Mario Ziegler: Das Schachturnier London 1851

Monographie zu einem Schach-Meilenstein

von Thomas Binder

Das Schach­tur­nier Lon­don 1851 mar­kiert ei­nen Mei­len­stein in der Ge­schich­te des Schachs als Wett­kampf­sport. Zum ers­ten Mal tra­fen ei­ni­ge der an­er­kann­ten Meis­ter in ei­nem Tur­nier auf­ein­an­der. Bis da­hin hat­ten sich die Bes­ten der Bes­ten nur in Match-Zwei­kämp­fen ge­gen­über ge­stan­den. In Lon­don nun mas­sen sich 16 Spie­ler, dar­un­ter gut zur Hälf­te Ak­teu­re, die man nach heu­ti­gem Ver­ständ­nis etwa zu den Top-20 der Su­per-Gross­meis­ter zäh­len würde.

Mario Ziegler - Das Schach-Turnier London 1851 - Chesscoach-VerlagDen Über­gangs­cha­rak­ter der Ver­an­stal­tung ver­deut­li­chen auch die Re­gu­la­ri­en. So war “Lon­don 1851” mit­nich­ten ein Tur­nier, wie wir es heu­te ken­nen, son­dern eine Fol­ge von KO-Matches, die in ei­nem Fi­na­le kul­mi­nier­ten. Eine Be­gren­zung der Be­denk­zeit war nicht vor­ge­se­hen, nach acht Stun­den wur­de die Par­tie ver­tagt. In­ter­es­sant auch, dass zwar das An­zugs­recht aus­ge­lost wur­de, nicht aber die Farb­ver­tei­lung. So konn­te un­ter Um­stän­den auch Schwarz die Par­tie er­öff­nen. Die da­mit nö­ti­ge Über­set­zung der Par­tien in die heu­te üb­li­che No­ta­ti­on mag in ei­ni­gen Fäl­len die Quel­le von Un­klar­hei­ten ge­we­sen sein.

Zwei Standardwerke bisher über das “Londoner 1851”

Über das Tur­nier von Lon­don gibt (gab es bis­her) zwei Stan­dard­wer­ke: 1852 ver­öf­fent­lich­te der Eng­län­der Ho­ward Staun­ton das au­then­ti­sche Tur­nier­buch. Staun­ton war die zen­tra­le Fi­gur des Lon­do­ner Tur­niers. Er wirk­te mass­geb­lich in Vor­be­rei­tung und Durch­füh­rung des Tur­niers mit und nahm zu­dem als Spie­ler teil. Sport­lich er­leb­te er al­ler­dings mit Platz 4 eine Ent­täu­schung. Staun­tons ver­dienst­vol­les Tur­nier­buch wur­de 2010 von Jens-Erik Ru­dolph in ei­ner deut­schen Aus­ga­be neu her­aus­ge­bracht. Den deut­schen Klas­si­ker lie­fer­te be­reits 1852 der Ber­li­ner Ver­lag Veit & Com­pa­ny. Eine na­ment­li­che Nen­nung des Au­tors hier­zu gibt es bis­her nicht. Ma­rio Zieg­ler – um nun end­lich zum hier re­zen­sier­ten Buch zu kom­men – nennt ei­ni­ge Ar­gu­men­te für die Au­toren­schaft Alex­an­ders von Op­pen, des Her­aus­ge­bers der “Schach­zei­tung”.

Historische Pionierarbeit geleistet

Imposanter Schach-Turnier-Saal: Der Londoner
Im­po­san­ter Schach-Tur­nier-Saal: Der Lon­do­ner “Crys­tal Pa­lace” im Jah­re 1851

Mit dem letz­ten Satz wur­de be­reits an­ge­deu­tet, dass der His­to­ri­ker Ma­rio Zieg­ler in der Tat neue For­schungs­er­geb­nis­se vor­le­gen kann. Er ar­bei­te­te bei­de Tur­nier­bü­cher so­wie dar­über hin­aus zahl­rei­che Schach­zei­tun­gen und –ko­lum­nen (buch­stäb­lich aus “al­ler Welt”) auf. Ein brei­tes Feld für ge­schicht­li­che For­schun­gen lässt das Lon­do­ner Tur­nier al­le­mal. So gibt es bis heu­te kei­nen ge­nau­en Ter­min­plan des wohl knapp 2 Mo­na­te dau­ern­den Wett­streits. Zieg­ler hat hier Pio­nier­ar­beit ge­leis­tet, in­dem er für vie­le Par­tien das Da­tum auf en­ge­re Zeit­räu­me ein­gren­zen konn­te. Zu der kon­tro­vers dis­ku­tier­ten Ab­ma­chung zwi­schen dem spä­te­ren Tur­nier­sie­ger Adolf An­ders­sen und sei­nem Vier­tel­fi­nal­geg­ner Joz­sef Szen über eine Tei­lung des Preis­gel­des, das ei­ner der bei­den er­rin­gen wür­de, ent­wi­ckelt Zieg­ler in aus­führ­li­cher und gut fun­dier­ter Ar­gu­men­ta­ti­on ei­nen ei­ge­nen Stand­punkt. So er­greift er auch an vie­len an­de­ren Stel­len sehr wohl Par­tei für den ei­nen oder an­de­ren Spie­ler, für den ei­nen oder an­de­ren Kom­men­ta­tor, ana­ly­siert und mo­de­riert die ein­schlä­gi­ge Fachdiskussion.

Ausführliche Partie-Kommentare und biographische Details

Den Haupt­teil des Bu­ches bil­den die aus­führ­lich kom­men­tier­ten Par­tien. Auf ca. 370 Sei­ten wer­den die 85 ge­spiel­ten Schach­par­tien vor­ge­stellt. Knapp 100 Sei­ten neh­men die Por­träts der 16 Teil­neh­mer ein – na­tur­ge­mäss in sehr un­ter­schied­li­cher Ge­wich­tung, sind doch über die we­ni­ger be­kann­ten Teil­neh­mer kaum bio­gra­phi­sche De­tails ver­füg­bar. Ge­hen ei­ni­ge der Por­träts an die 10 Sei­ten her­an, oder bei Staun­ton weit dar­über hin­aus, so ist es bei E.S. Ken­ne­dy – nicht ein­mal die Vor­na­men sind be­kannt – nur eine hal­be Sei­te. Selbst über An­ders­sens Fi­nal­geg­ner, den Eng­län­der Wy­vill kommt kaum mehr als eine Sei­te zu­sam­men. Das zeigt ein­mal mehr, auf welch schwie­ri­ges For­scher­ter­rain sich Ma­rio Zieg­ler be­ge­ben hat. Kom­plet­tiert wird sein Werk durch eine Rei­he kür­ze­rer Ar­ti­kel zur Vor­ge­schich­te und Nach­wir­kung des Turniers.

Sachliche Darstellung – spannend zu lesen

Spielte 1851 auch die
Spiel­te 1851 auch die “Un­sterb­li­che Schach-Par­tie”: Lon­don-Tur­nier­sie­ger Adolf Anderssen

Zu den gros­sen Stär­ken des vor­lie­gen­den Bu­ches muss Zieg­lers Sprach­stil ge­zählt wer­den. Es ist ein Ver­gnü­gen, sei­ne Zei­len zu le­sen. Ihm ge­lingt eine sach­li­che Dar­stel­lung, die ohne emo­tio­na­le Auf­wal­lun­gen aus­kommt und den­noch span­nend und le­ben­dig zu le­sen ist. Da­bei stört es nicht, dass der His­to­ri­ker nun mal nicht aus dem Kor­sett ei­ner wis­sen­schaft­lich fun­dier­ten Ar­beit ent­flie­hen kann. Fast jede Sei­te ist mit um­fang­rei­chen Fuss­no­ten ge­spickt. Ne­ben akri­bi­schen Quel­len­an­ga­ben be­her­ber­gen sie je­weils den Text der fremd­spra­chi­gen Ori­gi­na­le. Da­von Ge­winn zu ha­ben, setzt zwar die si­che­re Be­herr­schung der zi­tier­ten Spra­chen – zu­dem in zeit­ge­nös­si­scher Aus­prä­gung – vor­aus, mit die­sem Hin­ter­grund kann man aber noch man­che Nu­an­cen ent­de­cken, die bei der Über­set­zung ver­lo­ren ge­gan­gen sind.

Im Mit­tel­punkt des In­ter­es­ses ste­hen na­tür­lich die Par­tie­ana­ly­sen. Hier leis­tet der Au­tor eine so­li­de Ar­beit. Jede ein­zel­ne Par­tie wird sehr aus­führ­lich vor­ge­stellt, in an­ge­mes­se­ner Wei­se mit Dia­gram­men il­lus­triert.  In der Er­öff­nungs­pha­se ver­weist Ma­rio Zieg­ler an vie­len Stel­len auf den da­ma­li­gen Stand der theo­re­ti­schen Dis­kus­si­on und auf Vor­gän­ger­par­tien. Ein Ver­weis auf heu­ti­ges Theo­rie­wis­sen fin­det hin­ge­gen sel­te­ner statt. Der Par­tie­ver­lauf wird an­schau­lich ge­schil­dert, ins­be­son­de­re die Wen­de­punk­te wer­den poin­tiert her­aus­ge­stellt. Die ana­ly­sier­ten Al­ter­na­ti­ven und Va­ri­an­ten un­ter­mau­ern die Ar­gu­men­ta­ti­on. Na­tür­lich stützt sich Ma­rio Zieg­ler da­bei auf Com­pu­ter­hil­fe. Er be­nennt im Quel­len­ver­zeich­nis selbst die ein­ge­setz­ten Pro­gramm­ver­sio­nen und die be­nutz­te Hard­ware. In den Kom­men­ta­ren wird für mich frei­lich nicht im­mer er­kenn­bar, wo Zieg­ler ei­ge­ne Ent­de­ckun­gen (bzw. die sei­nes Com­pu­ters) prä­sen­tiert und wo er auf be­reits frü­her ver­öf­fent­lich­te Ana­ly­sen zurückgreift.

Geringe Remisquote im “Londoner”

Analysen-Beispiel der Partie Staunton-Horwitz
Ana­ly­sen-Bei­spiel der Par­tie Staunton-Horwitz

Dem heu­ti­gen Le­ser mag es be­fremd­lich vor­kom­men, dass da­mals selbst in ei­nem Eli­te-Tur­nier gro­be Feh­ler an der Ta­ges­ord­nung wa­ren. Auch die ge­rin­ge Re­mis­quo­te (nur 7 von 85 Par­tien) spricht für ein ganz an­de­res Spiel­ni­veau. So ge­se­hen könn­te man das vor­lie­gen­de Werk viel­leicht noch um eine glo­ba­le­re Ana­ly­se zur Ent­wick­lung der Spiel­stär­ke und der Leis­tungs­dif­fe­ren­zie­rung in je­ner Epo­che ergänzen.

Ne­ben der schach­lich so­li­den Ar­beit über­zeu­gen die Par­tie­be­spre­chun­gen durch ih­ren flüs­si­gen Schreib­stil und die nie ver­lo­ren ge­hen­de Ein­bin­dung in den Ge­samt­zu­sam­men­hang des Tur­niers. Et­was un­glück­lich er­scheint al­len­falls, dass ab dem Halb­fi­na­le auch die Matches der un­ter­le­ge­nen Spie­ler ohne kla­re Ab­gren­zung vor­ge­stellt wer­den. So steht das gros­se Fi­nal-Match zwi­schen An­ders­sen und Wy­vill nicht am Ende des Bu­ches, son­dern wird noch von den Spie­len um die Plät­ze 3 bis 7 ge­folgt. Hier könn­te ich mir bei ei­ner Über­ar­bei­tung eine kla­re­re Tei­lung in das ei­gent­li­che KO-Tur­nier und die Trost­run­de vorstellen.

Typo- und bibliographisch hochwertige Ausgabe

Nach mehr als 150 Jahren wird von Mario Ziegler ein neues Standardwerk über das erste grosse Schachturnier vorgelegt. Im Mittelpunkt stehen Porträts der 16 Turnierteilnehmer und die ausführliche Besprechung aller 85 Partien. Zieglers Monographie überzeugt gleichermassen durch fundierte historische Recherche wie flüssig geschriebene Texte.
Nach mehr als 150 Jah­ren wird von Ma­rio Zieg­ler ein neu­es Stan­dard­werk über das ers­te gros­se Schach­tur­nier vor­ge­legt. Im Mit­tel­punkt ste­hen Por­träts der 16 Tur­nier­teil­neh­mer und die aus­führ­li­che Be­spre­chung al­ler 85 Par­tien. Zieg­lers Mo­no­gra­phie über­zeugt glei­cher­mas­sen durch fun­dier­te his­to­ri­sche Re­cher­che wie flüs­sig ge­schrie­be­ne Texte.

Das vor­lie­gen­de Buch macht ei­nen hoch­wer­ti­gen Ein­druck. Ty­po­gra­phisch gibt es nichts aus­zu­set­zen, auch der Um­gang mit den zahl­rei­chen Fuss­no­ten ist ge­lun­gen. Be­denkt man die enor­me For­schungs­ar­beit, die in die­sem Werk steckt, ist der stol­ze Preis ge­wiss mehr als ge­recht­fer­tigt. Frei­lich muss of­fen blei­ben, ob es in der Schach­sze­ne ge­nü­gend In­ter­es­sen­ten gibt, die es er­mög­li­chen, dass man sol­che Pro­jek­te wirt­schaft­lich sinn­voll durch­hal­ten kann.
Ge­ra­de auch un­ter die­sem Aspekt möch­te ich Ma­rio Zieg­ler viel Er­folg und Be­harr­lich­keit in sei­ner Ar­beit wün­schen. Aus sei­ner Fe­der stam­men üb­ri­gens zwei min­des­tens ge­nau­so reiz­vol­le schach­his­to­ri­sche Pro­jek­te: “Die gros­se Schach­pa­ra­de” (an den his­to­ri­schen Epo­chen ori­en­tiert) und “Säu­len des Schachs” (Vor­stel­lung wich­ti­ger Orte der Schach­ge­schich­te). Zu bei­den Se­ri­en ist bis­lang ein Band er­schie­nen, und man darf er­war­tungs­froh auf Fort­set­zung hoffen. ♦

Ma­rio Zieg­ler: Das Schach­tur­nier Lon­don 1851, Ver­lag Chess­Coach, 555 Sei­ten, ISBN 978-3944158006

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Schach­ge­schich­te auch über Ger­hard Jos­ten: Auf der Sei­den­stras­se zur Quel­le des Schachs

Aus­ser­dem in­ter­es­sant: Der Se­ri­en-Re­port über Schach­zeit­schrif­ten (4) – “Schach-Ak­tiv”

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