis zur digi­ta­len Com­pact Disc und der vir­tu­el­len Down­load-Gemeinde des heu­ti­gen Inter­nets führt.
Fast zu spät, aber längst Zeit also für eine kri­ti­sche, all­um­fas­sende Sich­tung und Bestands­auf­nahme der Inter­pre­ta­ti­ons­ge­schichte der Schöp­fun­gen Beet­ho­vens, könnte man mei­nen, denn in über 100 Jah­ren Rund­funk- und Schall­plat­ten­ge­schichte figu­rie­ren unzäh­lige Auf­füh­run­gen und Ein­spie­lun­gen, im Kon­zert­saal, im Stu­dio oder sogar in Kir­chen mit mit­un­ter gänz­lich ver­schie­de­nen Ansich­ten und Auf­fas­sun­gen. Ein aller­dings unmög­li­ches Unter­fan­gen, so könnte man meinen.

Nahezu komplette Auflistung aller Beethoven-Einspielungen

Doch das Wun­der ist gesche­hen. Was fin­dige (oder ein­ge­weihte) User in den letz­ten Jah­ren auf der Inter­net­seite Klas­sik-Prisma schon im Ent­ste­hungs­pro­zess ent­de­cken, bestau­nen und nut­zen konn­ten, ist jetzt in Buch­form im Dohr-Ver­lag erschie­nen – eine nahezu kom­plette Auf­lis­tung, Sich­tung, Bespre­chung und Ein­ord­nung der im Ver­lauf von über 80 Jah­ren Auf­füh­rungs­ge­schichte ent­stan­de­nen Inter­pre­ta­tio­nen der Beethoven’schen Werke. Das ist schon an sich eine Sensation.
In die­sen zwei Bän­den, von denen der erste sich der Orches­ter- und Vokal­mu­sik, der zweite dem Kla­vier­werk und der Kam­mer­mu­sik Beet­ho­vens wid­met, stellt Bernd Strem­mel (Jahr­gang 1949) die Werke zunächst ein­lei­tend vor, wobei er auf ihre beson­dere Gestal­tung ein­geht und die nicht zuletzt am Noten­text fest­zu­ma­chen­den Ver­gleichs­aspekte (Werk­treue als obers­tes Kri­te­rium) her­aus­stellt, bevor er zu den hier­ar­chisch nach Qua­li­tät geord­ne­ten, ver­schie­de­nen Auf­nah­men, die eben­falls mit kom­men­tie­ren­den Noti­zen ver­se­hen sind, kommt. Abschlies­send kom­men­tiert er – nie­mals pla­ka­tiv pro­vo­zie­rend, son­dern immer ziel­füh­rend, sach­lich-beschrei­bend die unter­schied­li­chen Ein­spie­lun­gen der Diri­gen­ten, von denen häu­fig meh­rere Ein­spie­lun­gen aus unter­schied­li­chen Zei­ten und mit wech­seln­den Orches­tern vorliegen.

Ein Meilenstein in der Musikgeschichte

Spielte als erster Beethovens Fünfte auf Tonträger ein: Dirigent Arthur Nikisch mit den Berliner Philharmonikern 1913
Spielte als ers­ter Beet­ho­vens Fünfte auf Ton­trä­ger ein: Diri­gent Arthur Nikisch mit den Ber­li­ner Phil­har­mo­ni­kern 1913

Ein Mei­len­stein in der Musik­ge­schichte – glei­cher­mas­sen für Musik­wis­sen­schaft­ler, Musi­ker, Laien und Lieb­ha­ber, bie­ten Strem­mels Aus­füh­run­gen, die äus­serst objek­ti­vierte Sub­jek­ti­vi­tät aus­zeich­net, doch die grund­le­gende Basis für den kon­tro­ver­sen Mei­nungs­aus­tausch bei der Suche nach der “bes­ten”, “gelun­gens­ten”, “inter­es­san­tes­ten” oder ein­fach “wahr­haf­tigs­ten” Inter­pre­ta­tion. Vor allem aber macht der Klas­sik-Lieb­ha­ber unglaub­li­che Ent­de­ckun­gen. Wer wäre heute bei­spiels­weise – ohne Strem­mels Hin­weise – bei der Suche nach der bes­ten “Eroica” auf die Idee gekom­men, sich Carl Schu­richts bei EMI ver­öf­fent­lichte Auf­nahme von 1957 mit dem Pari­ser Orchestre de la Société des Con­certs du Con­ser­va­toire anzu­hö­ren? Viel­leicht hätte da jemand sein Leben lang ver­geb­lich dar­auf gewar­tet, dass ihm – im wahrs­ten Sinne des Wor­tes – “die Ohren abfallen”.

Entdeckung verschollener Aufnahmen aus den 1940er Jahren

Seit Nikisch, Tos­ca­nini und Furtwäng­ler hat die Beet­ho­ven-Rezep­tion eine lange Geschichte durch­ge­macht, die bis zu den his­to­risch-infor­mier­ten Inter­pre­ten, die sei­nen Metro­nom-Anga­ben fol­gen und auf Instru­men­ten sei­ner Zeit spie­len las­sen um einen mög­lichst authen­tisch-ori­gi­na­len Klang zu errei­chen, reicht. Waren die Alten bes­ser? Ent­fernt sich die jün­gere Gene­ra­tion im modern-par­fü­mier­ten Jet-Set- und Selbst­dar­stel­lungs­be­trieb von den Ursprün­gen, dem wah­ren, unver­än­der­li­chen Kern des Beethoven’schen Kos­mos? Ist Chris­tian Thie­le­manns Beet­ho­ven-Zyklus mit den Wie­ner Phil­har­mo­ni­kern wirk­lich “neu” und ein bahn- und weg­wei­sen­der Zyklus für das 21. Jahr­hun­dert? Wel­che von den vier (!) Gesamt­ein­spie­lun­gen Kara­jans, drei davon mit den Ber­li­ner Phil­har­mo­ni­kern, ist die beste – klang­tech­nisch, aber auch inter­pre­ta­to­risch? Wel­che “Neunte” ist denn nun der Weis­heit letz­ter Schluss? Sind es tat­säch­lich die gros­sen Pia­nis­ten im Ram­pen­licht, denen Beet­ho­vens Kla­vier­so­na­ten am bes­ten gelun­gen sind, die das Wesen Beet­ho­vens am genau­es­ten ergrün­det und wie­der­ge­ge­ben haben? Und so ganz neben­bei: Was ist eigent­lich das Wesen der “Appas­sio­nata”? Fin­den sich auch bei weni­ger bekann­ten Plat­ten­fir­men oder in den Archi­ven der Rund­funk­an­stal­ten inter­es­sante, bis­her über­se­hene Kost­bar­kei­ten? Oder ein­fach: Ist die neu­este Auf­nahme eines Wer­kes auch die beste? Und nicht zuletzt bie­tet Strem­mels Nach­schla­ge­werk der jun­gen Gene­ra­tion eine fas­zi­nie­rende Anlei­tung für die Ent­de­ckung der fast unbe­kann­ten und ver­schol­le­nen Auf­nah­men aus den 40er und 50-er Jahren!

Tonträger-Analysen mit differenzierendem Sachverstand

FAZIT: Bernd Strem­mel klas­si­fi­ziert in sei­nem Kom­pen­dium “Beet­ho­ven-Inter­pre­ta­tio­nen auf Ton­trä­gern im Ver­gleich” in ver­dienst­vol­ler, sorg­fäl­ti­ger und kom­pe­ten­ter Weise Beet­ho­vens Oeu­vre, seine Inter­pre­ten und Inter­pre­ta­tio­nen. Die Ver­öf­fent­li­chung in zwei Bän­den stellt eine unglaub­lich akri­bi­sche Leis­tung und einen uner­schöpf­li­chen Fun­dus zur Ori­en­tie­rung und zu vie­len Anre­gun­gen für Ver­glei­che für den Klas­sik-Lieb­ha­ber dar. “Das Unzu­läng­li­che, hier wird’s Ereig­nis; Das Unbe­schreib­li­che, hier ist’s getan.” Bleibt zu hof­fen, dass noch wei­tere Bände die­sem Mei­len­stein fol­gen werden.

Wer zwi­schen ideo­lo­gisch ver­här­te­ten Fron­ten oder zwi­schen von Vor­ur­tei­len und per­sön­li­chen Affi­ni­tä­ten gepräg­ten Lagern gespal­ten ist (so man­che Dis­kus­sion in den vir­tu­el­len Klas­sik­fo­ren, aber auch in den noblen Foy­ers der Kon­zert­sä­len endete mit Ver­stim­mung), fin­det Ori­en­tie­rung und Klar­heit hier, denn Strem­mel ana­ly­siert mit gros­sem, immer dif­fe­ren­zie­ren­dem Sach­ver­stand und respekt­vol­ler Distanz. Seine Ergeb­nisse fus­sen auf Jahr­zehnte lan­ger, akri­bi­scher Recher­che und Samm­ler­tä­tig­keit, hören­der und ver­glei­chen­der Ana­lyse, hin­ter der eines nie ver­lo­ren geht: die Liebe zur Beethoven’schen Musik. Dass Geschmä­cker ver­schie­den sind, weiss natür­lich auch Strem­mel und bleibt davon gänz­lich unbe­rührt. Inso­fern ist die Lek­türe nie­mals ein­engend dog­ma­tisch, son­dern immer infor­ma­tiv-erhel­lend, bie­tet weni­ger end­gül­tige Wahr­hei­ten als immer neue Her­aus­for­de­run­gen, Sicht­wei­sen und Mate­rial für die eigene Mei­nungs­bil­dung. Da würde sich wohl selbst Beet­ho­ven zufrie­den schmun­zelnd in nebu­lö­ses, andeu­tungs­vol­les Schwei­gen zurücklehnen… ♦

Bernd Strem­mel (Klas­sik-Prisma): Beet­ho­ven-Inter­pre­ta­tio­nen auf Ton­trä­gern im Ver­gleich (Band 1), 536 Sei­ten, Dohr Ver­lag, ISBN 978-3868461374

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