Tracy Chevalier: Der Neue (Roman)

Rassismus und Intrigen – “Othello” auf dem Schulhof

von Sig­rid Grün

Im April 2016, pünkt­lich zu Shake­speares 400. Geburts­tag, star­tete in über 20 Län­dern das „Hogarth Shake­speare Pro­jekt“, bei dem es darum geht, dass zeit­ge­nös­si­sche Autoren Shake­speare neu inter­pre­tie­ren. In dem Roman von Tracy Che­va­lier: Der Neue erzählt die Autorin die Geschichte von Othello, dem Mohr von Vene­dig neu.
Washing­ton D.C., 1974. Der Diplo­ma­ten­sohn Osei ist mit sei­nen Eltern gerade von New York in die Haupt­stadt gezo­gen und neu in der 6. Klasse der Grund­schule. Einen Monat vor dem Über­tritt an die High School muss er sich auf dem Schul­hof und im Klas­sen­zim­mer bewei­sen. Das kennt er schon, denn er hat bereits in Rom, Lon­don und New York gelebt. Gebo­ren ist er aller­dings in Accra, der Haupt­stadt Ghanas.

Shakespeare für die Neuzeit

Tracy Chevalier: Der Neue, Roman, Knaus VerlagAn der Washing­to­ner Vor­stadt­schule ist Osei der ein­zige Schwarze. Und obwohl er mit einer gehö­ri­gen Por­tion Selbst­be­wusst­sein auf­tritt und damit sofort das Herz der all­seits belieb­ten Vor­zei­ge­schü­le­rin Dee gewinnt, ist die Atmo­sphäre in der Schule ange­spannt. Nicht nur die Schü­ler, son­dern auch die Leh­rer begeg­nen dem schwar­zen Jun­gen mit Vor­ur­tei­len und Miss­trauen. Durch Freund­lich­keit und seine gewin­nende Aus­strah­lung erar­bei­tet sich Osei bei eini­gen Schü­lern aber rasch einen guten Ruf.
Das ist vor allem dem Schul­hof-Rowdy Ian ein Dorn im Auge. Er spinnt gerne Intri­gen, um ein Gefühl der Macht zu erle­ben. Und als sich ihm die Gele­gen­heit bie­tet, die Schü­ler­schaft gehö­rig auf­zu­mi­schen, nutzt er die Chance. Er spielt einen gegen den ande­ren aus, schürt Hass und Eifer­sucht. Das Ganze endet – genau wie bei Shake­speare – in der Katastrophe.

Diskriminierung schmerzhaft geschildert

Tracy Chevalier (geb. 1962)
Tracy Che­va­lier (geb. 1962)

Tracy Che­va­lier gelingt es, die Geschichte um Othello auf auf­wüh­lende Weise neu zu erzäh­len. Die Dis­kri­mi­nie­rung, die geschil­dert wird, ist für den Leser oft äus­serst schmerzhaft.
Bis­wei­len wir­ken Ians Intri­gen aller­dings etwas gar kon­stru­iert. Er ist hoch­gra­dig mani­pu­la­tiv – und kei­ner merkt etwas, alles geht glatt und läuft immer nach Plan. Das Ganze scheint mir doch recht unrea­lis­tisch: Wie ist es mög­lich, dass ein Junge und ein Mäd­chen sich sofort inein­an­der ver­lie­ben, aber unhin­ter­fragt alles glau­ben, was ein Frem­der, der noch dazu äus­serst ver­schla­gen wirkt, ihnen erzählt? Und kann ein Junge in der 6. Klasse bereits der­art stra­te­gisch vorgehen?

Folgenlose Abschaffung der Rassentrennung

FAZIT Der Roman von Tracy Che­va­lier: Der Neue ist eine gelun­gene Neu­in­ter­pre­ta­tion von Shake­speares Othello, die vor Augen führt, wel­che Rolle Dis­kri­mi­nie­rung auch noch in heu­ti­ger Zeit spielt. Wenn­gleich kleine Schwä­chen auf­fal­len, die die Story teil­weise zu kon­stru­iert wir­ken las­sen, ist es eine Geschichte, die beein­druckt. Gut vor­stell­bar, dass es auch eine her­vor­ra­gende Schul­lek­türe zum Thema Mob­bing und Ras­sis­mus wäre.

Doch trotz der lei­sen Zwei­fel, die bis­wei­len auf­kom­men, hat mich Che­va­liers Buch tief berührt. Die Schil­de­rung der Unge­rech­tig­keit, die Osei nur auf­grund sei­ner Haut­farbe wider­fährt, macht wütend. Selbst die Leh­rer, allen voran der Klas­sen­leh­rer Mr. Bra­bant, sind igno­rant und vol­ler Vor­ur­teile. Obwohl Osei aus pri­vi­le­gier­ten Ver­hält­nis­sen kommt, unter­stellt die Direk­to­rin, dass er aus armen Ver­hält­nis­sen stam­men müsste. Es ist eine Mischung aus offe­nem und ver­deck­tem Ras­sis­mus, der dem neuen Schü­ler ent­ge­gen­schlägt. Die Abschaf­fung der Ras­sen­tren­nung durch den Civil Rights Act lag 1974 bereits zehn Jahre zurück, geän­dert hatte sich aber noch nicht viel.
Che­va­lier hält sich natür­lich nicht genau an die Shake­speare-Vor­lage. Mr. Bra­bant (Bra­ban­tio) ist der Klas­sen­leh­rer und nicht der Vater von Dee (Des­de­mona). Ian (Jago) ist nicht Oseis (Othel­los) Unter­ge­be­ner, son­dern ein Mit­schü­ler. Aber struk­tu­rell ist die Geschichte der Vor­lage sehr ähn­lich. Che­va­liers Geschichte spielt an einem ein­zi­gen Schul­tag und ist, wie bei Shake­speare, in fünf Akte unterteilt. ♦

Tracy Che­va­lier: Der Neue, Roman, 192 Sei­ten, Knaus Ver­lag, ISBN 978-3-8135-0671-6

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… sowie das Gedicht von Peter Fahr: Will­kom­men (Flücht­ling-Gedicht)

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Ein Kommentar

  1. Für Ihre Bespre­chung Dank, Frau Grün. Eine schöne Zusam­men­fas­sung, die gut infor­miert. Man wähnt sich im Gesche­hen, der Ras­sis­mus wird greif­bar. Ihre Rezen­sion hat das Zen­trale gut her­aus gearbeitet.

    Ob aller­dings die Ver­hält­nisse einer Washing­to­ner Vor­stadt­schule aus dem Jahre 1974 ein­fach über­trag­bar sind nach Ber­lin oder Ham­burg oder Mün­chen des 21. Jahr­hun­derts mit all den Migran­ten-Hin­ter­grün­den, ich weiß nicht… Inso­fern wird hier­zu­lande der Roman wohl nicht Ein­gang fin­den als “Schul­lek­türe”, die Wirk­lich­keit hat die Fik­tion überholt…

    Mia

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