Miriam Kanne: Andere Heimaten (Germanistik)

Moderne weibliche Heimat-Konzepte

von Sigrid Grün

Die Hei­mat ist gerade in der deut­schen Lite­ra­tur ein sehr häu­fi­ger Topos, doch die enorme Bedeu­tung des Hei­mat-Sujets beschränkte sich im 20. Jahr­hun­dert nicht nur auf die Blut-und-Boden-Dich­tung des Drit­ten Rei­ches. Auch danach spielte die Hei­mat in der deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur eine her­aus­ra­gende Rolle. Die Anti-Hei­mat­li­te­ra­tur, v.a. in den Sieb­zi­ger Jah­ren, bil­dete einen Gegen­ent­wurf zu den idyl­li­sie­ren­den Dar­stel­lun­gen, die vor­her domi­niert hat­ten. Trans­for­ma­tio­nen klas­si­scher “Heimat”-Konzepte stellt Miriam Kanne in ihrer Unter­su­chung “Andere Hei­ma­ten” vor.

Miriam Kanne - Andere Heimaten - Transformationen klassischer "Heimat"-Konzepte bei Autorinnen der Gegenwartsliteratur - Ulrike Helmer VerlagIm vor­lie­gen­den Buch begibt sich die pro­mo­vierte Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin Miriam Kanne auf die Spur des Kon­struk­tes Hei­mat, das nicht nur in räum­li­cher, zeit­li­cher, kul­tu­rel­ler und sozia­ler Hin­sicht von Bedeu­tung ist, son­dern auch in der femi­nis­ti­schen For­schung eine wich­tige Rolle spielt. Wäh­rend die Frauen näm­lich in den “klas­si­schen” Hei­mat­ro­ma­nen männ­li­cher Autoren ent­we­der als Sub­jekte mar­gi­na­li­siert bzw. als Ver­kör­pe­rung von Hei­mat dar­ge­stellt wer­den oder dann als das Fremde, Anders­ar­tige in Erschei­nung tre­ten, die das männ­li­che Gegen­über gefähr­den, kommt der Frau in der Lite­ra­tur weib­li­cher Autorin­nen meist eine andere Rolle zu. Miriam Kanne beant­wor­tet hier also Fra­gen wie: Wel­ches Hei­mat­bild wird in der zeit­ge­nös­si­schen, weib­li­chen Lite­ra­tur ent­wor­fen?  Wie unter­schei­det es sich von den Hei­mat­kon­zep­ten, das Män­ner kon­stru­ie­ren? Wel­che Rolle kommt den weib­li­chen Prot­ago­nis­tin­nen zu?

Genese des literarischen Heimat-Begriffs

Anhand von acht Wer­ken weib­li­cher Schrift­stel­le­rin­nen des 20. und begin­nen­den 21. Jahr­hun­derts wird die­sen (und wei­te­ren) Fra­gen nach­ge­gan­gen, wobei fol­gende Autorin­nen bzw. Werke ana­ly­siert wer­den: Mar­len Haus­ho­fers Roman “Die Wand” (1962), Inge­borg Bach­manns Erzäh­lung “Drei Wege zum See” (1972), Helga Maria Novaks Dop­pel­werk “Die Eis­hei­li­gen” (1979) und “Vogel Feder­los” (1981), Wal­traud Anna Mit­gutschs “Die Züch­ti­gung” (1985), Bar­bara Honig­manns Erzäh­lung “Eine Liebe aus nichts” (1991), Erica Ped­ret­tis Roman “Engste Hei­mat” (1995), Emine Sevgi Özda­mars Nar­ra­tion “Die Brü­cke zum Gol­de­nen Horn” (1998), und Judith Kuckarts Roman “Lenas Liebe” von 2002.

Dem Ana­ly­se­teil stellt Miriam Kanne aller­dings eine aus­führ­li­che Genese des Hei­mat­be­grif­fes in der Lite­ra­tur des 20. Jahr­hun­derts voran. So las­sen sich die Ent­wick­lung und die Unter­schiede, etwa in puncto Zeit, Raum und Geschlecht sehr gut nach­voll­zie­hen. Bezeich­nend für die weib­li­chen Hei­ma­t­ent­würfe ist – im Gegen­satz zur tra­di­tio­nel­len Hei­mat­li­te­ra­tur – der Topos des in der Behei­ma­tung Deplat­zier­ten, Hei­mat­lo­sen. Die Hei­mat wird den Prot­ago­nis­tin­nen fremd oder wirkt befremd­lich und ist nicht mehr Schutz- oder Kom­pen­sa­ti­ons­raum. Der bis­he­ri­gen Ord­nung wird die Ver­wir­rung ent­ge­gen­ge­setzt. Brü­che und Dis­so­nan­zen wer­den sicht­bar. Und die Rolle der Frau ver­än­dert sich. Ste­reo­ty­pi­sierte Rol­len­vor­stel­lun­gen wer­den auf­ge­bro­chen – die Frau wird nicht mehr als Sub­jekt mar­gi­na­li­siert oder als Ver­kör­pe­rung von Hei­mat gedeu­tet. Statt­des­sen wird das über­kom­mende Sys­tem hin­ter­fragt und unterminiert.

Heimat auch als Fremdes und Anderes

Miriam Kanne ist mit
Miriam Kanne ist mit “Andere Hei­ma­ten” eine fun­dierte Ana­lyse zeit­ge­nös­si­scher weib­li­cher Hei­mat­li­te­ra­tur gelun­gen, die die Augen für die Wand­lung des tra­dier­ten Hei­mat­bil­des öff­net. Auch für Lite­ra­tur- und Kul­tur­wis­sen­schaft­ler eine sehr emp­feh­lens­werte Lektüre.

Miriam Kanne zeigt auf, wel­che Trans­for­ma­ti­ons­pro­zesse des tra­di­tio­nel­len Hei­mat­ver­ständ­nis­ses in der zeit­ge­nös­si­schen weib­li­chen Lite­ra­tur statt­ge­fun­den haben: Weg von der Deu­tung der Hei­mat als Ort des Eige­nen, Bekann­ten und Ver­trau­ten – hin zur Hei­mat, der das Fremde und Anders­ar­tige selbst inne­wohnt und nicht nur als deren Gegen­teil begrif­fen wird. In den ana­ly­sier­ten Tex­ten geht es also darum, dass Hei­mat das Fremde und Andere beinhal­tet und gene­riert. Oder um es mit den Wor­ten Mar­tina Ölkes zu sagen, die den Hei­mat­be­griff bei Anette von Droste-Hüls­hoff näher unter­suchte: “Das Fremde liegt nicht in der Ferne, son­dern (auch) im hei­mat­li­chen Innenbereich.” ♦

Miriam Kanne: Andere Hei­ma­ten – Trans­for­ma­tio­nen klas­si­scher “Heimat”-Konzepte bei Autorin­nen der Gegen­warts­li­te­ra­tur, Ulrike-Hel­mer-Ver­lag, 480 Sei­ten, ISBN 978-3897413344

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema „weib­li­che Lite­ra­tur“ auch über Simone Frie­ling: Aus­ge­zeich­nete Frauen (Gen­der-Aspekte des Literatur-Nobelpreises)

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