Christopher Wood: Requiem (CD)

Das Unzulängliche als Ereignis

von Wolf­gang-Ar­min Rittmeier

Ir­gend­wie mu­tet es auf den ers­ten Blick schon wie ein schlech­ter Witz an, dass sich ein mu­si­ka­lisch di­let­tie­ren­der Krebs­spe­zia­list aus Gross­bri­tan­ni­en hat dazu hin­reis­sen las­sen, für sei­ne ein­zi­ge Kom­po­si­ti­on ge­ra­de das Su­jet To­ten­mes­se zu wäh­len. Doch im Fal­le von Chris­to­pher Woods „Re­qui­em“ kann man mit Goe­the aus­ru­fen: „Hier wird’s Er­eig­nis“. Tat­säch­lich soll­te man dann der Rich­tig- und Treff­lich­keit hal­ber aber auch den die­sem vor­aus­ge­hen­den Vers aus dem „Cho­rus mys­ti­cus“ (Faust II) zi­tie­ren und kon­sta­tie­ren: „Das Unzulängliche“.

Gefühle in Requiem-Musik ausgedrückt

Christopher-Wood-Requiem-Orchid-ClassicsDenn Un­zu­läng­lich­keit ist – es fällt schwer, po­si­ti­ver zu ur­tei­len – die Quint­essenz die­ses Wer­kes, das – wenn man den Wor­ten des Kom­po­nis­ten trau­en darf – als Re­ak­ti­on auf den Tod von Eliza­beth Bo­wes-Lyon, bes­ser be­kannt als „The Queen Mo­ther“ oder kurz „Queen Mum“, ent­stan­den ist. Der Kom­po­nist sel­ber über die Ent­ste­hung des Wer­kes (Zi­tat):

Als Queen Eliza­beth (The Queen Mo­ther) im Jah­re 2002 starb, er­leb­te man in Gross­bri­tan­ni­en ein aus­ser­ge­wöhn­li­ches Mass an Emo­tio­nen, ein ech­tes Ge­fühl na­tio­na­ler Trau­er. Tau­sen­de Men­schen stan­den stun­den­lang an, um ihr am auf­ge­bahr­ten Sarg ih­ren Re­spekt zu zol­len, und das mit ei­ner Mi­schung von Ge­füh­len, die schwer zu be­schrei­ben ist. Da gab es si­cher­lich Trau­er, doch war die­se durch­wo­ben von an­de­ren Re­gun­gen, viel­leicht so­gar mit ei­nem Ge­fühl von pa­trio­ti­schem Stolz. Da gab es Trau­rig­keit, aber auch Ehr­ge­fühl und Dank­bar­keit – und all das für eine Per­son, die die meis­ten Men­schen nie­mals per­sön­lich ge­trof­fen hatten.
Doch war die Kö­ni­gin­mut­ter sehr lan­ge ein Sym­bol der Na­ti­on ge­we­sen und hat­te da­bei ge­hol­fen, den Cha­rak­ter Gross­bri­tan­ni­ens mit zu for­men. Ich frag­te mich da­mals, was die Men­schen, die am Sarg vor­bei schrit­ten, wohl sin­gen wür­den, wenn sie ein Chor wä­ren. Oder noch eher: Was für Mu­sik hät­te ich ge­sun­gen, um die Ge­füh­le die­ses Mo­men­tes ein­zu­fan­gen? Also dach­te ich, dass ich ver­su­chen soll­te, die­se Ge­füh­le in Mu­sik aus­zu­drü­cken. Und so ent­wi­ckel­te sich die Idee für die­ses ‚Re­qui­em‘.

Es fällt schwer, nach die­sen ein­füh­ren­den Wor­ten des Kom­po­nis­ten das Werk nicht als An­bie­de­rung ans Es­tab­lish­ment, ans Pu­bli­kum oder als treff­lich plat­zier­te Mar­ke­ting-Idee zu hö­ren. Aber es geht. Al­ler­dings hält sich der Ge­winn für den Hö­rer in ei­ni­ger­mas­sen en­gen Gren­zen. Wenn man es kurz ma­chen wol­len wür­de, dann könn­te man Woods „Re­qui­em“ viel­leicht fol­gen­der­mas­sen cha­rak­te­ri­sie­ren: Dem­je­ni­gen, dem John Rut­ters To­ten­mes­se nicht seicht ge­nug ist, der soll­te sich ver­trau­ens­voll an Chris­to­pher Wood wen­den. Denn das ist Woods Werk in sei­ner Un­zu­läng­lich­keit in je­dem Takt auch noch: seicht.

Harfengezupf vor Streichergrund

Neh­men wir bei­spiels­wei­se den ers­ten Satz. Das „Re­qui­em“ be­ginnt – man möch­te ge­ra­de­zu aus­ru­fen: „na­tür­lich“ – mit Har­fen­ge­zupf vor ei­nem satt-klang­vol­len, ja hol­ly­woo­des­ken Strei­cher­grund, bal­sa­misch säu­selnd set­zen die Cho­ris­tin­nen und Cho­ris­ten ein, un­ter Paul Boughs aus dem Vol­len schöp­fen­der Lei­tung ba­den die L’Inviti Sin­gers, die L’Inviti Sin­fo­nia und So­pra­nis­tin Re­bec­ca Bot­to­ne in den „eng­li­schen“ Klän­gen, die Wood ge­mein­sam mit sei­nem Ar­ran­geur Jo­na­than Rath­bo­ne an­ge­rührt hat. Die­se Klän­ge die­nen dazu, sich mög­lichst frik­ti­ons­frei in die Her­zen je­ner Mu­sik­hö­rer zu schlei­chen, die we­ni­ger die Be­geg­nung mit ei­nem Kunst­werk su­chen, son­dern die we­nig mehr er­war­ten als un­kom­pli­zier­te Rüh­rung und ei­nen Sound­track für die ei­ge­ne Gefühlswelt.

Im Grun­de klingt die Mu­sik tat­säch­lich so, wie es das Co­ver der CD an­kün­digt. Da geht der Blick in den ab­schieds­vol­len Son­nen­un­ter­gang, hin­weg über den ur­alten Oze­an ins Ewi­ge, wo schliess­lich das Jen­sei­ti­ge of­fen­bart, der Sinn des Le­bens er­kannt wird. Dass die Mis­sa pro de­func­tis ein nicht sel­ten ver­zwei­felt fle­hen­der Bitt­ge­sang für das See­len­heil des Ver­stor­be­nen an­läss­lich des Ge­rich­tes ist, wird bei Wood nicht mehr deut­lich. Statt­des­sen hat es der Hö­rer, man möge die Con­tra­dic­tio in adiec­to ent­schul­di­gen, mit ei­nem „Feelgood“-Requiem, ei­ner schon fast un­säg­li­chen Per­ver­tie­rung des­sen, wor­um es ei­gent­lich geht, zu tun. „Tod, wo ist das Sta­chel, Höl­le, wo ist Dein Sieg?“ Die Fra­ge, die im Ko­rin­ther 1/55 ge­stellt wird und die so vie­le, vie­le treff­li­che Meis­ter von Guil­laume Dufay bis hin zu Krzy­sz­tof Pen­der­ecki be­schäf­tigt und zu den tief­sin­nigs­ten und kunst­volls­ten Kom­po­si­tio­nen ge­bracht hat, sie stellt sich bei Wood nicht mehr, denn der Tod er­scheint hier ohne jeg­li­che Problematik.

Requiem im Supermarkt?

Die­se Mu­sik, die auch gut als Hin­ter­grund­mu­sik in ei­nem Su­per­markt lau­fen könn­te, ne­giert schlicht­weg alle Pro­ble­me, mit de­nen sich der Mensch im Rah­men des Me­men­to mori kon­fron­tiert sieht. Sel­ten hat eine die Ver­to­nung die­ses Mes­se-Tex­tes in­ten­si­ver an Sig­mund Freuds tief­sin­nig-kla­re Wor­te in „Zeit­ge­mäs­ses über Krieg und Tod“ (1915) er­in­nert, die sich auf die mensch­li­che Ten­denz zum Be­sei­te­schie­ben des To­des beziehen:

Dies un­ser Ver­hält­nis zum Tode hat aber eine star­ke Wir­kung auf un­ser Le­ben. Das Le­ben ver­armt, es ver­liert an In­ter­es­se, wenn der höchs­te Ein­satz in den Le­bens­spie­len, eben das Le­ben selbst, nicht ge­wagt wer­den darf. Es wird so schal, ge­halt­los wie etwa ein ame­ri­ka­ni­scher Flirt, bei dem es von vorn­her­ein fest­steht, dass nichts vor­fal­len darf, zum Un­ter­schied von ei­ner kon­ti­nen­ta­len Lie­bes­be­zie­hung, bei wel­cher bei­de Part­ner stets der erns­ten Kon­se­quen­zen ein­ge­denk blei­ben müs­sen. Un­se­re Gefühlsbin­dungen, die un­er­träg­li­che In­ten­si­tät un­se­rer Trau­er, ma­chen uns ab­ge­neigt, für uns und die Un­se­ri­gen Ge­fah­ren auf­zu­su­chen. Wir ge­trau­en uns nicht, eine An­zahl von Un­ter­neh­mun­gen in Be­tracht zu zie­hen, die ge­fähr­lich, aber ei­gent­lich un­er­läss­lich sind wie Flug­ver­su­che, Ex­pe­di­tio­nen in fer­ne Län­der, Ex­pe­ri­men­te mit ex­plo­dier­ba­ren Sub­stan­zen. Uns lähmt da­bei das Be­den­ken, wer der Mut­ter den Sohn, der Gat­tin den Mann, den Kin­dern den Va­ter er­set­zen soll, wenn ein Un­glück ge­schieht. Die Nei­gung, den Tod aus der Le­bens­rech­nung aus­zu­schlies­sen, hat so vie­le an­de­re Ver­zich­te und Aus­schlies­sun­gen im Gefolge.“

Keine Auseinandersetzung mit dem Tod

Christopher Woods Requiem geriert sich als Totenmesse des Wellness-Zeitalters. Eine seichte, an schwachen Musicals und Soundtracks geschulte Partitur versucht die Kunstlosigkeit, Epigonalität und intellektuelle Leere des Werkes zu verhüllen. Dieser Versuch misslingt in jeder Hinsicht...
Chris­to­pher Woods Re­qui­em ge­riert sich als To­ten­mes­se des Well­ness-Zeit­al­ters. Eine seich­te, an schwa­chen Mu­si­cals und Sound­tracks ge­schul­te Par­ti­tur ver­sucht die Kunst­lo­sig­keit, Epi­go­na­li­tät und in­tel­lek­tu­el­le Lee­re des Wer­kes zu ver­hül­len. Die­ser Ver­such miss­lingt in je­der Hin­sicht. Scha­de um das hör­bar en­ga­gier­te Mu­si­zie­ren der Auf­füh­ren­den die­ser CD.

Schal und ge­halt­los wird nicht nur das Le­ben, Woods Kom­po­si­ti­on be­weist hin­läng­lich, dass in die­sem Zuge auch die Kunst in er­schre­cken­dem Mas­se ver­ar­men kann. Wenn man nun nicht be­reits nach dem gut sie­ben lan­ge Mi­nu­ten wäh­ren­den Ein­gangs-Satz ge­nug von die­sem Mach­werk hat, dann wird man in den noch fol­gen­den 53 ei­ni­ger­mas­sen er­eig­nis­lo­sen Mi­nu­ten an­ge­regt, we­ni­ger über die Con­di­tio hu­ma­na denn viel­mehr dar­über treff­lich zu sin­nie­ren, wel­cher Kom­po­si­ti­ons­sti­le sich Wood und Rath­bo­ne be­die­nen, um den Text des Pro­pri­ums der To­ten­mes­se pu­bli­kums­wirk­sam in Klang zu giessen.

Und was hört man da nicht al­les! Hier klingt es nach schlech­tem Hän­del, dort nach Che­ru­bi­nis c-Moll Re­qui­em, und auf­ge­bläh­ten Haydn hat man eben­so im An­ge­bot wie sim­pli­fi­zier­ten Bel­can­to. Am Ende lan­det man dann wie­der bei John Rut­ter und Karl Jenk­ins – de­nen man im Ge­gen­satz zu Wood im­mer­hin zu Gute hal­ten kann, dass sie im Rah­men ih­res Œu­vres ei­nen Per­so­nal­stil ent­wi­ckelt haben.
Scha­de auch um das hör­bar en­ga­gier­te Mu­si­zie­ren der Aus­füh­ren­den, an­ge­fan­gen beim Solo-Ge­sangs­quar­tett um So­pra­nis­tin Bo­to­ne bis zu Chor und Or­ches­ter der L’inviti. Und so bleibt am Ende der Ein­druck ei­nes Pro­jek­tes, in dem al­les Mög­li­che ver­sucht wur­de, nur kei­ne ernst­haf­te in­tel­lek­tu­el­le Aus­ein­an­der­set­zung mit sei­nem ei­gent­li­chen The­ma. Hört man Chris­to­pher Woods To­ten­mes­se nicht, so hat man mehr Zeit zu leben. ♦

Chris­to­pher Wood: Re­qui­em – Re­bec­ca Bo­to­ne (So­pran), Cla­re Mc­Cal­din (Alt), Ed Lyon (Te­nor), Ni­cho­las Gar­rett (Bass), L’Inviti Sin­fo­nia & Sin­gers, Paul Brough (Lei­tung). Au­dio-CD – Or­chid Classics

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma “Ver­to­nung der To­ten­mes­se” auch über das Re­qui­em von An­drew Lloyd-Webber

… und le­sen Sie auch über die ge­sell­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen der Mu­sik in Kent Na­ga­no: Er­war­ten Sie Wunder!

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