Inhaltsverzeichnis
Was mit der Schweizer Literatur nicht stimmt
von Dominik Riedo
“Literatur setzt sich nur aus scheinbaren Kleinigkeiten zusammen. Scheinbaren – weil das kleinste Detail stets mitentscheidet.”
Karlheinz Deschner
Ich verstehe es einfach nicht. So einfach ist es. Klar: Die Verkaufszahlen sprechen für sich (und zwar tatsächlich, auch in meinem Sinne; siehe unten), und wer beim Lesen glücklich ist, immerhin, dem ist dies an sich Wertung genug. –
Trotzdem verstehe ich es nicht. Denn ich habe im Studium unter Professor von Matt an der Universität Zürich gelernt, dass man gute Literatur durchaus von schlechter unterscheiden kann, und dass ausgebildete Germanisten das durchaus auch können sollten. Und drum wohl kann ich es nicht verstehen.
Worum es geht? “Goldene Jahre”, das neue Buch von Arno Camenisch (*1978 in Tavanasa), erschienen im Mai dieses Jahres 2020, stand – wie man der Webseite des Schriftstellers entnehmen kann – wochenlang in den Bestsellerlisten. Es muss sich gut verkauft haben. Vor allem aber war es, als ich es kaufte, für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert, eines von zwanzig Büchern im gesamten deutschen Sprachraum.
Zweiter Frühling zweier Damen
Weil Juroren solcher Preise in der Regel durchaus sachgerecht beurteilen können, dachte ich mir ganz ohne Hintergedanken, ich könnte mir da wieder einmal ein Buch eines Mitautors gönnen, das ich gerne lese werde, wie etwa Daniel Kehlmanns Bücher, die sich ja ebenfalls gut verkaufen und deren Autor auch viele Preise bekommen hat.
Doch was für eine Enttäuschung! Klar, das Buch hat einen griffigen Titel und kommt sogar, anders als man es auf den ersten, vereinfachten Blick erwarten würde, nicht in einem goldenen Kleid daher. Der eher leuchtend grasgrüne Umschlag steht damit geschickt vielmehr für den Frühling als für die späten Jahre des Frauenduos, um das sich in “Goldene Jahre” alles dreht. Erleben doch die beiden Damen durch das Erzählen, so könnte man sich denken, eine Art zweiten Frühling, und ganz sicher spielt das Buch im Frühling. Nur nicht allzu offensichtlich daherkommen, das unterscheidet Literatur manchmal lohnenswerter Weise vom Journalismus. So denke ich mir zu Beginn auch nichts über die Situation, in der die beiden Frauen im Buch quasi berichten. Es wird sich dann schon noch klären, denke ich, welche dialogische oder erzählerische Situation hier vorliegt.
Gestelzt-unglaubwürdige Sprache

Aber dazu gleich vorneweg: Die Leserin oder der Leser wird sich bis zum Ende fragen müssen, wenn sie/er sich das fragen will, an wen die beiden Frauen sich hier eigentlich wenden: Es ist kein auf ein Speichermedium gesprochener Brief, kein Bericht einer Radio- oder Fernsehanstalt und sie filmen sich auch nicht selbst zur Erinnerung. Sie erzählen einfach füreinander (nur “einander” kann ich nicht gut sagen, spricht doch etwa Margrit am Anfang ins Leere hinaus, ohne dass Rosa-Maria schon direkt bei ihr wäre). Und da war es bei mir als Leser schon so weit, dass ich mehr als stutzte: Wenn man sich derart lange kennt wie die beiden Protagonistinnen, und wenn man zusammen seit 51 Jahren einen Kiosk führt, dann beginnt man doch nicht aus dem Nichts heraus folgendermassen zum Gegenüber zu reden: “Eine Freude ist das, wie schön sie leuchtet, sie lächelt, da geht einem grad das Herz auf, wenn wir am Morgen die gelbe Leuchtreklame einschalten, in aller Herrgottsfrühe, wenn noch die letzten Sterne am Himmel sind.”
Abgesehen davon, dass einem wohl nach 51 Jahren im selben Job, so gerne man ihn tut, nicht mehr jeden Tag das Herz aufgeht über dieser Tätigkeit, so falsch ist es, wenn der Autor hier die eine Figur zur anderen – obwohl die in dem Moment wie gesagt nicht mal dort steht – sagen lässt, dass die Leuchtreklame gelb ist. Das wüsste die doch schon lange! Man sagt auf der Baustelle auch nicht: “Gib mir mal den gelben Meter”. Die Farbe ist hierbei total unwichtig (ausser es läge ein anderer roter daneben). Ebenso wüsste ihr Gegenüber im Buch wohl, dass sie dies jeweils sehr früh am Morgen tun und dass dann, zumindest in dem betreffenden Monat, die Sterne teilweise noch am Himmel stehen (und für das ganze Jahr gesehen wäre dies zudem schlicht falsch). Oder noch anders gesagt: Keine alte Kollegin spricht so gestelzt zu ihrer alten Kollegin.
Falsche Erzählsituationen
Nun könnte man einwenden, es sei nicht ganz sicher, ob beziehungsweise was da alles gesprochen werde, denn das “sie lächelt” spricht sie kaum aus; sie könnte sich das also bloss bei sich denken. Doch da verteidigt mich der nächste Satz: “Und bald wird es hell, sagt sie”. Sie spricht also wirklich; aber eben: Im ganzen Text kann man nie herauslesen, dass sich die Frauen an einen Dritten wenden würden. Da macht es auch keinen Sinn, dass sie weiter anfügt: “Seit 1969 gibt es uns, bereits, ja, ja, im 69 ist die Leuchtreklame zum allerersten Mal angegangen, in ihrer ganzen Pracht, das ganze Tal ist aufgeleuchtet an diesem Tag, sogar von Brigels runter konnte man die Leuchtreklame sehen, wenn man oben auf der Kante stand, dort wo der steile Hang beginnt, und runterschaute, sah man das Licht auf dem Dach vom Kiosk brennen wie das ewige Liechtli in der Kirche.” Erstens ist der Vergleich mit dem ewigen Licht in der Kirche nicht gut gewählt, denn dies brennt auch in der Nacht, aber das kann man immerhin noch der Figur zuschreiben; zweitens aber: Wer braucht einer Geschäftspartnerin, die seit 51 Jahren am gleichen Ort arbeitet, die nähere Umgebung noch zu beschreiben? Es ist ihr doch klar, wo genau die betreffende Stelle in Brigels wäre, von dem man die Leuchtreklame sehen kann. Völlig blöd wird es dann, wenn die Margrit gleich darauf dialogisch zu wiederkäuen beginnt: “Ein Bijou von einer Leuchtreklame ist das, sagt die Margrit, im August 1969 ist sie das erste Mal angegangen”. In welcher denkbaren Szene, selbst wenn das Ganze für eine Dritte oder einen Dritten gesprochen wäre, sollte sie das wiederholen? – Die Erzählsituation für das ganze Buch ist schlicht falsch.
“Ein lieber feiner Kerli”

Doch war ich hier noch bereit, das einfach mal zu akzeptieren; es könnte ja sein, dass Camenisch wenigstens ein guter Beobachter der Menschen in dem Bündner Tal, der Surselva, wäre. Aber das musste ich mir ebenso gleich aus dem Kopf schlagen, folgt doch Plattitüde auf Plattitüde. Dass sie bereits 51 Jahre an ihrem Kiosk arbeiten, will die Rosa-Maria gar nicht recht glauben, es komme ihr vor, und hier also die Plattitüde, “als seien wir doch erst gerade gestartet”. Huch, man sieht regelrecht das erstaunte Gesicht über dem abgelebten halben Jahrhundert. Hier stellte sich mir dann eben die Frage: Will der Autor eigentlich einfache Menschen darstellen oder eher tiefsinnige? Wären sie tiefsinnig, würden sie sich bestimmt nicht derart simpel und ohne weitere Gedanken über die Jahre wundern. Wären sie aber einfache Büezer, so reden sie nicht entsprechend.
Tatsächlich sind die Plattitüden wohl auch eher die des Autors. Wird doch im Folgenden dann fast jeder Mann, dem die beiden in der Zeit als Kiosk-Frauen begegnet sind, “ein feiner Bursche”, “ein lieber Kerl” o. Ä. genannt, so oft, dass es auch nicht mehr ein bestimmtes Wesensmerkmal sein kann, vor allem, da beide Frauen das eine oder andere Mal diese Beschreibung wählen (was traut der Autor diesen Frauen eigentlich alles nicht zu?). Der Astronaut Collins: “der liebe Kerli”; der Radrennfahrer Eddy Merckx: “ein feiner Bursche”; Hugo Koblet (dessen Rennen aber eigentlich vor ihrer Zeit sich abspielten): “ein Hübscher”; sogar der Glasaugen-Columbo aus der TV-Serie ist “charmant” (und ausgerechnet bei dem sagt die Margrit: “Wenn der hier an unserem schönen Kiosk mit Zapfsäule mit seinem Cabriolet angefahren gekommen wäre, ich weiss nicht, was dann passiert wäre”; als würden sich Frauen nur die ‹Charmanten› auswählen, nicht etwa jene, die richtig sexy sind; ob da einer ein völlig falsches Frauenbild hat?); Roger Moore ist ebenfalls “ein feiner Kerl”; und auch der Ludovic ist – na: was? – “ein feiner Kerl”.
Von dreirädrigen Autos

Ähnlich platt oder falsch die Vergleiche, wie schon beim ewigen Licht: “Das ist wie ein Auto mit drei Rädern” – gerade die beiden Geschäftspartnerinnen am Kiosk mit Tankstelle seit 1969 sollten wissen, dass es dreirädrige Autos gab und gibt – bis in die 1970er-Jahre hinein war zum Beispiel die BMW Isetta noch oft im Strassenbild zu sehen. Die beiden Frauen aber wollen bloss wissen, dass es in Italien solche Modelle gibt, ohne genauere Kenntnis. Da spielt es im Sinne des Autors auch keine Rolle, dass eine Dreierbeziehung, von der die beiden Frauen reden, als eine solche “über Kreuz” bezeichnet wird. Eine Liebe ‹übers Kreuz› müsste wohl eher vier Parteien haben, nicht drei.
So verpasst Camenisch auch zuverlässig die Orte, an denen er punkten könnte, etwa seine beiden weiblichen Hauptpersonen betreffend. Klar sagt Margrit einmal, sie wären Exoten gewesen, aber nicht etwa dafür, 1969 als Frauenzweierteam ein Geschäft eröffnet zu haben, sondern für eine Banalität: “Man stelle sich vor, ein Kiosk, sagt die Margrit, und gleich dazu noch eine Zapfsäule, und das im Jahr 1969, das war revolutionär, Exoten waren wir”. Waren doch damals, als die Autobenzintanks noch kleiner waren und der Kilometerverbrauch grösser, die Zapfsäulen an den Strassen in den Schweizer Alpen keine Seltenheit. Und weil man als Besitzer oder Angestellter nicht im Kalten oder im Regen warten konnte, baute man eben einen kleinen Laden oder Kiosk dazu. Sie aber, die beiden Frauen, die gerade sagten, sie seien Exoten gewesen, etwas, was es selten gab, meinen dann noch, dass sie “eine Epoche […] geprägt [hätten] mit unserem Kiosk mit Leuchtreklame, das muss uns jemand zuerst mal nachmachen.” – Ja, genau: Das gezielte Nachmachen anderer, also das Vorbild-Sein wäre eben gerade die Definition davon, wie man eine Epoche prägt! Hingegen wären sie dann wiederum keine Exoten. Man kann es drehen und wenden wie man will: Es ist schlicht falsch.
Schlechte Roman-Recherchen
Aber um nochmals auf das zurückzukommen, was Margrit und Rosa-Maria zueinander nach 51 Jahren reden. Meint doch die Margrit zu ihrer Kollegin, mit der sie über ein halbes Jahrhundert dort gearbeitet hat: “Dafür ist der Service top, sagt die Maria, also wer hier tankt, bekommt für einen kleinen Aufpreis auch gleich noch einen Kaffee, den haben wir immer parat”. Ach so, möchte man im Namen der Kollegin sagen, ich weiss: Ich bin seit 51 Jahren mit dabei! Aber Rosa-Maria scheint die Demenz zu haben: “Ausser Kerosin gibt es hier alles, und sobald die Pistole im Tank steckt und die gute Zapfsäule den Most hochpumpt, gehen die Zahlen auf der Anzeige durch und zählen dir auf den Rappen genau, wie viel jemand schon wieder getankt hat.” Nicht wahr? Ich weiss! Aber es endet keineswegs dort: “Den Kaffee gibt’s, wie bereits gesagt, obendrauf, der ist gratuit”. Nicht wahr?! (Ausser dass er zuvor noch “einen kleinen Aufpreis” kostete!)
Wirklichkeit falsch wiedergegeben

Je nun, wir aber sind weiter beim Autor Camenisch, der sich offensichtlich auch nicht gut informiert über Themen, die er nicht kennt. So meint er etwa, bei einer Tour de Suisse sollte an allen Orten, die befahren würden und heikel sind, die Strassen vorher neu geteert werden; man wolle doch die Fahrer nicht gefährden. Dabei ist das so nicht der Fall; im Gegenteil: Oft werden Strecken ausgewählt, auf denen der Belag im Rang etwas ausmachen kann, bei dem also fahrerisches Geschick gefragt ist. Zudem soll bei Camenisch die Tour de Suisse nur ein einziges Mal in der Surselva vorbeigekommen sein, wenn man doch leicht nachschauen kann, dass dies seit 1969 mehrmals der Fall war.
Dem Autor aber scheint so etwas egal zu sein; in einem Interview wundert er sich sogar, dass es das Fruchtbonbon ‹Sanagol›, das 2020 im Buch noch gelutscht wird, seit 2002 nicht mehr gibt. Da ist dann auch das Lob der NZZ ein leeres, wenn sie schreibt, der Autor halte in seinen Büchern getreu fest, welche Welten alles verschwänden: Wer diese so total falsch darstellt, tut den verschwundenen Welten keinen Gefallen, sondern lässt sie eher noch mehr verschwinden, weil man sich ihrer nach der Lektüre vermutlich falsch erinnert (und es wäre ein Leichtes gewesen, die Fruchtbonbons nur bis ins Jahr 2002 zu erwähnen).
“Leg dich nicht mit den Sternen an”

Da erstaunt es dann schon nicht mehr, dass der Autor selbst innerhalb der Geschichten Unlogisches berichtet: Einerseits schauen die beiden Damen immer in die Unterhaltungsmagazine, die bei ihnen ausliegen. Und zwar quer durchs Sortiment. Sie sind stolz drauf, vieles anzubieten und selbst zu kennen. Und dennoch wissen sie nicht, was ein Elektrovelo ist, ja, dass es überhaupt existiert, als das erste Mal eine ganze Gruppe älterer Damen damit an ihnen vorbeirauscht – also nicht etwa Exoten, sondern zu einem Zeitpunkt, als das eBike schon gang und gäbe gewesen sein musste (eine Gruppe älterer Damen).
Da mag es den meisten Leserinnen und Lesern schon gar nicht mehr auffallen, dass sich der Autor an einer Stelle, Seite 69, eigentlich endgültig selbst erledigt: “Schau dir den Galileo an, als der behauptete, die Welt sei eine Kugel und nicht eine Scheibe, hätte man ihm am liebsten die Zunge rausgeschnitten. Ja, mit den Sternen sollte man sich nicht anlegen.” –
Hat der Mensch denn keine Bildung? Dass die Welt eine Kugel ist, wusste man seit der Antike. Galileo hat lediglich das Kopernikanische Weltbild verteidigen wollen, dass die Erde sich um die Sonne drehe und nicht umgekehrt. Da hätte dann der zweite Satz von den Sternen auch Sinn gemacht – nicht aber auf die Flacherde bezogen! Und nochmals: Klar könnte das den Figuren absichtlich in den Mund gelegt worden sein. Aber dann traut der Autor den beiden Frauen wirklich nichts zu – und vor allem glaube ich das bei all den anderen Fehlern einfach nicht.
“Winter lang wie Autobahnen”

Ach, danach quälte ich mich durchs Buch. Mal sind “Winter lang wie Autobahnen” – also ein Zeitmass wird durch ein Längenmass ausgedrückt. Klar könnte das eben einer Figur geschuldet sein; aber es hiesse den beiden Frauen als Erzähler echt nicht viel zuzutrauen, wenn man sie wirklich alle die Banalitäten und falschen Vergleiche sagen liesse, durch die sie wie etwas dümmliche Menschen herüberkommen. Oder sollte das sogar das Ziel sein?
Denn meine Frage nach der Erzählsituation wird in der Mitte des Buches definitiv gelöst. Da kommt die Margrit “mit einer Blechbüchse in der Hand aus dem Kiosk, schau dir dieses schöne Foto an”. Sie zeigt es daraufhin Rosa – und nur Rosa. Also wird wirklich nicht nach aussen berichtet, sondern es spricht eine Frau zur anderen. Doch kann man an dieser Stelle eine Demenz auch ausschliessen: Zu gut erinnern sich beide an die 51 Jahre. Warum aber dann das Foto zeigen, als der Kiosk im Schnee versank? Erinnern sich doch beide ungefragt daran: “Als hätten die Heiligen uns den schönen Kiosk weggezaubert, sagt die Rosa-Maria.” Und: “Da haben wir schon noch gestaunt, sagt die Margrit, als wir am Morgen über die Brücke kamen”. Kann man sich diesen Dialog zwischen zwei Kolleginnen vorstellen, die seit 51 Jahren jeden Tag nebeneinander arbeiten und alles miteinander erleben?
Ach, wie soll man danach zu Ende lesen… Ich habe noch Klischees rausgesucht. Und man sage mir nicht, dass dies alles Wahrheiten sein könnten; natürlich können sie das; aber in dieser Masse sind es eben wirklich nur noch Klischees: Da kauft der Pfarrer Sexhefte; da nehmen die beiden Frauen keine Tausendernoten an; da leidet der Kiosk an einer Umfahrungsstrasse, wodurch die Kundschaft wegbleibt (aber andererseits seien sie die Zentrale des Dorfes!); der Fotograf aus dem Städtli hat ein Glasauge (haha); Rosa-Maria trägt eine Brille mit Goldrand; seit den neunziger Jahren gibt es keine richtigen Winter mehr; und obwohl sie vor einer Kurve ein Schild aufstellen, passieren regelmässig Unfälle (man sieht regelrecht die komikhafte Situation in einem Trickfilm); und “wenn die Wetterfrösche in den Nachrichten sagen, dass es am nächsten Tag schneie, dann schiffet es meistens”; und selbstverständlich finden die beiden Frauen, dass Autos ohne Benzinmotor keine richtigen Autos seien.
Metaphorische Spagate voller Klischees

Aber auch das gebe ich auf und blättere durchs Buch nur noch für deutliche Fehler: Etwa, dass Camenisch im Jahr 1989 eine Kanu-Weltmeisterschaft in Tavanasa stattfinden lässt. Nein! Es waren die Junioren da, und das fand 1990 statt. Klar, die beiden Frauen könnten sich im Jahr getäuscht haben, aber der Autor lässt sie auch noch sich vergewissern: “Das weiss ich noch genau, wir hatten nämlich in jenem Sommer unser 20jähriges Jubiläum. Stimmt, sagt die Margrit und nickt, zum 20Jährigen hat uns der Kosmos das beste Jahr geschenkt”. –
Ach genau, esoterisch veranlagt sind die Frauen auch noch. Warum? Weil das für Frauen typisch ist?! Aber Camenisch lässt sie ja obendrein noch glauben, dass wenn “einer mit dem Schlauch [im Auto] drin” losfahre, dann gäbe “das eine Explosion”. Und rechnen können sie als von einem Mann geschaffene Figuren in einem Roman auch nicht: “Oh, wenn man mit zwanzig anfängt, ist man einundfünfzig Jahre später knapp siebzig”!
Aber auch sprachlich greifen sie, etwa bei Metaphern, voll daneben. Also auch das mag ihnen der Autor nicht gönnen oder er merkt es selbst keineswegs: “Da haben wir bereits ziemliche Spagate gesehen vor unserem schönen Kiosk, wenn es darum ging, etwas am Preis zu schrauben.” Wie bitte? Was soll da ein Spagat sein? Sie wollen bloss etwas billiger. Nichts sonst. Bei einem metaphorischen Spagat versucht man eben mit viel Mühe, zwei gegensätzliche Positionen zu überbrücken. Hier wollen die Kunden nur etwas billiger haben, basta. Da erstaunt die fasche Verwendung von “Jet-Set” wahrlich nicht mehr: “Jet-Set, sagt die Rosa-Maria, wenn eben jemand etwas über die Stränge schlägt und von einer Party zur nächsten schwebt.” Denn: nein, mit Jet-Set ist eine bestimmte Gesellschaftsschicht gemeint. Dass die sich mehr Partys leisten können ist klar, aber nicht automatisch gemeint.
Der “Dichter des Dorfes”?
Vielleicht hätte Arno Camenisch besser daran getan, das Kiosk-Sterben als eigene persönliche Erinnerung zu deklarieren, statt zwei Frauenfiguren einzuführen, deren sich Frauen eigentlich schämen müssen. Zudem wären dann die falsch erinnerten Zeitereignisse nicht so wichtig. Und wie er sich im jetzt gedruckten Buch noch selbst einbringt, ist einfach nur peinlich. Da kommt er auf den Seiten 44 bis 47 vor als “der Sohn vom Tini”, der “Poet” (!) geworden ist, aber trotzdem “ein lieber Kerl” geblieben sei, der immer freundlich grüsst. Auf Seite 46 ist er dann der Sohn von Bernadetta, “also die Mutter vom Dichter” (!), die es, ach, “in der Tat nicht” etwa “einfach” gehabt hat. Jaja. Und Seite 71 zitiert Camenisch sich dann gleich noch selber, weil er ja “der Dichter” des Dorfes ist (obwohl er längst nicht mehr dort wohnt).
Welpenschutz bei der Literaturkritik

Als ich mit dieser Beurteilung bis hierhin gekommen bin, erfahre ich, dass Arno Camenisch nicht in die Short List des Deutschen Buchpreises aufgenommen worden ist. Ich atme etwas auf: Die Juroren sind also wie gedacht nicht völlig verblendet (wenn ich auch die Aufnahme in die Long List nach wie vor nicht verstehe – vielleicht braucht es einen bestimmten Schweiz-Anteil bei den Kandidaten; wenn aber alle am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel Ausgebildeten so schreiben, ist es mit der Schweizer Schreibkunst nicht weit her – und immerhin wird Camenisch von der Anstalt immer wieder als Musterabgänger herumgereicht, was einiges über das Literaturinstitut aussagt). Auch nicht durch die Auflagenzahlen verblendet (die man dem Buch übrigens – Autor und Verleger haben sich wahrlich gefunden – nicht entnehmen kann; der Klappentext weist übrigens bei der Inhaltsangabe ebenfalls mehrere Fehler auf; zudem übersieht der Verleger, der in Personalunion Lektor des Buches ist, solche Fehler wie “der Präsident Bahamas” [recte: der Bahamas]).
Doch spricht der Instant-Erfolg (Verkaufszahlen, Besten-Listen; Longlist) und die bereits kurz danach abnehmende Anerkennung (nicht auf der Shortlist; nicht mehr auf den Besten-Listen; angedeutete Verrisse im Berner ‹Bund› [“da steht einer in der Literaturkritik unter Welpenschutz, schreibt jedes Jahr den gleichen Roman, und keiner sagt was?”; 19.09.2020)] ja auch für sich: Der Jahrhundertroman “Ulysses” verkaufte sich in den ersten Jahren kaum, während Colin Ross einer der bestverkauften Schriftsteller in den 1920er-Jahren war. – Wer? Genau!
Unkritisches Lesen als Defekt im Leben
Bleibt für den zustimmenden Leser und die zustimmende Leserin noch das scheinbare Glück beim Lesen. Aber Achtung: Da die Sprache das entscheidende Kriterium in einem Sprachkunstwerk ist, das sogar alles andere mitenthält, ist Kitsch, also sind Klischees und ständig sich wiederholende Floskeln nicht bloss eine ästhetische Kategorie, sondern auch eine ethische, eine geschichtskritische, eine lebenskritische Kategorie. Gefühle, Bewusstseinszustände, das Denken und Handeln, ja, ein ganzes Menschendasein kann verkitscht sein.
Wer solch ein Buch wie “Goldene Jahre” von Arno Camenisch unkritisch liest und sich darüber freut, dem sitzt der Defekt letztlich im Leben. Oder der anerzieht sich einen solchen mit der Lektüre. Und das ist eigentlich ebenso schlimm wie die Verbreitung von Fake News. Dafür schäme ich mich als Schweizer Kollege.
Eine Dorfwelt ohne Dorf

Und deswegen greife ich hier auch zur metaphorischen Feder: Wenn die Kritiker solch einen Roman loben, muss man doch mal aufzeigen, was unter anderem daran alles falsch ist. Heisst es doch unter anderem über dieses Buch, der Kiosk sei in dieser Geschichte wirklich die Zentrale im Dorf. Das lässt sich aus dem Roman aber gerade nicht schliessen: In der ganzen Erzählzeit kommt kein Kunde vorbei (nur in Erinnerungen). Oder andere meinen, Camenisch sei ein “sprachgewaltiger Schriftsteller”. Sprachgewaltig? Wer auf einer halben Seite die beiden Frauen drei Mal als sich ‹schüttelnd› beschreibt! Also so: “Es schüttelt sie”; und zwei Zeilen weiter: “Die Margrit schüttelt es vor Lachen”; zwei Zeilen weiter: “es schüttelt sie” – und nein, das lässt sich definitiv nicht mehr auf die Figuren schieben.
Aber auch ein weiteres Lob stimmt da nicht: Camenisch beschreibe die Dorfwelt eines Dorfes der Surselva wie kaum einer: Dabei kommt das Dorf praktisch nicht vor; der Kiosk steht wie in einer leeren Welt. Aber selbst von der Kiosk-Welt, von der überall gelobt wird, der Autor zeige ihr Verschwinden auf, spürt und liest man kaum etwas: Es ist, als wären in diesen 51 Jahren keine Änderungen aufgetreten. Man findet nichts davon, dass heute die Lotterie-Auswertungen digital ablaufen, nichts davon, dass heutzutage wirkliche Kiosk-Besitzer oft klagen, dass sie für Paketdienste die ganzen Pakete zurücknehmen müssen, obwohl an den meisten Orten dazu der Platz fehlt. So steht denn bei den über 70-Jährigen Kioskbesitzerinnen auch nichts und nie etwas von Krankheiten, die sie hindern würden, die harten Schichten durchzustehen.
Was stimmt nicht mit der Schweizer Literatur?
Am Ende beschleicht einen echt das Gefühl: Da hat einer einfach noch kurz was aufgeschrieben, an was er sich beim Kiosk so erinnert, also eine sehr spezifische Erinnerung einer einzelnen Person, verbrämt mit etwas Eigenlob (“Der Schnauz ist der Tiger vom Denker”, Seite 71) und mit einigen Geschichten, die wohl cool wirken sollen aber so was von unauthentisch sind, dass man nicht versteht, wie so etwas je gerne gelesen werden könnte.
Und man versteht also nicht, warum solch ein Buch sich gut verkaufen kann und noch weniger, warum es die meisten Kritiker nicht verreissen. Irgend etwas stimmt hier einfach nicht. ♦
Arno Camenisch: Goldene Jahre – Roman, 100 Seiten, Engeler Verlag, ISBN 978-3-906050-36-2
Geb. 1974 in Luzern/CH, Ausbildung zum Primarlehrer, anschliessend Studium der Germanistik und Philosophie, Promotion und Gymnasiallehrerschaft in Stans und Immensee, 2007-2009 “Kulturminister der Schweiz” mittels Internet-Wahl aus 25 Kandidaten, diverse kulturpolitische Aktivitäten, zahlreiche belletristische Publikationen in Büchern und Zeitungen, literarische und kulturelle Auszeichnungen, lebt als freier Schriftsteller in Ittigen/Bern
Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Literaturbetrieb auch von Mario Andreotti: Kunst geht nach Brot
… sowie weitere Beiträge von Schweizer Autorinnen und Autoren
An diesem Punkte scheint die Diskussion erschöpft, der Argumente sind wohl genug ausgetauscht.
Die Kommentierung hier ist damit beendet. Vielen Dank allen Kommentator(inn)en für den engagierten Diskurs!
Ich muss Herrn Neumann (siehe unten) ein bisschen recht geben: Man prügelt hier auf einen landauf, landab sehr geschätzten und auch von der Kritik gelobten Schweizer Erzähler ein – nur weil Herr Riedo meint, sich hier als Erbsenzähler in Szene setzen zu müssen. Aber meines Erachtens sieht er vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Einzelheiten sind ja gut und recht, aber hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschütttet. Wegen ein paar “kleinsten Details” (siehe Deschner-Zitat) gleich zu einem kompletten Rundum-Kahlschlag auszuholen sprengt jede literaturkritische Verhältnismässigkeit. Ich für meinen Teil bleibe ein Camenisch-Fan, und bis jetzt hätte ich auch nicht gemerkt, dass mein Leben einen “Defekt” erhalten hätte wegen meiner Camenisch-Lektüre… Da misst man m.E. der Literatur denn doch zu viel Bedeutung bei. Kurzum, Herr Riedo schiesst da m.E. weit übers Ziel hinaus. Nur meine Meinung. Eva Steiner
“Aber wir wagen es auch zu sagen, dass dem eingeschliffenen Camenisch-Muster die Überraschungskraft abgeht. / Inklusive des Bündner Dialekteinschubs, der sich EBA (haha) schon noch (nicht mehr) gut macht. / All diese Menschen wirken wie Varianten des immer Gleichen. Die Sprache ist ähnlich, der Duktus ist ähnlich, die Mentalität und das Temperament sind es auch. (Was auch heisst, dass es eigentlich immer quasi dieselbe Figur ist; die beiden Frauen in “Goldene Jahre” sind untereinander austauschbar; und man sage nicht, das ‘sei der Witz dran’! Und das meint auch, dass wenn ein Buch schlecht ist, eigentlich alle schlecht sind.) / Da heisst es dann von der Lehrerin Tante Tresa, sie sei PFIFFAGRAD (haha) gewesen, und schon auf der neunten Zeile ist von FARRUCT (hihi) guten Nachrichten die Rede. / Nur: Eine Geschichte ist das nicht.”
https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/abwarten-was-der-abwart-macht/story/28589207
Oh wow. Endlich sagt jemand mal, was schon länge gesagt werden sollte. Da schreibt Camenisch einen gleichen Roman nach dem anderen, und alle sind sie gleich schlecht. Bravo, Herr Riedo, dass Sie endlich auch mal sagen, wie es mit den Jurys hier in der Schweiz und die Kritikern aussieht! Wenn man Ihre genaue Analyse aufmerksam durchliest, ist Arno Camenisch als Schriftsteller eigentlich wirklich erledigt.
Also liebe Leute, dieses Camenisch-Bashing hier mutet schon kurios an. Will man den Schriftsteller Arno Camenisch tatsächlich “erledigt” sehen? Einen höchst produktiven Erzähler, der einen “Fan-Kreis” hat, von dem ein Dominik Riedo wohl nur träumen kann (sorry)…
Kann denn ein Autor nicht auch mal quasi ein schlechtes Buch haben, so wie wir alle zuweilen einen schlechten Tag haben? Auf einem einzigen Buch herumzureiten, ohne das ganze Werk zu würdigen, ist eher schlechter Stil, wirklich!
Sehr geehrter Herr Neumann
A) Doch, man dürfte sehr wohl ‘nur’ ein einziges Werk behandeln. Müssen denn sonst alle Rezensenten eines neuen Buches immer zuerst alle bereits erschienenen durchkauen, bevor sie zum neuen kommen?; oder soll ein Schriftsteller einen Literaturpreis erhalten für ein neues Werk, weil seine alten alle recht gut waren? (Und Sie geben also zu, dass dies ein schlechtes Buch ist: Danke!)
B) Ich behandle an sich mehr als ‘eines’: Dies Werk ist – wie ein Rezensent es formulieren wollte – Teil eines grossen Gesamtwerks des Bündnerischen, wie bei Balzac, drum dürfe Camenisch auch immer gleich schreiben und vorgehen; was aber auch heisst, dass wenn dies Werk eine Katastrophe ist, halt auch die anderen zumindest schlecht sind. Oder anders gesagt: Das soll die Krönung sein von zehn geschriebenen Romanen oder so (auf eines oder zwei drei mehr oder weniger kommt es offenbar nicht an)?
C) Ich hatte in meinem Blog (https://dominikriedo.blogspot.com) schon mal Camenisch – ein anderes Buch – kritisiert, wo er den Satz schrieb: “Der Senn sitzt am Steuer seines grauen Justys am späten Abend neben der Hütte mit dem Zwetschgenwasser in der Hand.” und fragte: Wer bitte sitzt wo und vor allem wer bitte hat das Zwetschgenwasser in der Hand? Es zeigt auf jeden Fall, dass da jemand nicht schreiben kann. Ein Zeichen dafür ist auch eine Aussage seines Mentors, der dazumal herausgelassen hat: “Arno ist ganz nah bei seinen Menschen, diesen Bergen. Nahe bei seinem Blut. Das spürt man sofort.” Eine Aussage, die sämtliche Alarmglocken schrillen lassen sollte! So ein Lob – zumindest eines Mentors – sagt auch etwas über den Schriftsteller aus.
D) Ein grosser Fankreis sagte noch nie viel. Auf Beispiele verzichte ich.
E) Mit Neid zu argumentieren ist immer billig (mehr Leser etc.); Sie verwechseln auch meine Rolle als Kritiker mit jener des Schriftstellers.
F) Ich möchte solche Bücher erledigt sehen, ohne Anführungszeichen. Sie vergiften den Buchmarkt. Oder möchte sie zumindest nicht so belobt und bepriesen sehen. Ich möchte, dass andere Kritiker genauer hinsehen.
Jetzt ist mir der Lapsus passiert, dass ich schrieb: “Teil eines grossen Gesamtwerks des Bündnerischen, wie bei Balzac”, wenn es doch heissen sollte: Teil eines grossen Gesamtwerks (wie bei Balzac) des Bündnerischen … – Aber solche Kommentare sind eben nie so durchstilisiert und korrigiert wie Bücher sein sollten. – Und ab jetzt verzichte ich wirklich auf Kommentare. Wer mag, darf mir privat schreiben oder mich als Kritiker anstellen. 😉
Ich war an einer Lesung. Und ich habe mich selten so gelangweilt. Ich erinnere mich nur, dass Herr Camenischs Text mir viel zu viele Simplizismen, Plattitüden und Helvetismen enthielt, also weder inhaltlich noch sprachlich ein Highlight war.
Die Art des Vortrags befremdete mich auch zunehmend, so ein Geraune, ein unheilschwangeres Dramatisieren, wo es überhaupt nicht hinpasste – im Grossen und Ganzen so eine künstliche Attitüde, Mich mutete sein Vortrag an, als würde er einem kindlichen Publikum ein Schauermärchen vorlesen, was aber weder zum Text noch zum Publikum passte.
Ich konnte es nicht fassen, dass das Publikum anscheinend sehr angetan war. Selten erschien mir eine Stunde so lang und langweilig. Es war einfach nur peinlich.
Sie haben eine harte Kritik formuliert, aber sie liest sich formidabel und ist auf jeden Fall fundiert. Derlei spielt heute aber leider eine geringe Rolle, ist doch die Literatur, wie auch der jüngste «Literatur-Club» bewiesen hat, zu einer einfachen Unterhaltung für noch einfachere Gemüter verkommen. Derlei lässt sich kurzfristig nicht stoppen, wohl aber wenigstens früh erkennen. In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre echte Mühe, die den Glauben daran erhält, es gäbe noch Inseln, wo Fähigkeit und Erkenntnis zusammenfallen.
Lieber Herr Riedo,
Dass ist endlich einmal ein Verriss, der sich gewaschen hat! Kein Skalpell, nicht mal das berühmte Schweizer Taschenmesser – hier wurde mit der Keule (Schweizer Granit? Alpen-Kalkstein?) herzhaft zugeschlagen!
Ich hatte jedenfalls einen Riesen-Lesespaß! (Aber natürlich auch dieses Grummeln in Hirn und Bauch, weil es so [zu] viele schlechte Bücher gibt, die hoch gelobt werden …)
Also: vielen, vielen Dank! (Sie haben das Glück, so weit entfernt zu leben – sonst wären Sie von einer alten Frau herzhaft umarmt worden!)
Auch wenn Aritstoteles den Begriff der “Wahrscheinlichkeit” in der Literatur vor allem mit dem Begriff der Notwendigkeit verquickt und von dieser Prämisse aus das Spiel von Fiktion und Realität nicht hintertreiben will, so ist doch der Bezug zur Wirklichkeit ein wichtiges Mittel ehrlicher Überzeugungskraft auch in fiktionalen Texten. Grosse Schriftsteller wie Proust oder Thomas Mann wussten sehr wohl, warum sie auch den praktisch-faktischen Realitätsgehalt ihrer Texte immer wieder genau überprüften. Er ist gerade im Zeitalter der Fake-News von unschätzbarem Wert. Will sagen: Arno Camenisch, der ja gut erzählt und auch symparthisch auftritt, könnte viel Optimierungspotenzial gewinnen, wenn er Dominik Riedos kluge Bemerkungen sich zu Herzen nähme. Es geht um die Sprache unter dem Gesichtspunkt der Wirklichkeitabbildung oder -spiegelung. Das ist ja auch ihre Hauptfunktion; die Orthografie ist von da her nur ihre graphische Übermittlungskonvention, nicht die Sprache selber. Ohnehin: Wem passieren nicht zuweilen Tippfehler?!
Daniel Annen, Schwyz
Also eigentlich gibt es da nicht mehr viel zu sagen. Arno Camenisch müsste damit bei Jurys und Gremien vollkommen untendurch sein. Vielleicht nimmt er es als Chance, das nächste Mal einen besseren Roman zu schreiben. Gratuliere, Herr Riedo, ein unglaublich guter Text und eine vorbildliche Analyse.
„(…)dass sie für Paketdienste die ganzen Pakte zurücknehmen müssen, obwohl an den meisten Orten dazu der Platz fehlt.”
Was meinen Sie da, vermutlich „die ganzen Pak[e]te”?
Wollte nur mal gefragt haben, da ich es mit der Sprache genau nehme.
Es geht ja so viel durch heute, vor allem im Netz, was überhaupt nicht mehr Korrektur gelesen wird und jedem Sinn, Verstand oder Empathievermögen entbehrt.
Schön, liebe Frau, dass Sie lesen und rechnen können.
Aber eines winzigen Tippfehlers wegen würde ich solche grossen Worte wie “Sinn”, “Verstand” oder “Empathie” nicht in den Mund nehmen 😉
Davon abgesehen halten wir’s wie alle Medien: Wer einen Tippfehler findet, darf ihn behalten 🙂
Der Korrektor
PS: Trotzdem danke für den Hinweis – ist inzwischen korrigiert.
Wenn Sie es schon genau nehmen wollen, so verlangt “entbehren” in dieser Verwendung den Genitiv. Und das ist im Gegensatz zu Herrn Riedos “Pakten” kein blosser Vertipper.
Ich wollte eigentlich nicht mehr antworten (ich habe es mir zur Regel gemacht, nur einen Tag lang in solchen Foren zu antworten, weil ich ja als freischaffender Mensch nicht die Zeit habe, noch nach Tagen immer wieder mich mit denselben Sächelchen zu beschäftigen. Aber a) ist das hier ja eine an sich wirklich wichtigere Sache [eben: weil offenbar die meisten Kritiker entweder nicht lesen – oft haben sie die Zeit auch nicht mehr -; oder abschreiben, was der Kollege/die Kollegin vor ihnen geschrieben hat. Niemand hat so eine genaue Analyse gemacht wie ich, höchstens noch mein Kollege hier: https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=27213, der zeigt, dass Camenischs Mundarteinsprengsel bei den Figuren nicht charakterformend angewendet werden, sondern nur mal so hier und da eingestreut werden] und b) muss ich mal grundsätzlich etwas sagen, was logisch sein sollte, aber oft so vorkommt:) Da finden Sie also EINEN TIPPFEHLER, und meinen dann, mich eventuell widerlegt zu haben?! Während Camenisch nicht mal den Unterschied zwischen Flacherdenwiderlegern und den Verteidigern des Heliozentrischen Weltbildes kennt bzw. sich wenigstens die Mühe macht, das nachzuschauen! Und er macht all die anderen Fehler – notabene in einem Buch, das mehrmals Korrektur gelesen werden sollte, was bei einer Website einfach kaum geleistet werden kann, von den Ressourcen her … Also dann: Na Prost Abendland – das es so eigentlich nie gegeben hat (zumindest kein christliches)!!
Lieber Herr Dominik Riedo
Zustimmen muss man Ihnen darin, dass hinsichtlich Sprache und Narration dieser Roman offenbar schon einen gewissen schriftstellerischen Dilettantismus seines Autors nicht verheimlichen kann. Die zahlreichen Buch-Zitate, die Sie in Ihrer Rezension anführen, dokumentieren das ja schonungslos.
Andererseits: Soll man wirklich die Bedeutung eines Buches allein an an seiner sprachlichen Qualität festmachen? Sind denn nicht die Wärme seiner Figuren, die Authenzität der Landschaftschilderungen, die Natürlichkeit eines “live” erfahrenen Regionalkolorits, das “interne” Bezugsnetz der Protagonisten, die nachvollziehbare Schilderung historischer oder auch aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse (oder auch Verhängnisse) nicht auch ganz wesentliche Parameter des “Lesevergnügens” – Parameter, die von Ihren Besprechung komplett ausgeblendet werden?
Kurzum: Ist der Blick des Germanisten wirklich der einzig wahre, oder hat der Blick des (möglicherweise unakademischen) Lesers nicht auch seine gleichberechtigte Bedeutung, wenn es gilt, die Qualität eines Romanes einzuordnen?
Gruss aus Deutschland in die Schweiz: A. Gruber
Lieber Axel G.
Ich kann Ihre Meinung schon nachvollziehen. Aber wie gesagt finde ich, dass wenn ein Buch derart falsch ist, wie das hier Rezensierte, dass es eben im Deschnerschen Sinne eine Leserin und einen Leser verdirbt.
Gerade der von Ihnen erwähnte Dilettantismus (und Schriftsteller sollten doch Profis sein, weil sonst wirklich alle schreiben könnten; ausserdem hat Camenisch ja eine Ausbildung zum Schriftsteller absolviert) öffnet Tür und Tor zu einer Unfähigkeit, je beurteilen zu können, was gute oder schlechte Literatur sei bzw. vielleicht noch wichtiger, was News und was Fake News (oder schlicht schlechter Journalismus; gerade bei der schlampigen Recherche haben wir ja bei Camenisch die Parallele).
Des Weiteren mache ich gar nicht alles am Sprachlichen fest: Die Figuren, die sich ständig wiederholen und wirklich quasi als Karikaturen von Frauen gezeichnet sind, kann man doch nicht als warm empfinden. Und betreffend Landschaftsschilderungen: Wo denn in diesem Buch finden Sie mehrere grossartige Landschaftsschilderungen, wo? Alles wiederholt sich in denselben Adjektiven und Bildern.
Und zum Lokalkolorit: Er wird gerade nicht für eine Pointe eingesetzt, wofür es sich so gut eignen würde – man sehe etwa Friedrich Glauser. Der zeichnet auch Figuren mit wenigen Mundartbegriffen präzis, während bei Camenisch einfach immer wieder ein “sep scho nid” oder “sep denn scho” zu hören/lesen bekommt.
Und wenn Historisches (Sanagol; WM) falsch dargestellt werden, dann wird da doch ein völlig falsches Bezugsnetz gezeigt (im Sinne von “Die Nacht war dunkel, der Mond schien helle.”) Dazu sagt Camenisch eben praktisch nichts von der Kioskwelt von heute.
Zum Lesevergnügen und dem darin sitzenden Defekt habe ich mich geäussert.
Zusammengafasst habe ich also nicht bloss alles sprachlich festgemacht, sondern eben als Germanist geschrieben, der auch Schriftsteller ist (obwohl hier die eine Rolle wichtiger ist, lässt sich das Gefühl der anderen nicht ganz verleugnen).
Wir müssen schon aufpassen, dass wir nicht bloss eines Lokalkolorits wegen jeden Text akzeptieren, nur weil wir diese Lokalität mögen.
Sie fragen: “Ist der Blick des Germanisten wirklich der einzig wahre, oder hat der Blick des (möglicherweise unakademischen) Lesers nicht auch seine gleichberechtigte Bedeutung, wenn es gilt, die Qualität eines Romanes einzuordnen?”
Nun, Hamburgers von McDonald’s schmecken auch vielen Menschen. Dagegen ist zunächst mal nichts einzuwenden. Bei der Frage, ob das denn nun gute Küche sei, würde man aber auch nicht auf diese Personen hören, sondern auf Leute, die von der Kulinarik etwas verstehen. Dasselbe gilt eben auch in den Künsten. Sonst wären nämlich auch Arztromane gute Literatur.
Es ist einfach so, dass man, um die Qualität eines Romanes einordnen zu können, viel mehr und unterschiedliche Literatur gelesen haben muss als der durchschnittliche, unbedarfte Leser. Der kann höchstens sagen, dass es ihm gefällt oder nicht, aber er kann es in der Regel nicht genau verorten und einordnen.
Dazu muss man nicht a priori Germanist oder Akademiker sein. Es gibt auch sehr belesene Nicht-Akademiker (wie es auch unbelesene Akademiker und sogar Germanisten gibt). Aber selbst ein fleissiger Gelegenheitsleser macht gegenüber dem Berufsleser schlichtweg den Zweiten.
Brav und toll! Ich finde den Kritiker ganz richtig und genau.
Ich möchte meine Meinung auf Englisch sagen, denn das Schreiben auf Deutsch ist für mich nicht so einfach wie das Lesen. Ja, die deutsche Grammatik!
Holding a Bestseller title does not mean so much since literature has been commercialized by businessmen who were none experts in literature and do not simply understand the value and mission of literature. It is actually very sad how wrong literature and writers could mislead the world. Literature is food for people’s minds; And wrong food would cause food-poisoning, no?! What I say is: Bestsellers are not always right and with wrong bestsellers we will have a sick society, indeed!
M. Ghorbani
Ich finde, Herr Dominik Riedo schiesst übers Ziel hinaus mit diesem brutalen Rundumschlag!!
Sind denn alle diese Kritiker hier, die teils geradezu euphorisch über Camenisch’ GOLDENE JAHRE schreiben…
https://arnocamenisch.ch/presse/goldene-jahre/
…allesamt blind?? Oder hat keiner von ihnen das Buch gelesen??
Man sollte sich nicht grösser machen, indem man die anderen klein macht, Herr Riedo…
Meine Meinung. Grüsse: A. Caduff
Sehr geehrte/r Frau/Herr Caduff
Sie verwechseln meine Position als Schriftsteller mit der als Kritiker & Germanist. Wenn sich alle Kritiker grösser machen würden, wenn sie kritisieren (und das laut Ihnen ja nicht erlaubt ist), wäre Kritik in dem Sinne gar nicht mehr erlaubt. Da wären wir dann beim berüchtigten Pressegesetz von 1937 im ‘Dritten Reich’, wonach nur ›Besprechungen‹ oder ›Würdigungen‹ noch erlaubt sein sollten, keine ›Wertungen‹.
Und nochmals ich: Camenisch verlinkt auf seiner Seite natürlich nur lobende Rezensionen (was auch nicht jede Autorin/jeder Autor so macht). Eine andere habe ich zitiert. Oder sehen Sie sich diese hier an: https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=27213. Und sowieso: Haben Sie über Fehler wie bei der Verwechslung Flacherde/Heliozentrisches Weltbild einfach hinweggelesen? Offenbar hat das sonst wirklich niemand gemerkt. Was eben auch heisst: Ich könnte durchaus richtig liegen, alle anderen falsch.
Mit gehypter Literatur (wahlweise andere Kunstform einsetzen) verhält es sich eben typischerweise so wie mit des Kaisers neuen Kleidern. Hat irgendeine einflussreiche Person im Literaturbetrieb aus irgendeinem Grund einmal einen Narren daran gefressen, wagt es niemand mehr, sich dem entgegenzustellen.
Insofern würde ich, wenn ein Kritiker das Werk mit klaren Argumenten auseinandernimmt, schon mal genau prüfen, ob nicht die grosse Masse der das Werk unisono Abfeiernden falsch liegt und der einsame Rufer in der Wüste richtig. Vielleicht sind die Euphoriker ja wirklich blind und wollen nicht sehen, dass der Kaiser nackt ist.
Danke für diese harte, ja brutale, aber zutreffende Besprechung! Auch mir scheint, dass der deutschsprachige Literaturbetrieb inzwischen schlicht alles zum Hype emporjubelt, egal welche sprachliche Qualität das Zeug hat, das da zwischen zwei Buchdeckel gepresst wurde. Hauptsache bekannter Name und ein paar pauschale mediale Lobhudeleien – fertig ist der “Verkaufsschlager”. Und von da ist es dann kein weiter Weg mehr zur Nominierung fürs Preisjassen…
Zurecht weisen Sie auch darauf hin, Herr Riedo, dass die Lese- bzw. Selektionskompetenzen breiter Buchkäufer-Kreise mehr und mehr verkümmern – anders wären die relativ hohen Verkaufszahlen solcher gehypten Titel gar nicht möglich…
Schön dass es noch Kritiker wie Sie gibt, die sich getrauen, solche unangenehmen Wahrheiten öffentlich zu machen…
Sören G.