Musik-Zitat der Woche von Kurt Blaukopf

Über das Niederschreiben von Musik

Kurt Blau­kopf

Die okzi­den­tal-neu­zeit­li­che Vor­stel­lung, wonach “musi­ka­li­sche Krea­tion” (= Kom­po­si­tion) auf dem Noten­pa­pier statt­finde, läuft auf eine Umkeh­rung des ursprüng­li­chen Ver­hält­nis­ses hin­aus. Der Begriff “Kom­po­si­tion” liesse sich mit eini­gem Recht auch auf schrift­los kon­zi­pierte musi­ka­li­sche Abläufe anwen­den. So ist in einer Dar­stel­lung der indi­schen Musik von “impro­vi­sier­ter Kom­po­si­tion” die Rede und eine vokale oder instru­men­tale Impro­vi­sa­tion, deren Aus­füh­rung meh­rere Stun­den dau­ern mag, wird als Kom­po­si­tion bezeichnet.

Musik-Notation - Notenschrift - Glarean Magazin
“Fort­schritt und zugleich Zwangs­ja­cke”: Die abend­län­di­sche Musik-Notation

Die in Indien ent­wi­ckelte Nota­tion ist zwar als Mit­tel der Erin­ne­rung geeig­net, doch hat sie sich nicht zu einer voll­stän­di­gen Dar­stel­lung ent­wi­ckelt. Vor­aus­set­zung für das noten­schrift­li­che Den­ken, wie es sich im Okzi­dent eta­bliert hat, ist die Ratio­na­li­sie­rung und Stan­dar­di­sie­rung des Ton­sys­tems. Die­ser Gedanke lag schon den Über­le­gun­gen Max Webers zugrunde, der in der Ratio­na­li­sie­rung des Ton­sys­tems und der ihm ent­spre­chen­den Ratio­na­li­sie­rung der Noten­schrift ein spe­zi­fi­sches Merk­mal der abend­län­di­schen Musik erblickte. Die neuere Sozio­lo­gie der “musi­ka­li­schen Spra­chen” greift diese Idee wie­der auf – wenn­gleich ohne Beru­fung auf Max Weber, jedoch gestützt auf die Befunde der Eth­no­mu­si­ko­lo­gie. Die abend­län­di­sche Nota­tion wird in ihrem Dop­pel­cha­rak­ter erkannt: als “Fort­schritt” und zugleich als “Zwangs­ja­cke”. Die Nota­tion stellt sich danach als eine Art von his­to­ri­schem Fil­ter dar, der eine Aus­wahl bewerk­stel­ligt zwi­schen den Ele­men­ten, die als musi­ka­lisch bedeut­sam notiert wer­den, und jenen, die nur unan­ge­mes­sen oder gar nicht notiert wer­den kön­nen und die nur “sekun­däre Bedeu­tung für die Wahr­neh­mung von Musik” haben.

Wir müs­sen uns also Rechen­schaft dar­über able­gen, dass die in unse­rem Ton­sys­tem und unse­rer Nota­tion ent­hal­te­nen Mög­lich­kei­ten des musi­ka­li­schen Aus­drucks in man­cher Hin­sicht gerin­ger sind als das expres­sive Poten­tial von Musik­kul­tu­ren, die den Zwang sol­cher Sys­teme nicht ken­nen. Der Ver­lauf eines Pro­zes­ses der Akkul­tu­ra­tion unter west­li­chem Ein­fluss kann also in die­ser Hin­sicht kei­nes­wegs als “Fort­schritt” bezeich­net wer­den, son­dern eher als Verarmung. ♦

Aus Kurt Blau­kopf: Musik im Wan­del der Gesell­schaft – Grund­züge der Musik­so­zio­lo­gie, Wis­sen­schaft­li­che Buch­ge­sell­schaft Darm­stadt 1996

Lesen Sie im Glarean Maga­zin auch das “Zitat der Woche” von Ursula Petrik: Von den Kon­takt­schwie­rig­kei­ten der Neuen Musik

… sowie zum Thema Musik als Uni­ver­sal­spra­che: Musi­ka­li­tät ver­eint die Weltkulturen

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