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Ein Leben ohne Gedächtnis
von Günter Nawe
Vor wenigen Wochen ist sie 80 Jahre alt geworden: Joyce Carol Oates, amerikanische Schriftstellerin von Rang, Autorin grosser und bedeutender Romane, Theaterstücke und Kurzgeschichten. Mehrfach würde sie bereits für den Literaturnobelpreis nominiert.
“Die Liste meiner Bücher ist überwältigend”, hat sie einmal gesagt. Und in der Tat, vor dem Leser liegt ein Lebenswerk. Als wäre das nun mit 80 immer noch nicht genug, legt die Autorin ein neues Buch vor. Und nicht nur das: Joyce Carol Oates hat – wie schon so häufig – für ihren Roman “Der Mann ohne Schatten” einen ungewöhnlichen Stoff gewählt und daraus eines der aufregendsten Bücher der Saison geschrieben.
Neurowissenschaft im Roman
Protagonist dieses Romans ist Elihu Hoppes, ein renommierter Wirtschaftsprofi, der im Alter von 37 Jahren sein Gedächtnis verliert. Die medizinische, die neurologische Diagnose: “Während er allein auf einer Insel im Lake George, New York, zeltete, infiziert er sich mit eine besonderen virulenten Form der Herpes-simplex-Enzephalitis, die sich in der Regel als Fieberbläschen auf einer Lippe manifestiert und innerhalb weniger Tage wieder vergeht; in seinem Fall wanderte die Virusinfektion durch den Sehnerv bis ins Gehirn, wo sie ein protrahiertes hohes Fieber auslöste, das sein Erinnerungsvermögen schädigte.” –
Der Leser wird sehr viele Passagen dieser Art lesen, mit denen wissenschaftlich untermauert, die seltene Erkrankung des Patienten und die sich daraus ergebenden Konsequenzen verdeutlicht werden. Diese Passagen sind wesentlicher Bestandteil dieses Romans, ohne dass die Lesbarkeit leidet.
Ein Erinnerungsvermögen von 70 Sekunden
Zurück zum Geschehen. Elihu Hoppes ist seither ein Fall für die Neurowissenschaft. Erinnert er sich noch an das eine und andere vor der Erkrankung, ist er ,obwohl mittlerweile um einiges älter, auf dem Niveau des Siebenunddreissigjährigen geblieben. Und dessen Erinnerungsvermögen aktuell genau 70 Sekunden beträgt.
Ein Fall, mit dem sich die renommierte Neurowissenschaftlerin Margot Sharpe intensiv beschäftigt. Über Jahre hinweg beobachtet sie den Probanden, unterzieht ihn verschiedenen Tests, veranlasst laufende Untersuchungen, um hinter das Geheimnis des Gedächtnisverlustes zu kommen. Ihn, “der in ewiger Gegenwart gefangen” ist. “Wie jemand, der im Halbdunkel der Wälder im Kreis herumläuft – ein Mann ohne Schatten”. Elihu vergisst immer sehr schnell, wer er ist. Auf einen Nenner gebracht: Elihu Hoppes führt ein Leben ohne Gedächtnis. Ein Leben, das auch bestimmt wird durch ein Erlebnis in früher Kindheit, bei dem es um die Ermordung seiner elfjährigen Cousine geht. Es begleitet ihn fragmentarisch auch in der Zeit nach dem Gedächtnisverlust und wirkt wie eine Art Fluch.
Wechselnde Erzählperspektiven

Dann aber passiert etwas, was nicht sein darf – und Margot Sharp weiss das: Zwischen der Wissenschaftlerin und dem Patienten entwickelt sich eine Beziehung. Käme das heraus, wäre ihr Ruf ruiniert. Dennoch: Sie “lebt” mit ihrem Probanden über dreissig Jahre sozusagen als Geliebte, gaukelt ihm vor, sie wäre seine Frau. Die Frau eines Mannes, der trotz seines Gedächtnisverlustes attraktiv und vital ist, Tennis spielt und auch sexuell aktiv ist. Eine unmögliche Beziehung also. Margot ist sich der Problematik ihrer Beziehung bewusst, kann aber von ihr zunehmend weniger lassen und gerät auf diese Weise immer stärker in Gewissensnöte bis hin zu einer veritablen Lebenskrise.
Immer wieder ändert Joyce Carol Oates die Erzählperspektive und schafft so, nicht zuletzt durch eine eingebaute Krimistory, Spannung. Mal erzählt Hoppes, mal Margot, dann wieder Dritte. Auf diese Weise gelingt des der Autorin, ein heikles, wissenschaftlich grundiertes Thema lesergerecht aufzubereiten. Sie tut es in diesem Roman über die Liebe, die Erinnerung, über die Einsamkeit und Nähe mit grossem Einfühlungsvermögen in die Psyche ihrer Figuren.
Authentizität durch Realität
Der Mann ohne Gedächtnis ist ein Roman. Dass ihm ein tatsächlicher Fall zugrunde liegt, erhöht die Authentizität der meisterhaften Schilderung der Autorin, die auch gekonnt auf der komplexen Klaviatur von Psychologie und Neurologie spielt. Joyce Carol Oates: “Ich wollte einen Roman schreiben über eine sehr intensive Beziehung zwischen einer weiblichen Wissenschaftlerin und ihrem männlichen Forschungsobjekt” und “Darüber, wie ihre intensive Freundschaft zu einer erotischen und gleichzeitig zutiefst emotionalen Beziehung wird.” – Das ist ihr überzeugend sowohl von der Thematik her als auch sprachlich gelungen. ♦
Joyce Carol Oates: Der Mann ohne Schatten (Roman), 378 Seiten, S. Fischer Verlag, ISBN 978-3-10-397276-4
Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Neue Literatur auch über Patrick Worsch: Fotomord (Roman)
vielen herzlichen dank für diesen schönen beschrieb! ich liebe die Oates, gehört seit jahren zu meinen lieblingsautorinnen! schade dass auf deutsch nur fast ihre romane und noch etwas kurzprosa erhältlich sind, nicht aber ihre großartigen essays. wer fließend englisch kann, sollte sich diese mal gönnen!
lg Sandra