Mario Andreotti: “Kunst geht nach Brot” (Literaturbetrieb)

… die Kunst geht nach Brot”

von Mario Andreotti

.Der etwas son­der­bare meta­pho­ri­sche Titel mei­nes heu­ti­gen Vor­trags “…die Kunst geht nach Brot” mag Sie, geschätzte Zuhö­rende1), zunächst irri­tiert haben. Gleich­wohl haben Sie natür­lich sofort gemerkt, woher der Satz stammt: aus Gott­hold Ephraim Les­sings bür­ger­li­chem Trau­er­spiel “Emi­lia Galotti” näm­lich. Es ist gleich zu Beginn des Stücks die Ant­wort des Malers Conti auf die Frage von Prinz Het­tore, was die Kunst denn mache. Les­sing ver­wen­det hier ein Sprich­wort, das schon für das 16.Jahrhundert bezeugt ist.

Auftraggeber” von Malerei, Musik und Literatur

Fra­gen wir uns kurz, was die­ses Sprich­wort denn eigent­lich aus­sagt. Etwas im Grunde Ein­fa­ches, würde ich mei­nen: Es sagt aus, dass die Kunst, also etwa Male­rei und Musik, aber auch die Lite­ra­tur so etwas wie einen ‚Auf­trag­ge­ber‘ hat. Bis zur Mitte des 18.Jahrhunderts war die­ser Auf­trag­ge­ber der Fürs­ten­hof; Intel­lek­tu­elle und Kul­tur­schaf­fende wur­den, indem die Fürs­ten ihren Lebens­un­ter­halt bestrit­ten und als ihre Mäzene auf­tra­ten, an die Höfe gebun­den, waren von ihnen abhän­gig. Fried­rich Schil­ler etwa hat diese Abhän­gig­keit auf beson­ders krasse Weise zu spü­ren bekom­men: Als er ohne Ein­wil­li­gung von Her­zog Karl Eugen der Urauf­füh­rung sei­nes ers­ten Dra­mas “Die Räu­ber” im Mann­hei­mer Natio­nal­thea­ter bei­wohnte, hat ihn das 14 Tage Arrest gekos­tet. Karl Eugen ver­bot ihm, wei­ter­hin Dra­men zu schrei­ben, was Schil­ler bekannt­lich zur Flucht über Mann­heim nach Frank­furt ver­an­lasst hat.
Seit der zwei­ten Hälfte des 18.Jahrhunderts, dem Auf­stieg des Bür­ger­tums und der Ent­ste­hung eines moder­nen Urhe­ber­rechts, ist es zuneh­mend der freie Markt mit sei­nen Vor­ga­ben, sind es die Ver­le­ger, Lek­to­ren und Lite­ra­tur­agen­ten, ist es nicht zuletzt auch die Lite­ra­tur­kri­tik, die zum Auf­trag­ge­ber der Kunst – genauer gesagt, der Lite­ra­tur – wird. Wir spre­chen dann recht eigent­lich von einem Lite­ra­tur­be­trieb. Von die­sem Lite­ra­tur­be­trieb, wie wir ihn heute ken­nen, soll in mei­nem Vor­trag die Rede sein.

Gründe für den modernen Literaturbetrieb

Literaten-Abhängigkeit von den Mächtigen&Reichen: Arrest für Schiller wegen dessen
Lite­ra­ten-Abhän­gig­keit von den Mächtigen&Reichen: Arrest für Schil­ler wegen des­sen “Räu­ber”

Das setzt, ver­ehrte Höre­rin­nen und Hörer, aller­dings vor­aus, dass wir zunächst ein wenig zurück­bli­cken in eine Zeit, da Lite­ra­tur noch kein Betrieb, das Buch noch keine Ware und die Lite­ra­tur­kri­tik noch nichts mit der Ver­mark­tung von Büchern, mit Mar­ke­ting, zu tun hatte. Dabei geht es mir nicht um Nost­al­gie, nicht um Kul­tur­pes­si­mis­mus oder gar um Unter­gangs­stim­mung. Ich möchte ledig­lich auf­zei­gen, wie die Ent­wick­lung in den letz­ten dreis­sig, vier­zig Jah­ren – der Zeit, die ich beruf­lich als Ger­ma­nist über­bli­cken kann – ver­lau­fen ist, was sich ver­än­dert hat und was den heu­ti­gen Lite­ra­tur­be­trieb ausmacht.

Unerbittlicher Verdrängungskampf auf dem Buchmarkt: Die Frankfurter Buchmesse
Uner­bitt­li­cher Ver­drän­gungs­kampf auf dem Buch­markt: Die Frank­fur­ter Buchmesse

Was gab es also und was gab es nicht, damals, in den sech­zi­ger, sieb­zi­ger und acht­zi­ger Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts, als ich auf dem Gebiet der Lite­ra­tur und des Lite­ra­tur­be­trie­bes die ers­ten Schritte machte. Es gab die Autorin­nen und Autoren, die Bücher schrie­ben, mehr Män­ner noch immer als Frauen; es gab die Ver­lage, oder, bes­ser gesagt, die Ver­le­ger, fast aus­schliess­lich Män­ner, die diese Bücher her­aus­brach­ten; es gab die Kri­ti­ke­rin­nen und Kri­ti­ker, auch hier mehr Män­ner als Frauen, wel­che die Bücher rezen­sier­ten; und es gab die Buch­hand­lun­gen oder, bes­ser gesagt, die Buch­händ­le­rin­nen und Buch­händ­ler, die dafür sorg­ten, dass die Bücher auch unter die Leute kamen. Hier waren die Frauen in der Überzahl.

Verdrängungskampf in der Buchbranche

Band 200x5
“Nicht nur das Ver­hält­nis der Geschlech­ter hat sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­än­dert; anders gewor­den sind auch der Stel­len­wert der Buch-Bran­chen und der Umgang, den sie mit­ein­an­der pflegen.”

Alles wie heute, sind Sie, ver­ehrte Anwe­sende, viel­leicht geneigt zu sagen. Aber das stimmt nicht ganz. Nicht nur das Ver­hält­nis der Geschlech­ter hat sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­än­dert; anders gewor­den sind auch der Stel­len­wert der ein­zel­nen Bran­chen und der Umgang, den sie mit­ein­an­der pfle­gen. Etwas ver­all­ge­mei­nert lässt sich sagen, dass frü­her alles etwas per­sön­li­cher als heute war und etwas gemäch­li­cher zu und her ging. Da gab es zum Bei­spiel die Frank­fur­ter Buch­messe im Herbst. Auf die­sen Ter­min hin lies­sen die Ver­lage ihre Bücher erschei­nen. Das heisst, der Herbst fand auch wirk­lich im Herbst statt und nicht schon im Juli oder August, wie dies heute der Fall ist, weil der Ver­drän­gungs­kampf auf dem Buch­markt so uner­bitt­lich gewor­den ist und jeder jedem zuvor­kom­men will. Dadurch, dass es seit eini­gen Jah­ren zwei Pro­gramme pro Jahr gibt und zwei Buch­mes­sen – die grosse im Okto­ber in Frank­furt und die andere, etwas klei­nere im März in Leip­zig und dazu noch den “Salon du livre” in Genf und die Buch­messe in Basel – hat sich diese Situa­tion wei­ter zuge­spitzt. Neue Bücher erschei­nen heute das ganze Jahr hin­durch. Die Fol­gen sind denn auch klar: Buch­händ­ler, Rezen­sen­ten und natür­lich auch die Leser sehen sich mit einer nicht abreis­sen­den Flut von Neu­erschei­nun­gen kon­fron­tiert, die sie kaum mehr zu über­bli­cken und schon gar nicht mehr zu bewäl­ti­gen vermögen.

Bedrohliche Masse von 80’000 neuen Buchtiteln jährlich

Zwei der letzten grossen Verleger-Persönlichkeiten: Siegfried Unseld (†2002) und Daniel Keel (†2011)
Zwei der letz­ten gros­sen Ver­le­ger-Per­sön­lich­kei­ten: Sieg­fried Unseld (†2002) und Daniel Keel (†2011)

Über 80‘000 neue Titel wer­den jeweils an der Buch­messe in Frank­furt vor­ge­stellt. Auch wenn man von die­ser Zahl die Koch-, Reise- und Rat­ge­ber­bü­cher, die Fach­li­te­ra­tur und die Bild­bände abzieht, bleibt immer noch eine bedroh­li­che Masse übrig, und es fällt zuneh­mend schwe­rer, mit dem nöti­gen Respekt und der nöti­gen Dif­fe­ren­ziert­heit an das ein­zelne Buch her­an­zu­ge­hen. Feuil­le­ton­re­dak­tio­nen und frei­schaf­fende Rezen­sen­ten wis­sen längst nicht mehr, wie sie sich der Bücher­flut ent­le­di­gen sol­len, die da wäh­rend des gan­zen Jah­res über sie her­ein­bricht. Sie mögen sich manch­mal nach jenen Zei­ten zurück­seh­nen, als es etwa in Zürich noch Ver­le­ger wie einen Peter Schif­ferli, den Grün­der des Arche Ver­lags, gab, der die neuen Bücher, in bun­tes Sei­den­pa­pier gewi­ckelt, jeweils eigen­hän­dig auf den Redak­tio­nen vorbeibrachte.
Das Ver­schwin­den von Ver­le­ger­per­sön­lich­kei­ten wie Peter Schif­ferli erscheint mir für die Ent­wick­lung der gan­zen Bran­che sym­pto­ma­tisch. Den meis­ten nach dem Zwei­ten Welt­krieg neu gegrün­de­ten oder nach Deutsch­land zurück­ge­kehr­ten Ver­la­gen stan­den noch bis weit in die 1970er Jahre hin­ein Per­sön­lich­kei­ten vor, die Bücher lieb­ten, etwas von Lite­ra­tur ver­stan­den, mit Autoren umzu­ge­hen wuss­ten, einen Rie­cher für junge Talente hat­ten und im güns­tigs­ten Fall auch eini­ger­mas­sen geschäfts­tüch­tig waren. Ver­lags­na­men wie Fischer, Suhr­kamp, Rowohlt, Hay­mon, Beck, Han­ser oder Dio­ge­nes waren mit solch her­aus­ra­gen­den Per­sön­lich­kei­ten ver­bun­den: mit Lieb­ha­bern, ja Beses­se­nen, die Bücher machen woll­ten, gute Bücher, erfolg­rei­che Bücher, und die des­halb ihre Autoren pfleg­ten wie Renn­stall­be­sit­zer ihre Pferde.
Mit Sieg­fried Unseld und Daniel Keel sind in den letz­ten Jah­ren zwei der letz­ten die­ses Schlags gestor­ben. Bei Han­ser gibt es seit 2013 Michael Krü­ger nicht mehr und auch Egon Ammann, der Grün­der des renom­mier­ten Ammann Ver­lags, der vor fünf Jah­ren auf­ge­löst wurde, ist von der lite­ra­ri­schen Bühne abge­tre­ten: alles Ver­le­ger­per­sön­lich­kei­ten, die den Ver­la­gen ihren ganz per­sön­li­chen Stem­pel auf­ge­drückt haben. Mit ihnen geht wohl eine Tra­di­tion zu Ende, die von der engen, bis­wei­len ein Leben über­dau­ern­den Bezie­hung zwi­schen dem Ver­le­ger und sei­nen Autoren lebte.

Manager statt Verlegerpersönlichkeiten

“Von Büchern, von Autoren, von Lite­ra­tur häu­fig keine Ahnung”: Die Buch­kon­zern-Chefs und Mul­ti­mil­lio­näre Tho­mas Rabe (Ber­tels­mann) und Ste­fan Holtz­brinck (Holtz­brinck)

An die Stelle von Ver­le­ger­per­sön­lich­kei­ten, meine Damen und Her­ren, sind heute Ver­lags­ma­na­ger oder Kon­zern­chefs getre­ten. Die bunte Palette von Ver­lags­na­men und Ver­lags­pro­gram­men ist nicht viel mehr als schö­ner Schein, der dar­über hin­weg­täu­schen soll, dass die Unter­neh­men Ber­tels­mann und Holtz­brinck mitt­ler­weile fast den gan­zen deut­schen Buch­markt unter sich auf­tei­len. Die ein­zel­nen Ver­lage ver­su­chen zwar noch Ver­lags­pro­file auf­recht zu erhal­ten und sich den Anschein einer gewis­sen Eigen­stän­dig­keit zu geben. Doch wenn man genauer hin­schaut, merkt man, dass sich hin­ter der Viel­falt das knall­harte Manage­ment von Bran­chen­rie­sen ver­birgt. Die star­ken Män­ner – es sind fast aus­schliess­lich Män­ner -, die an der Spitze die­ser Kon­zerne ste­hen, kom­men nicht sel­ten aus bran­chen­fer­nen Unter­neh­men. Sie beherr­schen die gol­de­nen Regeln von Umsatz­stei­ge­rung und Gewinn­ma­xi­mie­rung; von Büchern, von Autoren, von Lite­ra­tur über­haupt haben sie häu­fig keine Ahnung. Müs­sen sie auch nicht haben, denn ihre Auf­gabe besteht darin, den Cash­flow zu stei­gern und satte Gewinne zu erzie­len. Sie tun es vor allem, indem sie ihre Lek­to­ren, deren Auf­gabe es bis­her war, Autoren zu ent­de­cken und Trends auf­zu­spü­ren, mit kon­kre­ten Umsatz­vor­ga­ben dazu ver­pflich­ten, Ver­kaufs­er­folge anstelle von lite­ra­ri­scher Qua­li­tät zu gene­rie­ren. Lek­to­ren sind denn auch immer mehr mit Fra­gen des Mar­ke­tings und der Pres­se­ar­beit beschäf­tigt, so dass ihre Arbeit am Text zu kurz kommt. Stille Bücher, schwie­rige Bücher, Lyrik zum Bei­spiel oder expe­ri­men­telle Texte, haben in einem solch aus­schliess­lich markt­ori­en­tier­ten Sys­tem kaum mehr eine Chance. Und gäbe es, vor allem unter jun­gen Ver­le­gern, nicht immer noch und immer wie­der hoff­nungs­lose Idea­lis­ten und Selbst­aus­beu­ter, wir bekä­men bald nur noch Bücher vor­ge­setzt, die eine Auf­lage von 100‘000 Exem­pla­ren oder mehr rechtfertigen.

Zunehmende Merkantilisierung des Buchhandels

Als gute Literatur in die Liga der Bestseller aufgestiegen: Marlene Streeruwitz (Österreich), Wilhelm Genazino (Deutschland), Ruth Schweikert (Schweiz)
Als gute Lite­ra­tur in die Liga der Best­sel­ler auf­ge­stie­gen: Mar­lene Stre­eru­witz (Öster­reich), Wil­helm Gen­a­zino (Deutsch­land), Ruth Schwei­kert (Schweiz)

Die Ent­wick­lung im Buch­han­del leis­tet die­sem Trend zusätz­lich Vor­schub. Auch hier hat in den letz­ten Jah­ren eine zuneh­mende Mer­kan­ti­li­sie­rung und, par­al­lel dazu, eine starke Kon­zen­trie­rung auf wenige Gross­be­triebe – Hugen­du­bel in Deutsch­land, Morawa in Öster­reich, Orell-Füssli in der Schweiz – statt­ge­fun­den. In die­sen Buch- und Mul­ti­me­dia-Kauf­häu­sern gibt es zwar noch Nischen für Lieb­ha­ber guter Lite­ra­tur; das grosse Geschäft jedoch macht man mit Thril­lern, Kri­mis und Roman­zen sowie mit Sach­bü­chern, wel­che die Welt erklä­ren und die Lösung unse­rer Lebens­pro­bleme vom Lie­bes­kum­mer bis zur Fett­lei­big­keit versprechen.
Wenn es ab und zu ein wirk­lich gutes Stück Lite­ra­tur, in Deutsch­land etwa ein Wil­helm Gen­a­zino oder ein Daniel Kehl­mann, in Öster­reich ein Arno Gei­ger oder eine Mar­lene Stre­eru­witz, in der Schweiz eine Ruth Schwei­kert oder ein Ralph Dutli, in die Liga der Best­sel­ler schafft, grenzt das an ein Wun­der. Und es ist auch hier eini­gen Idea­lis­ten unter den Ver­le­gern zu ver­dan­ken, wenn die Lite­ra­tur nicht auf das Niveau einer Isa­bel Allende, einer Char­lotte Link oder eines Mar­tin Suter schrumpft und der Buch­markt sich ansons­ten von Dan Brown, Donna Leon oder Rosa­munde Pilcher ernährt.

Verpackung statt Inhalte

Ähn­lich wie das Ver­lags­we­sen und der Buch­han­del hat sich auch der Ver­trieb von Lite­ra­tur ver­än­dert. Was frü­her als kon­ven­tio­nelle Wer­bung in Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten sowie als dis­krete Bezie­hungs­pflege in der Buch­händ­ler- und Kri­ti­ker­szene daher­kam, hat sich längst zu einem gross­an­ge­leg­ten Pro­mo­ti­ons-Zir­kus aus­ge­wach­sen. Der Publi­ka­tion eines Titels – das klingt moder­ner als “Buch” – gehen Wer­be­kam­pa­gnen vor­aus, wie sie bis­lang nur im Film­ge­schäft üblich waren. Längst wer­den nicht mehr nur Ver­lags­pro­spekte, Lese­pro­ben und Vor­aus­exem­plare ver­schickt, son­dern es wer­den CDs oder DVDs pro­du­ziert, die ähn­lich den Making-ofs erfolg­rei­cher Spiel­filme mit Lese­pro­ben und Aus­schnit­ten von Auf­trit­ten sowie Inter­views mit dem Autor auf­war­ten. Beglei­tend hinzu kommt als eigen­stän­di­ger, sehr lukra­ti­ver Markt die Hör­buch­pro­duk­tion, ohne die die Pro­mo­tion eines erfolg­rei­chen Titels über­haupt nicht mehr denk­bar ist. Dies ganz im Gegen­satz zum E-Book-Markt, der in den letz­ten Jah­ren bei uns, anders als im angel­säch­si­schen Raum, nur sehr beschei­den gewach­sen ist.

Hart umkämpfter Markt

Band 200x5
“Die ein­zel­nen Ver­lage ver­su­chen zwar noch Ver­lags­pro­file auf­recht zu erhal­ten und sich den Anschein einer gewis­sen Eigen­stän­dig­keit zu geben. Doch wenn man genauer hin­schaut, merkt man, dass sich hin­ter der Viel­falt das knall­harte Manage­ment von Bran­chen­rie­sen ver­birgt. Die star­ken Män­ner – es sind fast aus­schliess­lich Män­ner -, die an der Spitze die­ser Kon­zerne ste­hen, kom­men nicht sel­ten aus bran­chen­fer­nen Unter­neh­men. Sie beherr­schen die gol­de­nen Regeln von Umsatz­stei­ge­rung und Gewinn­ma­xi­mie­rung; von Büchern, von Autoren, von Lite­ra­tur über­haupt haben sie häu­fig keine Ahnung.”

Die ers­ten, von den ver­lags­ei­ge­nen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­ant­wort­li­chen und Public Rela­ti­ons-Spe­zia­lis­ten klug orga­ni­sier­ten und getim­ten Bespre­chun­gen erschei­nen häu­fig schon vor dem Erschei­nen des Buches in nam­haf­ten Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten. Und wenn das Buch dann end­lich auf dem Markt ist, wird der Autor auf einen lan­des­wei­ten oder gar inter­na­tio­na­len Lese­ma­ra­thon geschickt, auf den abge­stimmt in Radio und Fern­se­hen ent­spre­chende Por­träts und Inter­views erschei­nen, wel­che die öffent­li­che Wir­kung von Autor und Buch wie in einem Spie­gel­saal mul­ti­pli­zie­ren. Der enorme Auf­wand scheint sich zu rech­nen – und muss es auch. Denn nicht sel­ten ste­hen hin­ter sol­chen Erfolgs­ti­teln fünf- oder gar sechs­stel­lige Vor­schüsse. Wer das wie­der ein­spie­len und erst noch Gewinn davon­tra­gen will, muss sich auf dem hart umkämpf­ten Markt mäch­tig ins Zeug legen.

Tipp an Debütanten: Literaturagentur vorschalten

Dass Geschäfte die­ser Grös­sen­ord­nung längst nicht mehr zwi­schen dem Autor und sei­nem Ver­le­ger getä­tigt wer­den, gehört eben­falls zu den Neue­run­gen, die den Lite­ra­tur­be­trieb in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­än­dert haben. Heute sind es die Lite­ra­tur­agen­ten, die zwi­schen den Autoren und den Ver­le­gern ver­mit­teln, die den rich­ti­gen Autor, das rich­tige Buch mit dem rich­ti­gen Ver­lag zusam­men­brin­gen und schliess­lich auch die Ver­träge samt Vor­schüs­sen, Hono­rar­an­sät­zen, Auf­la­gen­höhe und Neben­rech­ten aus­han­deln. Sie ver­lan­gen dafür zwi­schen 10 und 20% des Autoren­ho­no­rars. Rund 85% der lite­ra­ri­schen Erfolge gehen heute über den Schreib­tisch von Agen­ten. Unbe­kann­ten Autoren ist drin­gend zu emp­feh­len, ihr Manu­skript nicht direkt an einen Ver­lag, son­dern an eine Lite­ra­tur­agen­tur zu schi­cken. Renom­mierte Ver­lage erhal­ten heute jeden Tag bis zu zehn unver­langte Manu­skripte, so dass ihre Lek­to­ren kaum mehr Zeit fin­den, sich durch die Sta­pel von Tex­ten zu arbei­ten. Also wird diese Arbeit meist von jun­gen, uner­fah­re­nen und schlecht bezahl­ten Prak­ti­kan­ten über­nom­men. Die Chan­cen, dass ein Manu­skript auf diese Weise in die Hände eines Ver­le­gers gelangt, der es ver­öf­fent­li­chen möchte, sind daher ver­schwin­dend klein. Lite­ra­tur­agen­ten hin­ge­gen haben gute Kon­takte zu den Ver­la­gen und ihren Lek­to­ren. Wenn sie ein Manu­skript zur Prü­fung schi­cken, wis­sen die Ver­lage, dass es sich lohnt, einen Blick in den Text zu wer­fen. So lan­det das Manu­skript nicht auf den rie­si­gen Sta­peln, die von den Prak­ti­kan­ten geprüft wer­den, son­dern direkt auf dem Schreib­tisch der Lektoren.

Auffallen um jeden Preis

Zoe Jenny - Glarean Magazin
“Musste zeit­weise von 500 Fran­ken monat­lich leben”: Schwei­zer Senk­recht-Star­te­rin Zoë Jenny (“Das Blütenstaubzimmer”)

Hohe Auf­la­gen, meine Damen und Her­ren, erreicht am ehes­ten, wem es gelingt, in der Szene so rich­tig auf­zu­fal­len: ent­we­der durch die Art, wie er sich gibt, oder durch die The­men, die er behan­delt. Romane, die sich auto­bio­gra­fisch lesen las­sen oder die sich skan­dal­träch­tig genug geben, die vor allem sexu­elle Tabus bre­chen, aber auch sol­che, die Ele­mente einer Kri­mi­nal­story ent­hal­ten oder von Migra­ti­ons­ge­schich­ten han­deln und die zudem süf­fig geschrie­ben sind, haben sich dabei als beson­ders ver­käuf­lich erwie­sen. Inzes­tuöse Lie­bes­be­zie­hun­gen, Geheim­dienst­ein­sätze, Ver­schwö­rungs­theo­rien und Dro­gen­ex­zesse spu­ken durch nicht wenige Bücher, die in den letz­ten Jah­ren inter­na­tio­nal von sich reden mach­ten. Es gehört zu den unge­schrie­be­nen Geset­zen des lite­ra­ri­schen Mark­tes, dass ein Schrift­stel­ler, will er nicht in Ver­ges­sen­heit gera­ten, alle zwei Jahre ein Buch ver­öf­fent­li­chen muss.

Band 200x5
“Ins­ge­samt lässt sich sagen, dass jün­gere Autorin­nen und Autoren von den Ver­la­gen, aber auch von den kul­tu­rel­len Insti­tu­tio­nen erfah­rungs­ge­mäss stär­ker unter­stützt wer­den als ältere. Beson­ders schwer haben es die Lyri­ker: zum einen auf­grund der gerin­gen Auf­la­gen – in der Regel zwi­schen 300 und 500 Büchern – sowie der feh­len­den Neben­rechts­ver­wer­tung, also der Ver­wer­tung in Film, Fern­se­hen und im Hör­funk, und zum andern, weil immer mehr Ver­lage aus rein öko­no­mi­schen Erwä­gun­gen – ein Gedicht­band stellt für sie ein unter­neh­me­ri­sches Risiko dar – die Lyrik aus ihrem Ver­lags­pro­gramm kippen.”

Bei all dem, ver­ehrte Anwe­sende, fällt auf, dass die Autoren und mehr noch die Autorin­nen immer jün­ger wer­den. Gera­dezu kome­ten­haft sind sie in den letz­ten Jah­ren auf­ge­stie­gen, eine Zoë Jenny, eine Judith Her­mann, eine Doro­thee Elmi­ger, eine Helene Hege­mann, eine Char­lotte Roche, eine Katja Brun­ner, ein Peter Weber, ein Chris­tian Kracht, ein Daniel Kehl­mann und wie sie alle heis­sen. Die Frauen unter ihnen sind meist schön, die Män­ner hat­ten eine schwie­rige Kind­heit oder waren sonst wie geschä­digt. Ins­ge­samt lässt sich sagen, dass jün­gere Autorin­nen und Autoren von den Ver­la­gen, aber auch von den kul­tu­rel­len Insti­tu­tio­nen erfah­rungs­ge­mäss stär­ker unter­stützt wer­den als ältere. Beson­ders schwer haben es die Lyri­ker: zum einen auf­grund der gerin­gen Auf­la­gen – in der Regel zwi­schen 300 und 500 Büchern – sowie der feh­len­den Neben­rechts­ver­wer­tung, also der Ver­wer­tung in Film, Fern­se­hen und im Hör­funk, und zum andern, weil immer mehr Ver­lage aus rein öko­no­mi­schen Erwä­gun­gen – ein Gedicht­band stellt für sie ein unter­neh­me­ri­sches Risiko dar – die Lyrik aus ihrem Ver­lags­pro­gramm kip­pen. Aller­dings lässt sich heute, allen öko­no­mi­schen Beden­ken zum Trotz beob­ach­ten, dass die Lyrik ein immer grös­ser wer­den­des Publi­kum erobert. Lyri­ker gewin­nen nam­hafte Aus­zeich­nun­gen, wie jüngst Jan Wag­ner, der den Preis der Leip­zi­ger Buch­messe erhal­ten hat.

Massenhafter Verschleiss von jungen Autoren

Doch zurück zu den jun­gen Autorin­nen und Autoren. Das Pro­blem all die­ser Jung­ta­lente und Senk­recht­star­ter am Lite­ra­tur­him­mel ist nicht die man­gelnde Bega­bung und auch nicht der feh­lende Erfolg. Im Gegen­teil: bei­des ist oft­mals im Über­mass vor­han­den. Das Pro­blem ist viel­mehr der Ver­schleiss, dem sie durch den Lite­ra­tur­be­trieb, wie er sich heut­zu­tage prä­sen­tiert, aus­ge­setzt sind. Da wer­den junge Men­schen, die kaum der Puber­tät ent­wach­sen sind, so hem­mungs­los ins Ram­pen­licht gezerrt, mit Vor­schuss­lor­bee­ren bedacht, mit Prei­sen über­häuft und von Lese­ter­min zu Lese­ter­min gehetzt, bis sie im Tau­mel zwi­schen Selbst­über­schät­zung und Ver­sa­gens­angst den Boden unter den Füs­sen ver­lie­ren. Ver­lags­lek­to­ren, Lite­ra­tur­agen­ten und Kri­ti­ker reis­sen sich um sie, und bis sie gemerkt haben, wie schnell man sie fal­len lässt, wenn der Erfolg aus­bleibt, ist es oft schon zu spät.

“Wer es schafft, im ‘Lite­ra­tur­club’ des Schwei­zer Fern­se­hens – oder frü­her in Elke Hei­den­reichs ZDF-Fern­seh­sen­dung ‘Lesen!’ – erwähnt zu wer­den, hat fürs erste ausgesorgt.”

Das Phä­no­men ist nicht ganz neu, hat sich aber in den letz­ten Jah­ren enorm zuge­spitzt. Eine junge Autorin, ein Autor publi­ziert ein ers­tes Buch. Das Buch hat Erfolg. Die Rezen­sio­nen sind enthu­si­as­tisch, die Buch­händ­ler begeis­tert. Es fol­gen Lese­rei­sen, Ein­la­dun­gen zu Wett­be­wer­ben, erste renom­mierte Preise, Inter­views am Radio und Auf­tritte am Fern­se­hen. Es win­ken Vor­schüsse und lukra­tive Ver­träge mit gros­sen Ver­lags­häu­sern – das ganze Pro­gramm eben, das abläuft, wenn ein inter­es­san­ter Erst­ling die gelang­weilte Szene auf­mischt. Dass es nach einem sol­chen Debüt kaum mehr Stei­ge­rungs­mög­lich­kei­ten gibt und das Inter­esse nach dem zwei­ten, spä­tes­ten aber nach dem drit­ten Buch nor­ma­ler­weise mas­siv abnimmt, das sagt den jun­gen Autoren in der Regel nie­mand. Man lässt sie viel­mehr abhe­ben, sonnt sich in ihrem Ruhm, sahnt kräf­tig ab und ver­gisst, sie auf ein Leben nach dem Kult vor­zu­be­rei­ten. Wenn sie dann daste­hen, ohne Lebens­er­fah­rung, ohne Beruf und viel­fach auch ohne Geld, erlischt das Inter­esse an ihnen ziem­lich schnell. Schwei­zer Autoren wie Peter Weber oder Zoë Jenny kön­nen ein Lied davon sin­gen. Die Letz­tere, vor Jah­ren für ihren Erst­ling “Das Blü­ten­staub­zim­mer” von der Kri­tik noch hoch­ge­ju­belt, zur Best­sel­ler­au­torin gemacht, zum Star aus­ge­ru­fen, hat sich im Wochen­ma­ga­zin “Die Schwei­zer Illus­trierte” kürz­lich dar­über beklagt, dass sie mit ihrer klei­nen Toch­ter der­zeit von 500 Schwei­zer­fran­ken monat­lich leben müsse. Autoren haben es mit ihrem zwei­ten Buch erfah­rungs­ge­mäss übri­gens am schwers­ten, weil es immer am Erfolg ihres Debüts gemes­sen und zugleich von der Erwar­tungs­hal­tung des Neuen und Anders­ar­ti­gen bestimmt wird.

Band 200x5
“Die Gren­zen zwi­schen bestell­ter PR und unab­hän­gi­ger Lite­ra­tur­kri­tik sind in letz­ter Zeit immer flies­sen­der gewor­den. Auf den Inter­net-Sei­ten von Online-Buch­händ­lern, aber auch in den ver­schie­de­nen “Literaturclub”-Sendegefässen des In- und Aus­lan­des, wo an die Stelle ästhe­ti­scher Wer­tun­gen häu­fig reine Geschmacks­ur­teile tre­ten, sind sie mei­ner Mei­nung nach ein­deu­tig über­schrit­ten. Medi­en­be­dürf­nisse und Ver­lags­in­ter­es­sen sind der­mas­sen kon­gru­ent gewor­den, dass Kri­tik nicht mehr so sehr der Mei­nungs­bil­dung als viel­mehr der Umsatz­stei­ge­rung dient.”

Der Lite­ra­tur­be­trieb, liebe Zuhö­re­rin­nen und Zuhö­rer, ist ein har­tes Geschäft. Auf­la­gen und Ver­kaufs­zah­len sind letzt­lich das Ein­zige, was in die­sem Busi­ness wirk­lich zählt. Wie man sie erreicht, ob mit einem Skan­dal, mit ech­ter Qua­li­tät oder mit Pro­mo­tion, die diese bloss vor­täuscht, ist sekun­där. Wer es schafft, im “Lite­ra­tur­club” des Schwei­zer Fern­se­hens – oder frü­her in Elke Hei­den­reichs Fern­seh­sen­dung “Lesen!” des ZDF – erwähnt zu wer­den, hat fürs erste aus­ge­sorgt. Egal, wie über das Buch gere­det wird, Haupt­sa­che, es wird gere­det. Ver­lage wer­den im Vor­aus über die Titel­wahl in Kennt­nis gesetzt und hal­ten ent­spre­chende Men­gen lie­fer­ba­rer Exem­plare bereit, um der am Tag nach der Sen­dung ein­set­zen­den Nach­frage ent­spre­chen zu können.
Mit Lite­ra­tur­kri­tik im her­kömm­li­chen Sinne haben solch mas­sen­me­diale Übun­gen nichts mehr zu tun. Die Gren­zen zwi­schen bestell­ter PR und unab­hän­gi­ger Kri­tik sind in letz­ter Zeit immer flies­sen­der gewor­den. Auf den Inter­net-Sei­ten von Online-Buch­händ­lern, aber auch in Sen­dun­gen wie dem “Lite­ra­tur­club”, in dem an die Stelle ästhe­ti­scher Wer­tun­gen häu­fig reine Geschmacks­ur­teile tre­ten, sind sie mei­ner Mei­nung nach ein­deu­tig über­schrit­ten. Medi­en­be­dürf­nisse und Ver­lags­in­ter­es­sen sind der­mas­sen kon­gru­ent gewor­den, dass Kri­tik nicht mehr so sehr der Mei­nungs­bil­dung als viel­mehr der Umsatz­stei­ge­rung dient. Damit will ich nicht sagen, dass es heut­zu­tage keine gute, pro­fes­sio­nelle Lite­ra­tur­kri­tik mehr gebe. Es gilt nur, sie von geschickt gefer­tig­ter Public Rela­tion zu unterscheiden.

Verwischte Grenzen zwischen PR und Literaturkritik

“Das poin­tierte Urteil, die gewagte Mei­nung, das kühne Ver­dikt sucht man heute viel­fach ver­ge­bens”: Kri­ti­ker-Legende Mar­cel Reich-Rani­cki (1930-2013)

In der Lite­ra­tur­kri­tik hat sich in den letz­ten zehn, zwan­zig Jah­ren eini­ges ver­än­dert – und lei­der nicht immer zum Bes­se­ren. Schon 1989 sprach der Schwei­zer Schrift­stel­ler Hugo Loet­scher davon, dass die “Zeit der Instan­zen vor­bei” sei und her­aus­ra­gende Kri­ti­ker­per­sön­lich­kei­ten wie Mar­cel Reich-Rani­cki in Deutsch­land, Sig­rid Löff­ler in Öster­reich und Klara Ober­mül­ler in der Schweiz all­mäh­lich der Ver­gan­gen­heit ange­hör­ten. Ganz unrecht scheint mir Loet­scher mit die­ser Pro­gnose nicht gehabt zu haben. Zwar hat die Zahl der Lite­ra­tur­kri­ti­ker, also der Leute, die Bücher bespre­chen, gegen­über frü­her eher zuge­nom­men. Gleich­zei­tig hat ihre Tätig­keit jedoch deut­lich an Pro­fil ein­ge­büsst. Das poin­tierte Urteil, die gewagte Mei­nung, das kühne Ver­dikt sucht man heute viel­fach ver­ge­bens. Dafür neh­men Buch­be­spre­chun­gen über­hand, die mehr oder weni­ger nichts­sa­gende und belie­big aus­wech­sel­bare Aus­sa­gen ent­hal­ten – Aus­sa­gen von Lite­ra­tur­kri­ti­kern nota­bene, die sich von rei­ner Wer­bung kaum mehr unter­schei­den las­sen. Wenn da von einer “flott erzähl­ten Geschichte”, von einem Autor, “der das grosse Ganze im Blick” habe, von “leuch­ten­den Kom­po­si­tio­nen” oder gar von einem “hoch­ero­ti­schen Buch” die Rede ist, so ist das nichts wei­ter als nichts­sa­gen­des Geschwätz, das dem Leser keine wirk­li­che Infor­ma­tion über die Qua­li­tät des bespro­che­nen Buches bie­tet. Und wenn von einem rei­nen Unter­hal­tungs­au­tor wie Mar­tin Suter in ZDF aspekte gesagt wird, man halte ihn “im Moment für einen der bes­ten deutsch­spra­chi­gen Autoren”, dann lässt sich mit Fug und Recht fra­gen, wie schlecht es denn um die zeit­ge­nös­si­sche deut­sche Lite­ra­tur bestellt sein müsse, dass ein sol­cher Autor zu den Bes­ten gehört. Die Angst vor dem poin­tier­ten Urteil, vor der dif­fe­ren­zier­ten Mei­nung hängt zu einem gros­sen Teil auch damit zusam­men, dass heut­zu­tage kaum ein Kri­ti­ker noch all die Bücher, über die er schreibt, von A bis Z durch­liest. Oft­mals reicht die Zeit nur, um ein Buch quer zu lesen. Die Inhalts­an­ga­ben in die­sen Kri­ti­ken sind denn auch reich­lich dünn und oft­mals in Details auch falsch. In ihrer Rezen­sion von Mar­tin Walsers Roman “Angst­blüte” spra­chen die Kri­ti­ker pau­schal von sti­lis­ti­scher Meis­ter­schaft, konn­ten dabei aber nicht eine beson­ders gelun­gene For­mu­lie­rung anfüh­ren, um ihr Lob zu belegen.

Thomas Hürlimann - Schweizer Schriftsteller - Glarean Magazin
Brenz­li­ges Fami­liä­res in die Novelle ein­ge­baut: Tho­mas Hürlimann

Mit dem Abtre­ten kom­pe­ten­ter, streit­lus­ti­ger und uner­schro­cke­ner Kri­ti­ker­per­sön­lich­kei­ten ist die Lite­ra­tur­szene ohne Zwei­fel ein­tö­ni­ger gewor­den. Was fehlt, ist der Dis­put, die kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung. Sie fin­det fast nur noch dann statt, wenn ein Skan­dal in der Luft liegt, wenn ein Tho­mas Hür­li­mann in sei­ner Novelle “Fräu­lein Stark” Brenz­li­ges aus der eige­nen Fami­li­en­ge­schichte preis­gibt oder wenn ein Gün­ter Grass in sei­nem auto­bio­gra­fi­schen Roman “Beim Häu­ten der Zwie­bel” nach über 60 Jah­ren bekannt gibt, dass er als Sieb­zehn­jäh­ri­ger Mit­glied der Waf­fen-SS war, oder wenn einer Helene Hege­mann oder einem Urs Mann­hart von den Medien vor­ge­hal­ten wird, Fremd­texte, ohne sie zu zitie­ren, in ihr Werk über­nom­men zu haben. Was jedoch, von sol­chen Eklats ein­mal abge­se­hen, all­mäh­lich ver­lo­ren gegan­gen ist, sind die Stim­men derer, die mit ihrem Urteil her­aus­for­dern und ihre Leser dazu anre­gen, sowohl eigene Kri­te­rien im Umgang mit Lite­ra­tur auf­zu­stel­len als auch die Kri­te­rien der Berufs­kri­ti­ker zu hinterfragen.

Ästhetische Kriterien guter Literatur

“Die Auf­fas­sung, Dich­tung sei stets ori­gi­nal, der Autor ein Ori­gi­nal­ge­nie, die bei den Autoren wie bei den Kri­ti­kern bis heute her­um­geis­tert, hat in der neue­ren deut­schen Lite­ra­tur selt­same Blü­ten getrie­ben”: Johann Gott­fried Her­der, Begrün­der des lite­ra­ri­schen Subjektivismus’

Ver­ehrte Anwe­sende, ästhe­ti­sche Kri­te­rien zu benen­nen, nach denen Lite­ra­tur beur­teilt wer­den kann, ist noch nie leicht gewe­sen. Aber es gibt, wie noch zu zei­gen sein wird, sol­che Wer­tungs­kri­te­rien, sonst lies­sen sich die gröss­ten Dilet­tan­te­reien, wenn man sie nur lange genug anpreist, als Dich­tung, als Kunst aus­ge­ben. Ich sage das hier in aller Deut­lich­keit, weil sich bei sehr vie­len Autoren, aber auch bei den Kri­ti­kern die Auf­fas­sung hart­nä­ckig hält, es gebe keine eini­ger­mas­sen objek­ti­ven Kri­te­rien für die Bewer­tung von Lite­ra­tur. Es ist eine Auf­fas­sung, die aus dem spä­ten 18.Jahrhundert, aus der Zeit des “Sturm und Drang” mit ihrer star­ken Ten­denz zu Indi­vi­dua­lis­mus und Sub­jek­ti­vis­mus, stammt und die wir im deut­schen Sprach­raum – ich betone: im deut­schen Sprach­raum; für den angel­säch­si­schen Raum gilt das bei­spiels­weise nicht- offen­bar bis heute noch nicht über­wun­den haben. Nach Johann Gott­fried Her­der, dem eigent­li­chen Begrün­der die­ser sub­jek­ti­vis­ti­schen Auf­fas­sung, ist jede Kunst, jede Dich­tung ori­gi­nal und jeder Dich­ter ein frei­schaf­fen­des, schöp­fe­ri­sches Ori­gi­nal­ge­nie, das kei­ner­lei poe­ti­schen Regeln unter­wor­fen ist. So meint denn ein renom­mier­ter Schrift­stel­ler wie Tho­mas Hett­che noch in unsern Tagen kurz und bün­dig, es gebe keine ästhe­ti­schen Kri­te­rien für Texte – aus­ser ihrem Gelin­gen. Und so ant­wor­tete mir die Nobel­preis­trä­ge­rin Elfriede Jeli­nek im Juli 2011 auf meine Frage, was denn für sie ein guter Text sei, ebenso kurz und bün­dig, sie kenne keine Regel, die sie auf­stel­len könnte. Dies nur zwei Bei­spiele, die für viele andere stehen.

Autoren lernten schon immer von Autoren

Die Auf­fas­sung, Dich­tung sei stets ori­gi­nal, der Autor ein Ori­gi­nal­ge­nie, die bei den Autoren wie bei den Kri­ti­kern bis heute her­um­geis­tert, hat in der neue­ren deut­schen Lite­ra­tur selt­same Blü­ten getrie­ben. Am sicht­bars­ten wird das an der unum­stöss­li­chen Über­zeu­gung sehr vie­ler Autoren, jeder ihrer lite­ra­ri­schen Texte müsse ihr urei­ge­nes Werk sein, dürfe kei­ner­lei Über­nah­men, und seien es nur Bezüge zu andern Tex­ten, beinhal­ten, dürfe vor allem nicht auf Gelern­tem beru­hen. Mir fällt immer wie­der auf, wie häu­fig Autoren Zeter und Mor­dio schreien, sich in ihrer Ein­zig­ar­tig­keit ver­ra­ten füh­len, wenn man sie dar­auf hin­weist, dass sich in ihren Tex­ten Spu­ren von Tex­ten ande­rer Autoren fin­den, dass sie – mit andern Wor­ten – von andern Autoren gelernt haben. Dabei haben das alle bedeu­ten­den Autoren getan: Schon der Alt­meis­ter Goe­the hat bekannt, dass er bei Shake­speare gelernt hat. Für Ber­tolt Brecht ist es Alfred Döb­lin, den er ein­mal sogar sei­nen “unehe­li­chen Vater” nennt, und Gün­ter Grass spricht von Alfred Döb­lin als von “sei­nem Leh­rer”. Mar­tin Wal­ser hat immer wie­der auf Franz Kafka ver­wie­sen, bei dem er viel über das Wesen des Para­do­xen gelernt habe. Ernst Jandl hat mit Blick auf seine expe­ri­men­telle Lyrik bei der als “Mut­ter der Moderne” bekannt gewor­de­nen Ger­trude Stein gelernt. Und selbst Kaf­kas Para­beln wären ohne Robert Walsers frühe Skiz­zen kaum denk­bar. Der Bei­spiele wären noch unzählige.

Guter Rat an Autoren: Haben Sie den Mut zum permanenten Lernen!

Band 200x5
“Mir fällt immer wie­der auf, wie häu­fig Autoren Zeter und Mor­dio schreien, sich in ihrer Ein­zig­ar­tig­keit ver­ra­ten füh­len, wenn man sie dar­auf hin­weist, dass sich in ihren Tex­ten Spu­ren von Tex­ten ande­rer Autoren fin­den, dass sie – mit andern Wor­ten – von andern Autoren gelernt haben. Dabei haben das alle bedeu­ten­den Autoren getan: Schon der Alt­meis­ter Goe­the hat bekannt, dass er bei Shake­speare gelernt hat. Für Ber­tolt Brecht ist es Alfred Döb­lin, den er ein­mal sogar sei­nen ‘unehe­li­chen Vater’ nennt und Gün­ter Grass spricht von Alfred Döb­lin als von ‘sei­nem Leh­rer’. Mar­tin Wal­ser hat immer wie­der auf Franz Kafka ver­wie­sen, bei dem er viel über das Wesen des Para­do­xen gelernt habe. Ernst Jandl hat mit Blick auf seine expe­ri­men­telle Lyrik bei der als ‘Mut­ter der Moderne’ bekannt gewor­de­nen Ger­trude Stein gelernt. Und selbst Kaf­kas Para­beln wären ohne Robert Walsers frühe Skiz­zen kaum denkbar.”

Was ich damit sagen will: Haben Sie, meine Damen und Her­ren, wenn Sie prak­ti­zie­rende Autorin, prak­ti­zie­ren­der Autor sind, keine Angst davor, im Bereich des lite­ra­ri­schen Schrei­bens immer wie­der zu ler­nen. Sei es, indem Sie Romane, Erzäh­lun­gen, Gedichte ande­rer zeit­ge­nös­si­scher Autoren ganz bewusst lesen, oder indem Sie ab und zu einen Blick in die deut­sche Lite­ra­tur­ge­schichte wer­fen und sich bei­spiels­weise fra­gen, wie die Lyri­ker des Expres­sio­nis­mus ihre Gedichte gemacht haben, wie ein Alfred Döb­lin in sei­nem Roman “Ber­lin Alex­an­der­platz” den inne­ren Mono­log ver­wen­det hat, oder indem Sie für ein­zelne Fra­gen, etwa für die Frage nach der Gestal­tung von Figu­ren, ein lite­ra­ri­sches Sach­buch bei­zie­hen, oder indem sie nicht zuletzt auch ein­mal an einem Semi­nar für Autorin­nen und Autoren teil­neh­men. Selbst­ver­ständ­lich bedarf es für das lite­ra­ri­sche Schrei­ben zunächst aus­rei­chen­der Bega­bung; wer dafür zu wenig begabt ist wie bei­spiels­weise ich sollte nicht dich­ten wol­len. Aber ebenso selbst­ver­ständ­lich dürfte es sein, dass lite­ra­ri­sches Schrei­ben weni­ger eine spi­ri­tu­elle Erfah­rung als viel­mehr ein Hand­werk, ja harte Schreib­tisch­ar­beit ist, die von der Autorin, vom Autor über­dies ein hohes Mass an Selbst­kri­tik, an Distanz zum eige­nen Text erfor­dert. Ver­lags­lek­to­ren bestä­ti­gen es immer wie­der und auch meine Erfah­rung als Dozent für lite­ra­ri­sches Schrei­ben zeigt es: Je bes­ser jemand schreibt, desto selbst­kri­ti­scher ist er, desto mehr ist er auch bereit zu ler­nen. Das soll­ten sich in ers­ter Linie all jene mer­ken, denen es beim Schrei­ben mehr um den Drang nach Selbst­ver­wirk­li­chung oder gar um eine Art Psy­cho­hy­giene geht als darum, ästhe­ti­schen Ansprü­chen, bestimm­ten lite­ra­ri­schen Wer­tungs­kri­te­rien zu genügen.

Die literarische Wertung von Texten

Damit, ver­ehrte Anwe­sende, ist das längst erwar­tete Stich­wort gefal­len, das in einem Refe­rat über den aktu­el­len Lite­ra­tur­be­trieb nicht feh­len darf: die Frage nach der lite­ra­ri­schen Wer­tung von Tex­ten näm­lich. Las­sen Sie mich auch dazu eini­ges ausführen:
In der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft strei­tet man sich bis heute, ob es so etwas wie all­ge­mein­gül­tige, ver­bind­li­che Mass­stäbe für die Wer­tung lite­ra­ri­scher Texte gibt. Im Ver­laufe der Rezep­ti­ons­ge­schichte haben sich zwei ein­an­der dia­me­tral ent­ge­gen­ge­setzte extreme Posi­tio­nen her­aus­ge­bil­det: Da fin­det sich zunächst eine his­to­risch ältere Posi­tion, wonach es feste, zeit­los gül­tige Kri­te­rien gibt, die uns erlau­ben, ‚gute‘ und ,schlechte‘ Texte, also bei­spiels­weise Kitsch und ästhe­tisch wert­volle Lite­ra­tur, klar von­ein­an­der zu unter­schei­den. Es ist die Posi­tion der sog. Regel­poe­tik, einer Poe­tik, die von Mar­tin Opitz im 17. Jahr­hun­dert durch die ganze Geschichte der älte­ren Ger­ma­nis­tik hin­durch bis zu Emil Staiger, einem mei­ner dama­li­gen Leh­rer in Zürich, reicht. Und da ist die genaue, his­to­risch noch sehr junge Gegen­po­si­tion, die heute vor allem von den Ver­tre­tern post­mo­der­ner Inter­pre­ta­ti­ons­theo­rien ein­ge­nom­men wird. Danach gibt es keine ver­bind­li­chen Mass­stäbe für die lite­ra­ri­sche Wer­tung, beru­hen die Urteile über die ästhe­ti­sche Qua­li­tät lite­ra­ri­scher Texte auf mehr oder weni­ger sub­jek­ti­ven Geschmacksentscheidungen.

Die literarischen Wertmassstäbe im Laufe der Zeit

Jahrelang als dilettantischer Provokateur und
Jah­re­lang als dilet­tan­ti­scher Pro­vo­ka­teur und “Ver­der­ber der Jugend” geschmäht, schliess­lich doch inter­na­tio­nal gefei­ert: Ernst Jandl als bei­spiel­haf­tes “Opfer” wech­sel­haf­ter lite­ra­ri­scher Reputation

Wel­che der bei­den gegen­sätz­li­chen Posi­tio­nen, ver­ehrte Anwe­sende, ist nun rich­tig? Keine, würde ich sagen. Denn gäbe es so etwas wie zeit­los gül­tige Mass­stäbe, wel­che Epo­che würde diese Mass­stäbe denn set­zen? Etwa die deut­sche Klas­sik mit Goe­the und Schil­ler, wie Emil Staiger in sei­ner Zür­cher Preis­rede von 1966 gemeint hat? Wenn das zuträfe, dann könnte man die gesamte moderne Lite­ra­tur in die Wüste schi­cken. Was aber, wenn es kei­ner­lei ver­bind­li­chen Wer­tungs­kri­te­rien gibt? Wie lässt es sich dann erklä­ren, dass man sich in der Lite­ra­tur­kri­tik über die ästhe­ti­sche Qua­li­tät bestimm­ter Texte, z.B. einer Erzäh­lung von Franz Kafka, durch­aus einig ist? Sie sehen, meine Damen und Her­ren, es scheint doch so etwas wie Wert­mass­stäbe zu geben. Aber – und das unter­schei­det diese Mass­stäbe von jenen angeb­lich all­ge­mein­gül­ti­gen der ‚alten‘ Regel­poe­tik – sie grün­den nicht in irgend­ei­ner Zeit­lo­sig­keit, son­dern ganz im Gegen­teil in einem his­to­ri­schen Wan­del, ver­än­dern sich also im Laufe der Geschichte.

Ethisch-politische Aspekte anstelle von ästhetischen

Nur so erklärt es sich bei­spiels­weise, dass Ernst Jandls Sprech­ge­dichte in den 1950er Jah­ren von der Lite­ra­tur­kri­tik als “kul­tu­relle Pro­vo­ka­tion son­der­glei­chen” emp­fun­den und Jandl sel­ber als “Ver­der­ber der Jugend” geschmäht wurde, so dass man ihn in den Fol­ge­jah­ren von Publi­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten in Öster­reich aus­schloss – wäh­rend der glei­che Autor zwan­zig Jahre spä­ter zu den wich­tigs­ten und aner­kann­tes­ten Autoren im deut­schen Sprach­raum gehörte, den man mit öffent­li­chen Ehrun­gen und Prei­sen, vom Gros­sen Öster­rei­chi­schen Staats­preis bis hin zum Büch­ner-Preis gera­dezu über­häufte. So sehr kön­nen sich lite­ra­ri­sche Wert­mass­stäbe im Laufe der Zeit eben ändern. Ihnen lie­gen wech­selnde axio­lo­gi­sche Werte zugrunde, d.h. Mass­stäbe, die Texte als ,wert­voll‘ erschei­nen las­sen, sie als Wert erkenn­bar machen. Ein solch axio­lo­gi­scher Wert kann sich auf rein ästhe­ti­sche, aber auch auf ethisch-poli­ti­sche Aspekte eines Werks bezie­hen. So hatte zum Bei­spiel der Boy­kott Ber­tolt Brechts und sei­ner Thea­ter­stü­cke zwi­schen 1953 und 1962 in West­deutsch­land und noch dras­ti­scher hier in Öster­reich nichts mit des­sen lite­ra­ri­schem Talent, aber sehr viel mit sei­nem Ein­tre­ten für den Kom­mu­nis­mus und vor allem mit sei­ner Sym­pa­thie für das DDR-Regime zu tun, seit er ab 1948 in Ost-Ber­lin lebte. Es waren also nicht ästhe­ti­sche, son­dern viel­mehr ethisch-poli­ti­sche Wert­mass­stäbe, an denen man im Zei­chen des Kal­ten Krie­ges Brechts Werk mass. Dies, liebe Höre­rin­nen und Hörer, nur als ein Bei­spiel, das zei­gen soll, dass häu­fig Wert­mass­stäbe an ein lite­ra­ri­sches Werk ange­legt wer­den, die sich auf rein ethisch-poli­ti­sche Aspekte und kei­nes­wegs auf ästhe­ti­sche bezie­hen. Eine Christa Wolf, ein Gün­ter Grass, die beide inzwi­schen tot sind, hät­ten ein Lied davon sin­gen können.

Das Kriterium des Selbstverständnisses

Band 200x5
“Es muss einen wesent­li­chen Grund dafür geben, auch lite­ra­ri­sche Texte ver­gan­ge­ner Jahr­hun­derte heute noch zu lesen. Ich nenne Ihnen die­sen Grund: Lesen wir ein lite­ra­ri­sches Werk, einen Roman, ein Gedicht, eine Novelle, dann kann es uns gesche­hen, dass nach eini­ger Zeit der Nebel der Fremd­heit zu wei­chen beginnt und wir plötz­lich erken­nen: Die­ses Werk spricht ja von uns! Nicht von unse­rem pri­va­ten Sub­jekt, son­dern von uns, sofern es um exis­ten­ti­elle Grund­er­fah­run­gen, wie etwa Angst, Sorge, Schuld, Rät­sel­haf­tig­keit des Lebens, geht, von denen auch das Werk handelt.”

Aus der Tat­sa­che, ver­ehrte Anwe­sende, dass lite­ra­ri­sche Wer­tungs­kri­te­rien wan­del­bar sind, ergibt sich für uns die For­de­rung, sie bei der Beur­tei­lung lite­ra­ri­scher Texte zurück­hal­tend anzu­wen­den. Dies umso mehr, als uns bewusst sein muss, dass die Lite­ra­tur, gerade in der Moderne, von den unter­schied­lichs­ten Erschei­nungs­for­men lebt.
All die­sen Vor­be­hal­ten zum Trotz habe ich den Ver­such gewagt und im letz­ten Kapi­tel mei­nes Buches: “Die Struk­tur der moder­nen Lite­ra­tur” – Neue For­men und Tech­ni­ken des Schrei­bens” zehn Kri­te­rien genannt, die mei­nes Erach­tens die Qua­li­tät eines lite­ra­ri­schen Tex­tes aus­ma­chen. Auf sie kann ich im Rah­men die­ses Vor­tra­ges nicht näher eingehen.
Auf ein Kri­te­rium möchte ich hier aber doch kurz ein­ge­hen. Ich nenne es das Kri­te­rium des Selbst­ver­ständ­nis­ses und halte es für das wich­tigste Kri­te­rium von Lite­ra­tur über­haupt. Haben Sie sich, liebe Anwe­sende, schon ein­mal gefragt, warum Sie etwa Goe­thes “Faust”, ein Gedicht von Andreas Gry­phius oder eine Novelle von Theo­dor Storm noch lesen, heute, wo es doch mehr als genug zeit­ge­nös­si­sche Lite­ra­tur zu lesen gibt? Die Ant­wort, es handle sich um ästhe­tisch beson­ders wert­volle Lite­ra­tur, die zudem kano­ni­siert sei, ver­mag uns kaum ganz zu befrie­di­gen. Wert­volle Lite­ra­tur gibt es näm­lich auch heute. Es muss wohl noch einen andern, wesent­li­che­ren Grund dafür geben, auch lite­ra­ri­sche Texte ver­gan­ge­ner Jahr­hun­derte heute noch zu lesen. Ich nenne Ihnen die­sen Grund: Lesen wir ein lite­ra­ri­sches Werk, einen Roman, ein Gedicht, eine Novelle, dann kann es uns gesche­hen, dass nach eini­ger Zeit der Nebel der Fremd­heit zu wei­chen beginnt und wir plötz­lich erken­nen: Die­ses Werk spricht ja von uns! Nicht von unse­rem pri­va­ten Sub­jekt, son­dern von uns, sofern es um exis­ten­ti­elle Grund­er­fah­run­gen, wie etwa Angst, Sorge, Schuld, Rät­sel­haf­tig­keit des Lebens, geht, von denen auch das Werk han­delt. Wenn uns bei­spiels­weise Franz Kaf­kas Para­bel “Vor dem Gesetz” heute nach 100 Jah­ren, noch packt, so des­halb, weil sie in gül­ti­ger Form zeigt, wie der Mensch immer von Neuem ver­sucht, sei­ner Exis­tenz einen Sinn abzu­ge­win­nen, auch wenn er weiss, dass die­ser Ver­such in einer sinn­ent­leer­ten Welt zum Schei­tern ver­ur­teilt ist. Und wenn ein Max Frisch in sei­nem Stück “Andorra” zeigt, wie die Andor­ra­ner durch ihre kol­lek­ti­ven Vor­ur­teile einen Men­schen ver­nich­ten, dann schei­nen diese Andor­ra­ner etwas bei­spiel­haft zu ver­kör­pern, was uns alle angeht.

Hic tua res agitur…

Band 400x20
Der Buch­markt 2014 in Deutsch­land
Die Buch­bran­che schloss das ver­gan­gene Jahr mit einem leich­ten Minus ab: Die Ein­nah­men sind um 2,2 Pro­zent gefal­len – von 9,54 auf 9,32 Mil­li­ar­den Euro. Der sta­tio­näre Buch­han­del konnte trotz Umsatz­schmä­le­rung im Ver­gleich zum Vor­jahr Markt­an­teile zurück­er­obern und sichert sich mit 4,58 Mil­li­ar­den Euro 49,2 Pro­zent aller Bran­chen­um­sätze (2013: 48,6 Pro­zent, 2005: 54,8 Prozent).Der Inter­net­buch­han­del ver­liert hin­ge­gen deut­lich Umsatz­an­teile. Er erwirt­schaf­tete letz­tes Jahr 1,51 Mil­li­ar­den Euro (minus 3,1 Pro­zent im Ver­gleich zu 2013), was einen Anteil am Gesamt­um­satz von 16,2 Pro­zent aus­macht.
Und so setzt sich der Gesamt­um­satz kom­plett zusam­men: Sor­ti­ments­buch­han­del 4.583 Mio. Euro (49,2 %), Ver­lage direkt 1.904 Mio. Euro (20,4 %), Inter­net­buch­han­del 1.511 Mio. Euro (16,2 %), sons­tige Ver­kaufs­stel­len 922 Mio. Euro (9,9 %), Ver­sand­buch­han­del 161 Mio. Euro (1,7 %), Buch­ge­mein­schaf­ten 122 Mio. Euro (1,3 %), Waren­häu­ser 117 Mio. Euro (1,3 %).
Auch die Ver­lage, die in den letz­ten Jah­ren eine posi­tive Umsatz­ent­wick­lung erzie­len konn­ten, ver­bu­chen 2014 ein leich­tes Minus von 0,4 Pro­zent. Und so stel­len sich die Ergeb­nisse der Geschäfts­fel­der dar: Online-Dienste plus 0,8 Pro­zent, Zeit­schrif­ten­ge­schäft plus 1,2 Pro­zent, Neben­rechte minus 8,1 Pro­zent, klas­si­sches Buch­ge­schäft minus 0,7 Prozent.

Preis­ent­wick­lung
Bücher waren in den ver­gan­ge­nen Jah­ren teil­weise von der all­ge­mei­nen Auf­wärts­be­we­gung der Ver­brau­cher­preise abge­kop­pelt. Das Jahr 2012, in dem die Buch­preise (plus 1,9 Pro­zent) mit den Ver­brau­cher­prei­sen (plus 2,0 Pro­zent) nahezu gleich zie­hen konn­ten, brachte die Wende. 2014 klet­ter­ten die Preise für Bücher um 1,8 Pro­zent nach oben (Ver­gleich: Ver­brau­cher­preise plus 0,9 Pro­zent).
Der Durch­schnitts­la­den­preis der Neu­erschei­nun­gen (alle Sach­grup­pen zusam­men betrach­tet) betrug letz­tes Jahr 26,20 Euro.

Das E-Book in Deutsch­land: Umsatz und Absatz
Der E-Book-Umsatz­an­teil am Publi­kums­markt (pri­va­ter Bedarf, ohne Schul- und Fach­bü­cher) in Deutsch­land betrug letz­tes Jahr 4,3 Pro­zent (2013: 3,9 Pro­zent), dabei han­delt es sich um einen Anstieg um 7,6 Pro­zent. Ver­gleich: Von 2012 auf 2013 konn­ten die E-Book-Umsätze noch um 60,5 Pro­zent zule­gen.
Der Absatz von E-Books ist im letz­ten Jahr um 15 Pro­zent gestie­gen: Am Pri­vat­kun­den­markt wur­den 24,8 Mil­lio­nen E-Books abge­setzt (2013: 21,5 Mil­lio­nen). Beim E-Book gilt, ana­log zum Print­buch, die Buch­preis­bin­dung. Der feste Laden­preis für digi­tale Bücher, der die Viel­falt im Buch­han­del erhal­ten und vor einem rui­nö­sen Wett­be­werb im Inter­net schüt­zen soll, wird jetzt nach dem Wil­len der Bun­des­re­gie­rung noch ein­mal expli­zit im Buch­preis­bin­dungs­ge­setz verankert.

Buch­pro­duk­tion
Die Gesamt­zahl der in Deutsch­land erschie­nen Bücher ist 2014 deut­lich gesun­ken. Fasst man Erst- und Neu­auf­la­gen zusam­men, dann sind 87.134 Titel auf den Markt gekom­men – der nied­rigste Wert seit zehn Jah­ren. 2013 waren es noch 93.600 Titel. Aller­dings: E-Books und Print-on-Demand-Titel sind nur zu klei­nen Tei­len erfasst. Der Wachs­tums­markt Self­pu­bli­shing bleibt bei die­ser Betrach­tung also weit­ge­hend aus­sen vor.

Titel­pro­duk­tion nach Sach­grup­pen
Die meis­ten Novi­tä­ten (= Erst­auf­la­gen) gehen 2014 wie­der auf das Konto der Bel­le­tris­tik, die 19,1 Pro­zent zur Gesamt­pro­duk­tion bei­gesteu­ert hat, das sind alles in allem 14.111 Titel (2013: 15.610 Titel).
Auf Platz 2 folgt tra­di­tio­nell die Deut­sche Lite­ra­tur, die geson­dert aus­ge­wie­sen wird (auch wenn es Über­schnei­dun­gen geben dürfte) und, anders als die rein bel­le­tris­ti­sche Kate­go­rie, unter ande­rem auch lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Titel bün­delt. Sie stellt mit 10.487 Titeln einen Anteil von 14,2 Pro­zent.
Die dritte Posi­tion gehört, ana­log zu den Vor­jah­ren, dem Kin­der- und Jugend­buch, das jetzt 8.142 Erst­auf­la­gen zur Jah­res­pro­duk­tion bei­steu­ert. Das ist ein Anteil von 11,0 Pro­zent. Das Schul­buch liegt mit einem Anteil von 6,0 Pro­zent auf dem vier­ten Platz, das sind alles in allem 4.399 Titel.

(Quelle: „Buch und Buch­han­del in Zah­len 2015“, Hrsg.: Bör­sen­ver­ein des Deut­schen Buch­han­dels e.V., Frank­furt am Main, Juli 2015)

Was hat das alles mit lite­ra­ri­scher Wer­tung zu tun?”, wer­den Sie mich fra­gen. Sehr viel, meine Damen und Her­ren. Zum Wesen guter Lite­ra­tur gehört es näm­lich, dass der Leser spürt, dass es in einer Erzäh­lung, einem Roman, einem Thea­ter­stück nicht um irgend­et­was, son­dern letzt­lich um ihn sel­ber geht. Die Dich­ter des baro­cken Jesui­ten­thea­ters haben dafür die latei­ni­sche For­mel “Hic tua res agi­tur” ver­wen­det, wört­lich über­setzt “Hier wird deine Sache ver­han­delt”. Es steht mit der Dich­tung wie mit den Gleich­nis­sen Jesu im Neuen Tes­ta­ment, wo wir bei der Lek­türe auch spü­ren, dass, wenn vom ver­lo­re­nen Sohn, vom Pha­ri­säer und vom Zöll­ner, von den törich­ten Jung­frauen die Rede ist, eigent­lich wir gemeint sind. ‚Schlechte‘ Dich­tung, ver­ehrte Anwe­sende, bleibt in der Dumpf­heit des Pri­va­ten ste­cken, berührt mich daher als Leser auch nicht, wirkt nach der Lek­türe – und das ist ent­schei­dend – auch nicht wei­ter, ,gute‘ hin­ge­gen über­steigt das Pri­vate ins All­ge­mein­mensch­li­che, lässt exis­ten­ti­elle Grund­er­fah­run­gen sicht­bar wer­den, die jeden von uns angehen.

Immer mehr produzierte Bücher für immer weniger Menschen

Soweit, meine Damen und Her­ren, ein paar Worte zur Wer­tung von Lite­ra­tur. Keh­ren wir damit zum eigent­li­chen Thema unse­res Vor­trags, zum Lite­ra­tur­be­trieb, zurück.
Die deut­sche Lite­ra­tur steckt zur­zeit in einer gera­dezu para­do­xen Situa­tion: Obwohl seit Jah­ren immer weni­ger Men­schen Bücher kau­fen, wer­den immer mehr Bücher pro­du­ziert. Wäh­rend Buch­hand­lun­gen schlies­sen, Ver­lage vor dem Aus ste­hen und Autoren über immer gerin­gere Auf­la­gen und schwin­den­des Inter­esse kla­gen, wird auf­ge­legt, was auch immer zwi­schen zwei Buch­de­ckel geht. Allein in Deutsch­land erschei­nen jedes Jahr rund 80‘000 neue Bücher. Über den Ver­sand­han­del sind zudem über 500‘000 unter­schied­li­che Bücher erhält­lich und in Gross­buch­hand­lun­gen war­ten jeweils über 100‘000 Bücher auf ihre Käu­fer. Es gibt keine andere Bran­che, die sich mit der­art vie­len unter­schied­li­chen Pro­duk­ten an ihre Kun­den rich­tet. So erstaunt es nicht, dass hun­dert­tau­sende von Büchern wenige Wochen nach ihrem Erschei­nen schon wie­der vom Markt ver­schwun­den sind, denn Bücher haben nur eine kurze Zeit, sich am Markt zu behaup­ten. Hard­co­ver, die sich in den ers­ten zwei Mona­ten nach ihrem Erschei­nen nicht durch­set­zen, wer­den sofort wie­der aus dem Pro­gramm ent­fernt. Es gibt Bücher renom­mier­ter Autoren wie Wal­ter Kem­pow­ski, des­sen “Letzte Grüsse” zwei Monate nach Erschei­nen schon wie­der aus den Buch­hand­lun­gen ver­schwan­den, weil sie nicht aus­rei­chend ver­kauft wur­den. Erfolg oder Miss­erfolg eines Buches lässt sich aber meist nicht vor­her­se­hen. Daher ist es ver­ständ­lich, dass die Ver­lage grosse finan­zi­elle Risi­ken scheuen, wenn sie neue Bücher auf dem Markt eta­blie­ren wollen.

Bücherflut als literarisches Problem

Und noch etwas, ver­ehrte Anwe­sende. Die heu­tige Über­pro­duk­tion von Büchern stellt nicht nur ein öko­no­mi­sches, son­dern auch ein lite­ra­ri­sches Pro­blem dar. Denn die Bücher­flut bringt ja nicht immer mehr Meis­ter­werke her­vor; sie för­dert viel­mehr das Mit­tel­mass. Des­sen unge­ach­tet schrei­ben unzäh­lige Roman­au­to­ren wie am Fliess­band. Ich kenne einen Autor, der mir vor eini­gen Tagen von sei­nem neuen Roman­pro­jekt, an dem er arbeite, berich­tet hat – und dies, obwohl sein eben fer­tig­ge­stell­ter Roman erst im Druck ist. Sol­che Viel­schrei­be­reien haben in den letz­ten Jah­ren dazu geführt, dass die Erst­auf­la­gen der Bücher immer klei­ner wur­den und dass es nur noch zu weni­gen Neu­auf­la­gen kommt, weil sich diese für die Ver­lage häu­fig nicht rech­nen. Wer heute mehr als 5‘000 Exem­plare sei­nes Buches ver­kauft, gilt schon als sehr erfolg­reich; die meis­ten Autoren müs­sen sich mit weni­ger als 3‘000 ver­kauf­ten Büchern zufrie­den geben.

Konzentration auf wenige Titel, Autoren, Verlage

Der lite­ra­ri­sche Markt kon­zen­triert sich heute immer stär­ker auf einige wenige Titel, Autoren und Ver­lage, wäh­rend die über­wie­gende Mehr­heit der Bücher, unab­hän­gig von ihrer lite­ra­ri­schen Qua­li­tät, mehr oder weni­ger in der Ver­sen­kung ver­schwin­den. Der Tübin­ger Autor Joa­chim Zel­ter drückte das in einem Inter­view in der “Süd­west Presse” kürz­lich so aus: “Man kann mit einem unsäg­li­chen Roman den Durch­bruch schaf­fen oder eine Perle nach der andern schrei­ben und damit gar nichts errei­chen.” Meine Damen und Her­ren, wie recht er hat! Der Lite­ra­tur­be­trieb ist in den letz­ten Jah­ren immer irra­tio­na­ler gewor­den. Ob ein Roman, ein Gedicht­band Erfolg hat, nie­mand weiss das zum Vor­aus. Nicht ein­mal Lek­to­ren, die sich pro­fes­sio­nell mit Lite­ra­tur befas­sen, erken­nen immer, wann sie ein Manu­skript für einen Buch­erfolg auf dem Tisch haben. Die Geschichte von Joanne K. Row­ling, die mit dem ers­ten “Harry Potter”-Manuskript bei meh­re­ren Ver­la­gen abblitzte und der man schliess­lich riet, doch einen “nor­ma­len” Job zu suchen, ist nur eines von unzäh­li­gen Beispielen.

Band 200x5
“Die heu­ti­gen Autorin­nen und Autoren las­sen sich die The­men für ihre Werke immer häu­fi­ger von den aktu­el­len jour­na­lis­ti­schen Trends vor­ge­ben. So stel­len wir heute eine signi­fi­kante Häu­fung von The­men wie Part­ner­stress, Migra­tion und vor allem Fami­lie und Kind­heit fest. Fami­li­en­ro­mane und Kind­heits­ge­schich­ten, die letz­te­ren häu­fig als Fall­stu­dien am Rande des Erwach­sen­wer­dens, befin­den sich seit etwa 2000 denn auch im deut­li­chen Auf­wind. Man muss kein Pro­phet sein, um vor­her­zu­sa­gen, dass das bevor­zugte lite­ra­ri­sche Thema der kom­men­den Jahr­gänge der Kli­ma­wan­del sein wird. Dass diese zuneh­mende Stan­dar­di­sie­rung der The­men zu einer gewis­sen Uni­for­mie­rung der zeit­ge­nös­si­schen Lite­ra­tur geführt hat, lässt sich kaum mehr übersehen.”

Was sich den­noch eini­ger­mas­sen sagen lässt, ist das Fol­gende: Die heu­ti­gen Autorin­nen und Autoren las­sen sich die The­men für ihre Werke immer häu­fi­ger von den aktu­el­len jour­na­lis­ti­schen Trends vor­ge­ben. So stel­len wir heute eine signi­fi­kante Häu­fung von The­men wie Part­ner­stress, Migra­tion und vor allem Fami­lie und Kind­heit fest. Fami­li­en­ro­mane und Kind­heits­ge­schich­ten, die letz­te­ren häu­fig als Fall­stu­dien am Rande des Erwach­sen­wer­dens, befin­den sich seit etwa 2000 denn auch im deut­li­chen Auf­wind. Man muss kein Pro­phet sein, um vor­her­zu­sa­gen, dass das bevor­zugte lite­ra­ri­sche Thema der kom­men­den Jahr­gänge der Kli­ma­wan­del sein wird. Dass diese zuneh­mende Stan­dar­di­sie­rung der The­men zu einer gewis­sen Uni­for­mie­rung der zeit­ge­nös­si­schen Lite­ra­tur geführt hat, lässt sich kaum mehr über­se­hen. Beson­ders gut zu beob­ach­ten ist dies in Tex­ten von Absol­ven­ten der Schreib­schu­len oder von Work­shops, die ihre The­men meist so wäh­len, dass sie mög­lichst medi­en­kon­form sind.

Der gegängelte Autor

Aber nicht nur diese Insti­tu­tio­nen trei­ben die Uni­for­mie­rung der Lite­ra­tur voran, die Ver­lage sel­ber tun es auch. Denn immer häu­fi­ger sagen sie dem Autor, was er schrei­ben soll, wie lange ein Text sein darf, für wel­che Ziel­gruppe er zurecht­ge­schus­tert wer­den muss und wann der Abga­be­ter­min ist. Der Titel, das Cover und der Klap­pen­text wer­den häu­fig fest­ge­legt, bevor das neue Buch auch nur einen Satz lang ist, also zu einem Zeit­punkt, zu dem es nur aus einer Idee besteht, die der Autor in einem kur­zen Exposé for­mu­liert hat. Diese ver­le­ge­ri­schen Vor­ga­ben, die den Autor – nen­nen wir es ruhig beim Namen – zum Schreib­skla­ven machen, blei­ben nicht ohne Fol­gen: Die Lite­ra­tur gerät zuneh­mend in Gefahr, immer öder und aus­tausch­ba­rer zu werden.

Liebe Zuhö­re­rin­nen und Zuhö­rer, ich möchte mei­nen Vor­trag nicht in Pes­si­mis­mus aus­klin­gen las­sen, son­dern zum Schluss doch erwäh­nen, dass es bei aller Kom­mer­zia­li­sie­rung der Buch­bran­che hier in Öster­reich, in Deutsch­land, in der Schweiz noch immer Men­schen gibt, für die das Buch keine Ware ist und der Umgang mit ihm kein blos­ses Geschäft, son­dern nach wie vor eine Obses­sion, der man nach­geht – buch­stäb­lich um jeden Preis und ohne Rück­sicht auf Ver­luste. Und wo sol­che Men­schen sind, bekommt auch die Lite­ra­tur, bekommt auch das Wort wie­der eine Chance. ♦

1) Der Text geht auf ein Refe­rat zurück, das der Ver­fas­ser am 25. Sep­tem­ber 2015 in der Stei­ri­schen Lan­des­bi­blio­thek Graz anläss­lich der Jah­res­ver­samm­lung der IGdA (Inter­es­sen­ge­mein­schaft deut­scher Autoren) hielt. Wir dan­ken Autor Mario Andreotti für die exklu­sive Publi­ka­ti­ons­be­rech­ti­gung im “Glarean Magazin”.


Mario AndreottiProf. Dr. Mario Andreotti

Geb. 1947, Stu­dium der Ger­ma­nis­tik und Geschichte in Zürich, 1975 Pro­mo­tion über Jere­mias Gott­helf, 1977 Diplom des höhe­ren Lehr­am­tes, danach Lehr­tä­tig­keit am Gym­na­sium und als Lehr­be­auf­trag­ter für Sprach- und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät St. Gal­len und an der Päd­ago­gi­schen Hoch­schule Vor­arl­berg, lang­jäh­ri­ger Refe­rent in der Fort­bil­dung für die Mit­tel­schul-Lehr­kräfte und Lei­ter von Schrift­stel­ler­se­mi­na­rien, seit 1996 Dozent für Lite­ra­tur und Lite­ra­tur­theo­rie an der Zür­cher Fach­hoch­schule für Ange­wandte Lin­gu­is­tik; Ver­fas­ser meh­re­rer Publi­ka­tio­nen und zahl­rei­cher Bei­träge zur moder­nen Dich­tung, dar­un­ter das Stan­dard­werk: Die Struk­tur der moder­nen Lite­ra­tur; Mario Andreotti lebt in Eggersriet/CH

Lesen Sie im Glarean Maga­zin auch von Mario Andreotti:

… sowie zum Thema Schwei­zer Ver­lage über die Bio­gra­phie von Eli­sa­beth Raabe: Eine Arche ist eine Arche…

Aus­ser­dem zum Thema Lite­ra­tur und Geschichte Neue Rund­schau (Heft 2018/3) – Jen­seits der Erzählung

2 Kommentare

  1. Eigent­lich meinte ich, mit dem Thema abge­schlos­sen zu haben, nach­dem ich vor zwei Jah­ren “mei­nen” Ver­lag auf­gab. Muss lei­der lesen, dass ich recht getan habe. Was heißt “lei­der” – es gibt kei­nen Grund zum Bedau­ern – wer Ver­le­ger sein möchte, muss Geld mitbringen.

  2. eine her­vor­ra­gende bestan­des­auf­name, herr dr. andreotti. gra­tu­la­tion zu die­sem infor­ma­ti­ven bei­trag!!! wenn­gleich: doch etwas gar kri­tisch, mei­nes E.: gerade die jüngste autoren-gene­ra­tion mit ihrem unver­krampf­ten ver­hält­nis z.b. zum book on demand prin­zip beweist viel anti-main­stream und the­ma­ti­sche unab­hän­gig­keit!! schade auch dass z.b. der nach wie vor boo­mende zweig e-book etwas zu kurz kam im artikel.
    trotz­dem: sel­ten eine so klare und stich­hal­tige zusam­men­fas­sung der maro­den buch­wirt­schaft gelesen.
    danke: san­dra schä­fer berlin

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)