Robert Johnson: Adolf Anderssen (Schach-Biographie)

Rückschau auf die Schach-Romantik

von Ralf Binnewirtz

Es mag wun­der­lich klin­gen, dass sich ein aus­tra­li­scher Voll­zeit-Schaf­züch­ter hin­ge­bungs­voll einer deut­schen Schach­größe des 19. Jahr­hun­derts wid­met und die Ergeb­nisse sei­ner lang­jäh­ri­gen Recher­chen in Buch­form vor­legt. Indes hat sich Robert John­son hier­mit einen Lebens­traum erfüllt, denn bereits als 11-Jäh­ri­ger hatte er sich nach­hal­tig für Adolf Anders­sen begeis­tert. 16 Jahre spä­ter, 1993, nahm John­son die Arbeit an sei­nem Buch auf, die sich – unvor­her­seh­bar – über ein gutes Vier­tel­jahr­hun­dert erstre­cken sollte. Soweit zur Ent­ste­hungs­ge­schichte des “bis­lang bes­ten aus­tra­li­schen Schach­buchs” (nach Bob Mead­ley), das in die­sem Jahr im Selbst­ver­lag des Autors erschie­nen ist: Adolf Anders­sen – Com­bi­na­tive Chess Genius.

Eigent­lich hätte die­ser schmu­cke, groß­for­ma­tige und schwer­ge­wich­tige Band zum 200. Geburts­tag von Adolf Anders­sen am 6. Juli 2018 das Licht der Schach­welt erbli­cken sol­len, aber dies war dem Autor (und der Schach­welt) nicht ver­gönnt. Schauen wir uns näher an, wie John­son sein Opus Magnum kon­zi­piert und inhalt­lich prä­pa­riert hat.

Adolf Anderssen - Combinative Chess Genius - Schach-Biographie Robert Johnson - Buch-Rezensionen Glarean MagazinAuf das Vor­wort des Autors folgt mit zehn bio­gra­fi­schen Kapi­teln der Haupt­teil des Wer­kes: Dem jewei­li­gen rein bio­gra­fi­schen Part ist eine Aus­wahl kom­men­tier­ter Par­tien nach­ge­stellt, die dem behan­del­ten Zeit­raum oder Ereig­nis zuge­ord­net sind. Über das ganze Buch ver­teilt sind außer­dem 36 große Bild­ta­feln (von Anders­sen selbst bzw. den gro­ßen Meis­tern jener Zeit und von ein­zel­nen Gebäu­den, sowie drei in Farbe von Anders­sens Grabstätte).

Ausnahmespieler mit menschlicher Größe

Der bio­gra­fi­sche Teil ver­mit­telt die Fak­ten und Erkennt­nisse, die der Autor zusam­men­ge­tra­gen hat über den Gym­na­si­al­pro­fes­sor aus Bres­lau (in den Fächern Mathe­ma­tik und Deutsch) und den zeit­wei­lig stärks­ten Schach­spie­ler der Welt (1851-57; 1860-66), der in Lon­don 1851 das erste Schach­tur­nier der Neu­zeit gewann und wie kein ande­rer die roman­ti­sche Epo­che des Schachs ver­kör­pert und geprägt hat.

Anzeige Amazon - Neue Berliner Schachzeitung (Erster Jahrgang) - Adolf Anderssen
Anzeige

In einem der Kapi­tel wird ins­be­son­dere der Mensch Anders­sen beleuch­tet, der keine eigene Fami­lie grün­dete, aber in sei­nem beruf­li­chen wie schach­li­chen Umfeld ein hohes Anse­hen genoss und in Fair­ness, Cha­rak­ter und Inte­gri­tät sei­nes­glei­chen suchte. Das hier ent­wor­fene Bild Anders­sens wird unter­mau­ert und ver­tieft durch zahl­rei­che in den Text ein­ge­streute Zitate aus alten Quel­len, die zum Lese­ge­nuss erheb­lich beitragen.

Ein Schatz magischer Partien

Die im Buch repro­du­zier­ten 80 (nicht aus­schließ­lich Gewinn-)Partien des vir­tuo­sen Kom­bi­na­ti­ons­künst­lers Anders­sen sind weit­ge­hend mit his­to­ri­schen Kom­men­ta­ren und Ana­ly­sen ver­se­hen, hin und wie­der hat John­son (ein lang­jäh­ri­ger Fern­schach­spie­ler) eigene Anmer­kun­gen bei­gesteu­ert. Sicher­lich ist diese Kom­men­tie­rung für die Mehr­zahl der Leser völ­lig aus­rei­chend. Wer ein­zelne Ana­ly­sen ver­tie­fen möchte, muss wohl oder übel die eigene Engine bemü­hen.1)

Adolf Anderssen - Combinative Chess Genius - Schach-Biographie Robert Johnson - Probeseite - Buch-Rezensionen Glarean Magazin
Pro­be­seite aus Robert John­son: Adolf Anders­sen – Com­bi­na­tive Chess Genius

An unge­wöhn­li­cher Stelle, direkt im Anschluss an das Fron­ti­spiz, fin­den sich zwei tabel­la­ri­sche Auf­stel­lun­gen zu Anders­sens Tur­nier- und Match­er­geb­nis­sen (mit den Tur­nier­plat­zie­run­gen sowie der Zahl der Gewinn-, Remis- und Ver­lust­par­tien). Die zuge­hö­ri­gen Tur­nier­ta­bel­len wur­den nicht ins Buch auf­ge­nom­men, gege­be­nen­falls sind diese vom Leser in ande­ren Quel­len nachzuschlagen.
Apro­pos Anders­sen-Par­tien: Adolf Anders­sen ist bekannt­lich der Gewin­ner der sog. Unsterb­li­chen Par­tie, die im Jahre 1851 in Lon­don zwi­schen ihm und dem Schach­meis­ter Lio­nel Kie­se­ritzky aus­ge­tra­gen wurde und ob ihres kom­bi­na­to­ri­schen Feu­er­werks zur wohl berühm­tes­ten Par­tie der Schach­ge­schichte avancierte.

Stiefmütterlich behandeltes Problemschaffen

Was mir indes­sen allzu kurz kommt, ist das Pro­blem­schaf­fen Adolf Anders­sens – ledig­lich erwähnt wird im ers­ten Kapi­tel sein Büch­lein Auf­ga­ben für Schach­spie­ler von 1842. Schließ­lich hat Anders­sen auch auf dem Gebiet des künst­le­ri­schen Schach­pro­blems eine beacht­li­che Pio­nier­ar­beit geleis­tet2), und eine kleine Aus­wahl sei­ner Kom­po­si­tio­nen, fach­kun­dig im Buch bespro­chen, hätte der Bedeu­tung die­ser Leis­tung Rech­nung getragen.

Anzeige Amazon: Livinguard – PRO MASK | 3-Lagige Gesichtsmaske | Verstellbar, Waschbar, Wiederverwendbar (Black, XL)
Anzeige

Auch wenn diese Bio­gra­fie kein rei­ner Bild­band ist, so ist sie doch in ihrer hoch­wer­ti­gen Aus­stat­tung einem cof­fee-table book ver­gleich­bar. Ins­be­son­dere das aus­neh­mend attrak­tive Design des Vor­der­de­ckels, die zahl­rei­chen his­to­ri­schen Bil­der und der Druck auf schwe­rem Glanz­pa­pier wer­den das biblio­phile Samm­ler­herz erfreuen. Eine nette Zugabe des Autors: für den Ver­kauf vor­ge­se­hene Exem­plare der rela­tiv klei­nen Auf­lage (von 204 Stück) wer­den von ihm auf dem Vor­satz signiert und datiert.

Diskutable Typographie

An der typo­gra­fi­schen Gestal­tung wer­den sich ver­mut­lich die Geis­ter schei­den: Ist die Schrift in Gott­schalls Anders­sen-Bio­gra­fie (1912) so win­zig gera­ten, dass man bei län­ge­rem Lesen eine Schä­di­gung sei­ner Augen befürch­ten muss, so hat John­son mit der Wahl einer beson­ders gro­ßen (seri­fen­lo­sen) Schrift das Gegen­teil ange­strebt – zumin­dest für seh­schwa­che Leser ein Vor­teil. Aber vor­nehm­lich bei den Par­tien ergibt sich hier­aus im Ver­ein mit dem durch­gän­gig ver­wen­de­ten Flat­ter­satz ein ins­ge­samt wenig har­mo­ni­sches Schrift­bild, dem ich etwas ambi­va­lent gegenüberstehe.
Die Farb­ge­bung (hell- und mit­tel­graue Fel­der) bei den Dia­gram­men scheint mir ganz annehm­bar, aber letz­tere wären ohne die rundum lau­fen­den, m. E. ent­behr­li­chen Brett­ko­or­di­na­ten frag­los ansehn­li­cher aus­ge­fal­len. Zudem führt die statt­li­che Größe der Dia­gramme man­ches Mal zum vor­zei­ti­gen Sei­ten­um­bruch (mit erheb­li­chem Leer­raum), wenn ein Dia­gramm nicht mehr unten auf die Seite passt. Zu den hier ver­wen­de­ten Apro­nus-Dia­gram­men gibt es natür­lich auch zufrie­den­stel­lende Alternativen.

Liebens- und lesenswerte Hommage

Adolf Anderssen - Combinative Chess Genius - Schach-Biographie Robert Johnson - Matt in sechs Zügen - Glarean Magazin
“Das Tor zur moder­nen Epo­che des Schach­pro­blems auf­ge­sto­ßen”: Adolf Anders­sen als Pro­blem­schach-Kom­po­nist: Weiss setzt in sechs Zügen matt!

Das Buch schließt mit einem Nach­druck von Stei­nitz‘ wort­rei­chem Nekro­log auf Anders­sen aus The Field 1879, einer nahezu 3-sei­ti­gen Biblio­gra­fie sowie den Indi­zes der Par­tie­geg­ner und Eröff­nun­gen. Nen­nens­werte Feh­ler sind mir kaum auf­ge­fal­len.3) Warum auf der inne­ren Titel­seite diese Bio­gra­fie als “auto­bio­gra­phy” bezeich­net wird, bleibt eine offene Frage. Ansons­ten dürfte diese lesens­werte Hom­mage auf das deut­sche Kom­bi­na­ti­ons­ge­nie nicht nur im anglo­ame­ri­ka­ni­schen Sprach­raum auf leb­haf­tes Inter­esse sto­ßen. Da – neben der erbau­li­chen Lek­türe des bio­gra­fi­schen Teils – auch die tak­tisch ful­mi­nan­ten Par­tien beste Unter­hal­tung garan­tie­ren, kann ich für die­ses Werk eine klare Emp­feh­lung aus­spre­chen. In der deut­schen Schach­li­te­ra­tur wird nach wie vor eine moderne und zugleich erschöp­fende, d.h. die ulti­ma­tive Anders­sen-Bio­gra­fie, ver­misst – ob sie jemals erschei­nen wird? ♦

1)Mir fiel auf, dass John­son zwei deut­sche Tur­nier­bü­cher in sei­ner Biblio­gra­fie nicht berück­sich­tigt hat: Dr. Mario Zieg­ler: Das Schach­tur­nier Lon­don 1851, St. Ing­bert 2013 [mit com­pu­ter­ge­stütz­ten Ana­ly­sen]; und Ste­fan Haas: Das Schach­tur­nier zu Baden-Baden 1870 – Der unbe­kannte Schach­meis­ter Adolf Stern, Lud­wigs­ha­fen 2006.

2)“Dabei ist Anders­sens Bedeu­tung für die Ent­wick­lung der Pro­blem­kunst nicht weni­ger hoch ein­zu­schät­zen als seine Leis­tun­gen … im Kampf Mann gegen Mann … Er … ging in sei­nen Auf­ga­ben weit über das hin­aus, was Stamma und die Moden­e­sen an tak­ti­schen Fines­sen auf­zu­wei­sen hat­ten; er ver­fei­nerte und ver­tiefte den Inhalt, die ‚Kom­bi­na­tion‘, ver­zich­tete ihr zuliebe viel­fach schon auf den äuße­ren Schein einer par­tie­ge­mä­ßen Auf­stel­lung und wagte es als ers­ter, den ‚stil­len‘, nicht schach­bie­ten­den Zug, der vor ihm allen­falls als Ruhe- und Höhe­punkt im spä­te­ren Ver­lauf der Lösung Ver­wen­dung gefun­den hatte, an den Anfang zu stel­len. Damit war das Tor zur moder­nen Epo­che des Schach­pro­blems auf­ge­sto­ßen.” (Her­bert Gra­se­mann in Pro­blem­schach, Ber­lin 1955, S. 15)
Eine gänz­lich umge­ar­bei­tete Zweit­auf­lage von Anders­sens Büch­lein erschien 1852. Die Schwalbe-PDB ent­hält 85 Pro­bleme Anderssens.

3)In Par­tie 18 muss es Herr­mann Poll­mä­cher hei­ßen statt Her­mann Pollmacher.

Robert John­son: Adolf Anders­sen – Com­bi­na­tive Chess Genius, 353 Sei­ten, Clark & Mackay Self Publi­shing, Bris­bane (Aus­tra­lia), ISBN 978-0-646-81614-2 – Ver­trieb: Tony Peter­son

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Schach-Bio­gra­phien auch über Alex­an­der Mün­ning­hoff: Hei­ner Donner


7 Kommentare

  1. Für eine Kauf­ent­schei­dung wich­tig wäre, was die­ses Buch einem Leser, der andere Publi­ka­tio­nen über Anders­sen bereits kennt – bei­spiels­weise die Bio­gra­phie und Par­tien­samm­lung von Her­mann von Gott­schall -, Neues bringt. Oder rich­tet sich die­ses Werk in ers­ter Linie an schach­ge­schicht­lich Inter­es­sierte, die über Anders­sen bis­lang nichts wis­sen? Und was bie­ten die 36 Bild­ta­feln – han­delt es sich bei den Abbil­dun­gen von Per­so­nen um sol­che, die aus der Schach­li­te­ra­tur bereits satt­sam bekannt sind?

    • The book con­ta­ins 80 games and a bio­gra­phy. Some of the games are from Fritz Riemann’s book, and are not found in Gott­schall. The games are given mainly with con­tem­po­rary notes from the play­ers of the time. The bio­gra­phy con­ta­ins details and sto­ries of Anders­sen, some sourced from Gott­schall, but others from Eng­lish chess columns and books. The pho­tos are a mix­ture – some of Anders­sen, some of the mas­ters he played, three colour pho­tos of his grave in Wro­claw, and three of buil­dings asso­cia­ted with his life, the Eli­sa­beth Gym­na­sium, the Uni­ver­sity of Bres­lau, and the Fried­richs Gym­na­sium. The aim of the book was to pro­vide a detailed account of Anderssen’s life and of chess life in the nine­te­enth cen­tury, anyone inte­res­ted in that chess era should find it interesting.

  2. The book is indeed a bio­gra­phy, not an auto­bio­gra­phy, and that error will be cor­rec­ted in any future edi­ti­ons of my book. Robert Johnson.

  3. Wie und wo kann man das Werk beziehen?
    Auch die Zweit­auf­lage von Anders­sens Pro­blem­sam­mung ent­hielt ledig­lich 60 Aufgaben.

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)