Mathias Ninck: Mordslügen (Roman)

Gutes Handwerk – mit Luft nach oben

von Bernd Giehl

Me­di­en” kön­nen heut­zu­ta­ge fast al­les. Sie kön­nen eine 16-jäh­ri­ge Schü­le­rin, die frei­tags vor ih­rer Schu­le sass und für das Kli­ma “streik­te”, zu ei­nem Star ma­chen, den je­der in Eu­ro­pa kennt, und de­ren Nach­na­men nicht ein­mal ge­nannt wer­den muss (“Gre­ta”). Und um­ge­kehrt kön­nen sie mäch­ti­ge Män­ner wie den Film­pro­du­zen­ten Har­vey Wein­stein oder Re­gis­seu­re wie Woo­dy Al­len ins Nichts oder gar ins Ge­fäng­nis schi­cken (#Me­Too).

Mathias Ninck - Mordslügen - Roman-Krimi-Literatur - Cover - Glarean MagazinAber na­tür­lich sind das nicht mehr die­sel­ben Me­di­en, die wir Äl­te­ren noch aus un­se­ren frü­hen Zei­ten ken­nen, also Zei­tun­gen, Rund­funk und Fern­se­hen; das In­ter­net ist hin­zu­ge­kom­men – und mit ihm das, was wir heu­te “so­zia­le Me­di­en” nen­nen. Al­les ist mitt­ler­wei­le mit­ein­an­der “ver­netzt”. Gren­zen, die es frü­her ein­mal gab, exis­tie­ren nicht mehr. Auch jene Men­schen, die frü­her kei­nen Ein­fluss hat­ten, son­dern sich al­len­falls per Le­ser­brief äus­sern konn­ten, ver­mö­gen heut­zu­ta­ge eine La­wi­ne los­zu­tre­ten, kön­nen sich Ge­hör ver­schaf­fen und not­falls so­gar eine Kanz­le­rin stür­zen. Sie müs­sen nur laut ge­nug brül­len und ge­nug an­de­re fin­den, die mitbrüllen.

Das wahre Leben”

Man kann das gut fin­den. Man kann sa­gen, end­lich kä­men auch jene zu Wort, die frü­her nur ohn­mäch­tig die Faust in der Ta­sche bal­len konn­ten. Man kann aber auch ar­gu­men­tie­ren, die Me­di­en, die ei­gent­lich nur den Auf­trag hat­ten, über das zu be­rich­ten, was ge­ra­de pas­siert, wür­den nun selbst ak­tiv ein­grei­fen und das Ge­sche­hen mit be­ein­flus­sen. Was stimmt? Ver­mut­lich beides.

Mathias Ninck - Schriftsteller - Glarean Magazin
De­büt-Ro­man­au­tor Ma­thi­as Ninck

Der Ro­man-Kri­mi “Mords­lü­gen” von Ma­thi­as Ninck be­schäf­tigt sich mit die­ser Welt. Sei­ne Haupt­fi­gur Si­mon Bu­sche steckt da mit­ten drin. Bu­sche ist ein sym­pa­thi­scher Mensch, Re­por­ter bei ei­nem halb­sei­de­nen In­ter­net-Ma­ga­zin mit dem Ti­tel “Das wah­re Le­ben”, zu­stän­dig für die “wei­chen The­men” – was be­deu­tet, über welt­be­we­gen­de Ge­schich­ten zu schrei­ben wie z.B. über ei­nen Lehr­ling, der beim Pin­keln aus dem Bus fällt. Haupt­sa­che, die Sto­ry ge­ne­riert Klicks.
Bu­sche könn­te sich ein an­de­res Le­ben vor­stel­len, aber er ist mitt­ler­wei­le 42, da­von 17 Jah­re beim “Wah­ren Le­ben”. In ei­nem Face­book-Ein­trag ei­nes pen­sio­nier­ten Kol­le­gen hat er den Satz ge­le­sen, ein Jour­na­list brau­che “eine Hal­tung”; den Face­book-Ein­trag hat er mit “Ge­fällt mir” be­wer­tet. Aber er weiss auch, dass es bei sei­nem Ar­beit­ge­ber auf vie­les an­kommt, aber ganz be­stimmt nicht auf Hal­tung. Die­se muss man sich erst ein­mal leis­ten kön­nen. Schliess­lich muss je­der Mie­te zah­len, sich ein Es­sen ko­chen und abends ein­mal in die Knei­pe ge­hen und ein Bier trin­ken können.

Drei Morde gestanden, aber nicht begangen?

Dies al­les kann sich aber von ei­nem Mo­ment auf den an­de­ren än­dern, wie schon der alte He­ra­klit wuss­te. Bu­sche wird von der Psych­ia­te­rin Oli­via Pfeif­fer kon­tak­tiert, die be­haup­tet, dass eine Frau na­mens San­dra Du­bach seit 25 Jah­ren un­schul­dig im Ge­fäng­nis sitzt, weil sie drei Mor­de ge­stan­den, aber nicht be­gan­gen habe. Die Psych­ia­te­rin glaubt den wah­ren Mör­der zu ken­nen. Er sei ei­ner ih­rer Pa­ti­en­ten, ein Ma­nu­el Schind­ler (ge­nannt Manu), der ge­walt­tä­tig sei, schon meh­re­re Male vor Ge­richt ge­stan­den habe, des­sen Freun­din sich ge­ra­de von ihm ge­trennt habe, und der ihr nun von sei­nen Mord­phan­ta­sien erzählte.
Zwei Tage spä­ter wird die Lei­che ei­ner Frau vor dem Haus ge­fun­den, in dem Ma­nus Ex-Freun­din wohnt. Es han­delt sich zwar nicht um die Ex-Freun­din, aber den­noch ist die Psych­ia­te­rin da­von über­zeugt, dass ihr Pa­ti­ent den Mord be­gan­gen hat. Schliess­lich ist er schon ein­mal ver­däch­tigt wor­den, sei­ne Freun­din ge­tö­tet zu ha­ben. Da­mals war er 14 Jah­re alt ge­we­sen und hat­te mit­hil­fe sei­nes Va­ters für lan­ge Zeit nach Süd­ame­ri­ka ver­schwin­den kön­nen. 12 Jah­re spä­ter taucht er mit neu­em Na­men wie­der in der Stadt auf und be­gibt sich in Oli­via Pfeif­fers Behandlung.
Die Psych­ia­te­rin hat Zwei­fel, ob sie mit ih­rem Ver­dacht zur Po­li­zei ge­hen soll. Es gibt schliess­lich das Arzt­ge­heim­nis, und oben­drein könn­te sie das nächs­te Op­fer des ver­mut­li­chen Mör­ders wer­den. Schliess­lich gibt sie der Po­li­zei ver­deckt ei­nen Tipp, und Manu lan­det auf der Lis­te der Ver­däch­ti­gen. Aber dann, als San­dra Du­bach die drei Mor­de ge­steht, ver­schwin­det er wie­der von die­ser Liste…

Das Imperium schlägt zurück

Vie­le Jah­re spä­ter stürzt Oli­via Pfeif­fer in ei­nen Gul­ly, hat To­des­angst, wird ge­ret­tet; Si­mon Bu­sche schreibt ei­nen Be­richt im “Wah­ren Le­ben” über den Un­fall, so dra­ma­tisch wie sonst nur die “Bild­zei­tung” das kann – in­klu­si­ve Rat­ten, die schon an ihr na­gen -, und so kommt die Hand­lung in Schwung. Bu­sche über­nimmt (nach an­fäng­li­chen Zwei­feln) die Re­cher­che, be­sucht San­dra Du­bach im Hoch­si­cher­heits­trakt, nimmt sich eine Aus­zeit vom “Wah­ren Le­ben” und ist schliess­lich da­von über­zeugt, dass Du­bachs Ge­ständ­nis tat­säch­lich falsch ist.
Du­bach ist Bor­der­li­ner; sie fühl­te sich in der Ge­sell­schaft an­de­rer nicht wohl; im Ge­fäng­nis, das sie schon von frü­he­ren Auf­ent­hal­ten kann­te, hat­te sie ihre Ruhe. Sie hat ei­nen Zer­stö­rungs­trieb in sich, mit dem sie nur schwer um­ge­hen kann. Je­den­falls passt für Bu­sche al­les zu­sam­men: Du­bach hat die Mor­de nicht be­gan­gen, für die sie seit zwan­zig Jah­ren sitzt.
Bu­sche kann zwar sei­ne Ge­schich­te am Ende nicht im “Wah­ren Le­ben” ver­öf­fent­li­chen, aber es gibt ja noch die Zei­tun­gen auf Pa­pier, in sei­nem Fal­le die “Neue Ta­ges­zei­tung”. Die­se ver­öf­fent­licht Bu­sches Ar­ti­kel, da­nach ist Bu­sche für ein paar Tage be­rühmt – bis das Im­pe­ri­um zurückschlägt…

Handwerklich einwandfrei, aber…

Die Hand­lung ist gut er­zählt. Mat­thi­as Ninck ver­steht sein Hand­werk. Den­noch ha­ben sich mir beim Le­sen ein paar Zwei­fel im Kopf fest­ge­setzt. Dass eine drei­fa­che Mör­de­rin im Hoch­si­cher­heits­trakt ein­sitzt, iso­liert von al­len an­de­ren Ge­fan­ge­nen, leuch­tet nicht ein. Viel­leicht liegt es dar­an, dass ich als Deut­scher beim The­ma Hoch­si­cher­heits­trakt an Stutt­gart-Stamm­heim den­ke und an die RAF-Mit­glie­der Baa­der, Ras­pe und Ens­slin, die nach der Ent­füh­rung und Be­frei­ung der Luft­han­sa Ma­schi­ne in Mo­ga­di­schu 1977 in ei­ner Nacht ge­mein­sam Selbst­mord be­gin­gen, ob­wohl sie doch – zu­min­dest of­fi­zi­ell – kei­nen Kon­takt zu­ein­an­der auf­neh­men konn­ten. (Oder die viel­leicht auch er­mor­det wur­den, was aber bis heu­te nicht ge­klärt ist). Also, bei al­lem Re­spekt: das wa­ren an­de­re Kaliber.
Und dann wäre da auch noch der Ti­tel: “Mords­lü­gen”. Eine Head­line, wie sie die “Bild­zei­tung” nicht bes­ser er­fin­den könn­te. In Ver­bin­dung mit dem The­ma Me­di­en denkt man gleich an die AFD und ihre Pau­schal­be­haup­tung von der “Lü­gen­pres­se”, mit der all jene ge­meint sind, die sich kri­tisch über die AFD und die Rech­ten äussern.

… am Grundthema vorbei

Wei­ter: Das The­ma, wie wir alle von den Me­di­en ma­ni­pu­liert wer­den, weil et­was künst­lich auf­ge­bla­sen wird und alle Welt dar­über in eine Rie­sen­er­re­gung ver­fällt, das wird im Buch nicht auf­ge­nom­men. Als Bei­spiel sei Fried­rich Merz ge­nannt, bis 2002 Vor­sit­zen­der der CDU-Frak­ti­on im Bun­des­tag, der da­mals von An­ge­la Mer­kel ab­ge­sägt wur­de und im letz­ten Jahr Par­tei­vor­sit­zen­der der CDU wer­den woll­te, aber ge­gen An­ne­gret Kramp-Kar­ren­bau­er un­ter­lag, und der neu­lich von den “Ne­bel­bän­ken” sprach, die die Kanz­le­rin er­zeu­ge und von der “grot­ten­schlech­ten” Ar­beit der Re­gie­rung. Und dann wird die­ser völ­lig über­zo­ge­ne Kom­men­tar ei­nes Pri­vat­manns, der selbst gern Kanz­ler wer­den wür­de, nicht etwa un­ter der Ru­brik “Ver­misch­tes” ver­mel­det, son­dern er wird in al­len Talk­shows der Re­pu­blik dis­ku­tiert. Wun­dert es je­man­den, dass her­nach die Hälf­te der Be­völ­ke­rung da­von über­zeugt ist, dass die Ar­beit der Re­gie­rung “grot­ten­schlecht” ist?

Das ist der ei­gent­li­che Skan­dal. Zei­tun­gen und Fern­se­hen ei­fern den “so­zia­len Me­di­en” nach, er­zeu­gen Rie­sen­wel­len, und wenn die Auf­re­gung im­mer grös­ser wird, fra­gen sie, wer dar­an schuld sei.
Wo­mög­lich ist es un­ge­recht, von ei­nem Au­tor zu er­war­ten, der doch nur ei­nen Kri­mi aus dem Be­reich des In­ter­net­jour­na­lis­mus schrei­ben woll­te, dass er das The­ma in die­ser Di­men­si­on be­ar­bei­te. Das ist, zu­ge­ge­ben, schon ziem­lich an­spruchs­voll. Aber wenn man die Wel­le rei­ten will und dann die Er­war­tun­gen, die man ge­weckt hat, nicht be­die­nen kann, muss man sich eine sol­che Kri­tik ge­fal­len lassen. ♦

Ma­thi­as Ninck: Mords­lü­gen – Ro­man, 232 Sei­ten, Edi­ti­on 8 Ver­lag, ISBN 978-3859903814

Le­sen Sie zum The­ma Kri­mi auch über Jo Nes­bø: Mes­ser (Har­ry-Hole-Kri­mi Band 12)

… so­wie über den neu­en Thril­ler von Jean-Chris­to­phe Gran­gé: Die Fes­seln des Bösen

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