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Im Alter von zehn Jahren ein rotziger Musquedirer
von Günter Nawe
Selbst, wer den „Simplicius Simplicissimus“ nicht gelesen hat: Der Titel diese Weltbestellers aus dem 17. Jahrhundert ist ein Begriff. Ebenso wie der Name seines Autors: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen.
Über ihn, den Weltautor mit den vielen Anagrammen bzw. Pseudonymen (z. B. Simon Leugfisch von Hartenfels, Samuel Greifenson von Hirschfeld, German Schleifheim von Sehmsdorff), mit denen er seine Leser „verunsichern“ wollte – also: über Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen haben der Literaturwissenschaftler Heiner Boehnke und der Kulturredakteur Hans Sarkowicz eine fulminante Biographie geschrieben. In einer grossartigen Studie bringen sie uns Leben und Schreiben eines Autors nahe, der als einer der wichtigsten Schriftsteller nicht nur des Barockzeitalters zu gelten hat.
Die vielen Masken des Grimmelshausen
Es ist ja nicht nur “Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch”, sondern es sind auch die beiden simplicianischen Romane “Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage” und “Der seltsame Springinsfelden” sowie “Das wunderbarliche Vogelnest”, die die deutsche Literatur bis heute beeinflusst haben. Man denke nur an die Erzählung von Günter Grass: “Das Treffen in Telgte”.
Wer also war dieser Grimmelshausen, auf dessen Spur sich die Biographen Boehnke und Sarkowicz gemacht haben? Wer war dieser Autor, der sich nicht nur hinter seinem Simplicius Simplicissimus versteckte, sonder hinter unendlich vielen Masken? Für die beiden Biographen eine wahre Detektivarbeit, schon allein deswegen, weil die Lebensläufe des Autors und seiner literarischen Schöpfung teilweise parallel verlaufen und vieles nach wie vor im Ungewissen bleibt.
Sicher ist die Herkunft des Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Er stammt aus Gelnhausen; aber schon das Geburtsjahr ist nicht sicher: wahrscheinlich 1621 oder 1622, also mitten im Krieg, den wir heute den Dreissigjährigen nennen.

Grimmelshausens Grossvater war Bäcker und Gastwirt. Sein Vater stirbt früh, seine Mutter heiratet wieder, der Stiefvater ist ein Barbier aus Frankfurt. Der Junge wuchs bei seinem Grossvater auf. Dann wird es schon schwieriger mit biografischen Sicherheiten. Grimmelshausen über sich selbst, zitiert nach Boehnke und Sarkowicz: „Man weiss ja wohl dass Er selbst nichts studiert, gelernte noch erfahren: sondern so bald er kaum das ABC begriffen hast / in Krieg kommen / im zehnjährigen Alter ein rotziger Musquedirer worden.“ Dennoch sollte er zu einem der belesensten Menschen seiner Zeit werden. Unendlich allein ist die Zahl der Nachweise seiner Bildung und Belesenheit im Simplicius Simplicissimus. Mit diesem Buch und seinem Autor hat – wenn man so will – die deutsche Literaturgeschichte begonnen.
Durch ganze Bibliotheken gewühlt

Auch im Feldlager („er lebte vom ersten Schrei an im Krieg“) und wo auch immer: Grimmelshausen liest. Dennoch wird das sogenannte praktische Leben nicht vernachlässigt. Er wird zu einem unbestechlichen Beobachter einer Wirklichkeit, die er sich zu eigen macht, mit viel Phantasie verändert, zu Vexierbildern gestaltet.
Allerdings: Die Datenlage ist prekär. Deshalb haben sich die Biographen durch ganze Bibliotheken gewühlt, Kirchenbücher gewälzt, Gerichtsakten und akribisch Kontexte jeglicher Art studiert. Mit fast kriminalistischem Eifer wurde recherchiert – und darüber von den Biographen lebendig und spannend erzählt.

Der junge Grimmelshausen wird völlig vom grausamen Geschehen der Zeit vereinnahmt, wird von den Katastrophen des Krieges quer durch Europa gejagt, war an der Belagerung Magdeburgs beteiligt, wurde Schreiber in einer Regimentskanzlei und wird 1649 seinen Kriegsdienst beenden. Grimmelshausen heiratet, wird später Verwalter und Wirt in Gaisbach und 1667 Schultheiss in Renchen. Am 17. August 1676 stirbt Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Im Kirchenbuch von Renchen wird es heissen: „Es verstarb im Herrn der ehrbare Johannes Christophorus von Grimmelshausen, ein Mann von grossem Geist und hoher Bildung, Schultheiss dieses Ortes, und obgleich er wegen Kriegswirren Militärdienst leistete und seine Kinder in alle Richtungen verstreut waren, kamen aus diesem Anlass doch alle hier zusammen, und so starb der Vater, von Sakrament der Eucharistie fromm gestärkt, und wurde begraben…“.
Leben und Schreiben hervorragend dargestellt
Den Biographen Heiner Boehnke und Hans Sarkowicz gelingt es auf hervorragende Weise, das Leben und Schreiben des Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen im Kontext der Zeit darzustellen. So können wir gleichzeitig so etwas wie eine kleine Geschichte des Dreissigjährigen Krieges lesen, an dessen Beginn vor 400 Jahren wir in diesem Jahr mit einer Fülle von Büchern begehen. Und zu den sicher interessantesten gehört zweifellos diese Arbeit von Boehnke und Sarkowicz. ♦
Heiner Boehnke & Hans Sarkowicz: Grimmelshausen – Leben und Schreiben (Vom Musketier zum Weltautor), 510 Seiten, Die Andere Bibliothek Berlin, ISBN 978-3-8477-2020-1
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