S. Schüssler (Hrsg.): Berlin – Eine literarische Einladung

Die Narben einer einzigartigen Stadt

von Bernd Giehl

Ein klei­nes Buch für die Ja­cken­ta­sche ist die­ses “Ber­lin – Eine li­te­ra­ri­sche Ein­la­dung” aus dem Wa­gen­bach Ver­lag. Man kann es mit­neh­men und im ICE le­sen, wenn man ge­ra­de nach Ber­lin un­ter­wegs ist, um dort ein ver­län­ger­tes Wo­chen­en­de zu ver­brin­gen, oder weil man ge­schäft­lich hin muss. So eine Fahrt kann ja dau­ern, und nicht im­mer fin­det man den Sitz­nach­barn so sym­pa­thisch, dass man sich un­be­dingt mit ihm un­ter­hal­ten will.

Ei­nem Irr­tum soll­te man al­ler­dings nicht un­ter­lie­gen: “Ber­lin” ist kein Rei­se­füh­rer. Sinn­los, es nach „Se­hens­wür­dig­kei­ten“ durch­zu­blät­tern. Wer wis­sen will, ob es sich lohnt, die Geth­se­ma­n­e­kir­che zu be­su­chen, oder ob man sich die Mons­tro­si­tät des Ber­li­ner Doms wirk­lich an­tun soll­te, der wird nicht fün­dig wer­den. Eher schon geht es um All­tag, die Hin­ter­hö­fe, die Bau­lü­cken, die „Rat­ten­lö­cher“, die ge­sam­te Häss­lich­keit, die es ja wahr­schein­lich in je­der Gross­stadt auf die­sem Pla­ne­ten gibt, in Ber­lin aber be­son­ders konzentriert.

Ein Sack mit allem Möglichen drin

Wagenbach Verlag - Berlin - Eine literarische Einladung - CoverIch wür­de sa­gen, Ber­lin ist ein Sack, in den seit Jahr­hun­der­ten al­les Mög­li­che hin­ein­ge­steckt wur­de. Doch zum Glück hat die­ser Sack ein Loch, und so fällt das meis­te da­von im­mer wie­der her­aus und hält sich nicht lan­ge“, schreibt Durs Grün­bein in dem Text, der das Buch eröffnet.
Na­tür­lich ist es die Ge­schich­te, auf die Durs Grün­beins Satz vom löch­ri­gen Sack an­spielt, die Ber­lin so ein­zig­ar­tig macht. Und na­tür­lich ha­ben auch an­de­re Städ­te eine Ge­schich­te, die zum Teil viel län­ger ist, aber kaum eine hat eine Ge­schich­te, die so mit dem Schick­sal ei­nes gan­zen Kon­ti­nents ver­bun­den ist. An­de­re Städ­te de­fi­nie­ren sich durch die Kunst, die sie her­vor­ge­bracht ha­ben oder durch ihre ein­zig­ar­ti­ge Ar­chi­tek­tur. Ber­lin de­fi­niert sich durch das Schick­sal, Haupt­stadt des preus­si­schen Geis­tes zu sein. 1701 mach­te der preus­si­sche Kur­fürst Ber­lin zur Haupt­stadt sei­nes Rei­ches. Zwei Jahr­hun­der­te spä­ter wur­den zwei Welt­krie­ge von die­ser Haupt­stadt aus ge­plant und durchgeführt.

Vielfältige Narben der Geschichte

Die Berliner Friedrichstrasse um 1900
Die Ber­li­ner Fried­rich­stras­se um 1900

So geht es auch eher um die Nar­ben, die Ber­lin prä­gen und die es hin­ter­las­sen hat. Im­mer wie­der wird dar­auf an­ge­spielt, so zum Bei­spiel in der Ge­schich­te von Kat­ja Pe­trows­ka­ja „Goog­le sei Dank“, in der die Ich-Er­zäh­le­rin, ge­mein­sam mit ei­nem ira­ni­schen Ju­den nach Po­len reist und sich mit ihm zu­sam­men Ge­dan­ken macht, was der Spruch „Bom­bar­dier. Will­kom­men in Ber­lin“, den sie bei­de im Haupt­bahn­hof ge­se­hen ha­ben, be­deu­tet. Da auch die Er­zäh­le­rin nicht weiss, was der Name „Bom­bar­dier“ be­deu­tet, phan­ta­siert sie von ei­nem Mu­si­cal, das ge­ra­de in Ber­lin auf­ge­führt wer­de. Aber na­tür­lich kreist das Ge­spräch der bei­den schon bald um ein ganz an­de­res Assoziationsfeld.
Da­ne­ben gibt es aber auch an­de­re Ge­schich­ten, die ein­fach vom hier und jetzt er­zäh­len; von Miss­ver­ständ­nis­sen, die es auch in al­ter­na­ti­ven Wohn­pro­jek­ten gibt, vom Zu­sam­men­le­ben und Aus­ein­an­der­ge­hen von Men­schen, die sich nur we­nig zu sa­gen ha­ben. Es ist wie über­all: Schon der Bau ei­nes Baum­hau­ses kann zu un­ge­ahn­ten Schwie­rig­kei­ten füh­ren, nur dass es ganz an­de­re sind als wir erwarten.

Ein schillerndes Kaleidoskop

Die Friedrichstrasse im Berlin unserer Tage
Die Fried­rich­stras­se im Ber­lin un­se­rer Tage

Kann man die viel­fäl­ti­ge Wirk­lich­keit ei­ner so gros­sen Stadt wie Ber­lin über­haupt ein­fan­gen? Ver­mut­lich kann man nur Tei­le ei­nes gros­sen Mo­sa­iks ein­fan­gen, das sich zu­dem im­mer wie­der an­ders prä­sen­tiert. Ber­lin ist eben nicht nur ein Sack vol­ler Ge­rüm­pel, son­dern auch ein Ka­lei­do­skop, das im­mer wie­der ein an­de­res Bild produziert.
So ähn­lich geht es dem Le­ser oder der Le­se­rin auch mit die­sem Buch, das vie­le Na­men ver­sam­melt, die man schon an­ders­wo ge­le­sen hat. Und nicht al­les bleibt so lang im Ge­dächt­nis wie der kur­ze Text von Ni­ko­las, über­schrie­ben mit „2. Juni 1967“ in dem ein na­men­lo­ser Ich-Er­zäh­ler von den Vor­be­rei­tun­gen der Po­li­zei auf eine De­mons­tra­ti­on er­zählt, die spä­ter statt­fin­den wird und nur der Ti­tel ei­nem sagt, dass hier et­was ver­schwie­gen wird. Die Tat­sa­che näm­lich, dass ei­ni­ge Stun­den spä­ter ein Stu­dent na­mens Ben­no Oh­nes­org von ei­nem Po­li­zis­ten na­mens Karl­heinz Kur­ras er­schos­sen wird.
Was dar­aus spä­ter wur­de, das wis­sen wir. ♦

Su­san­ne Schüss­ler & Li­nus Gug­gen­ber­ger (Hrsg.): Ber­lin – Eine li­te­ra­ri­sche Ein­la­dung, Wa­gen­bach Ver­lag, 144 Sei­ten, ISBN 978-3-8031-1328-3 

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Ge­schichts­träch­ti­ge Städ­te auch über Mar­ti­na Sah­ler: Die Stadt des Za­ren (Ro­man)

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