Volker Klöpsch: Chinesische Liebesgedichte

Ostasiatische Poesie aus drei Jahrtausenden

von Walter Eigenmann

An­ders als die ja­pa­ni­sche Ly­rik, die in den letz­ten Jah­ren mit ih­ren po­pu­lärs­ten bei­den For­men Hai­ku und Tanka auch im Wes­ten ei­nen re­gel­rech­ten Boom er­leb­te, ge­niesst das “klas­si­sche” chi­ne­si­sche Ge­dicht kei­ne son­der­li­che Auf­merk­sam­keit bei der Ly­rik-Le­ser­schaft un­se­rer kul­tu­rel­len Brei­ten­gra­de – trotz Über­set­zun­gen der Wer­ke so be­rühm­ter Dich­ter wie Tao Yuan­ming (Jin-Dy­nas­tie), Li Bai, Du Fu, Bai Juyi, Du Mu, Li Shan­gy­in (alle Tang) oder Li Qing­zhao (Song). Umso grös­ser das Ver­dienst des deut­schen Si­no­lo­gen Vol­ker Klöpsch – u.a. auch sei­nes “Le­xi­kons der chi­ne­si­schen Li­te­ra­tur” (2004) we­gen ei­ner der füh­ren­den Ex­per­ten für ost­asia­ti­sche Li­te­ra­tur -, der nun im In­sel­/S­uhr­kamp-Ver­lag eine re­prä­sen­ta­ti­ve, über wei­te tei­le re­fe­ren­ti­el­le Samm­lung “Chi­ne­si­scher Lie­bes­ge­dich­te” herausgab.

Der Band er­streckt sich zeit­lich vom be­kann­ten an­ony­men “Buch der Lie­der”, das noch Kon­fu­zi­us per­sön­lich zu­sam­men­ge­tra­gen ha­ben soll, über die li­te­ra­risch be­son­ders frucht­ba­re Tang-Zeit (7.-10. Jh.) so­wie die Dy­nas­tien Yuan (13./14. Jh.) und Ming (14.-16. Jh.) bis hin zur chi­ne­si­schen Li­te­ra­tur-Mo­der­ne ei­nes Wen Yiduo oder Gu Cheng.

Lyrik als Bestandteil der Beamtenprüfung

Volker Kloepsch (Hrsg.): Chinesische Liebesgedichte (Insel Taschenbuch)

In der “klas­si­schen” chi­ne­si­schen Dich­tung spiel­te die Lie­be, wie der Her­aus­ge­ber in sei­nem in­struk­ti­ven Nach­wort aus­führt, nicht die do­mi­nie­ren­de Rol­le, die sie in der west­li­chen Li­te­ra­tur ein­nimmt: “Der Dich­ter war im al­ten Chi­na in der Re­gel Be­am­ter im Diens­te des Staa­tes, und die Dich­tung dien­te vor­ran­gig als Me­di­um des ge­sell­schaft­li­chen Um­gangs. Sie fand im öf­fent­li­chen Raum statt und ge­noss gros­se Be­ach­tung. So war die Ab­fas­sung von Ge­dich­ten über Jahr­hun­der­te auch Be­stand­teil der lan­des­wei­ten Be­am­ten­prü­fun­gen, ohne die kein Auf­stieg mög­lich war. Nach ei­nem Aus­spruch des Kon­fu­zi­us ver­fügt über kei­ne Spra­che, wer die Lie­der nicht kennt.”

Original des Gedichtes
Ori­gi­nal des Ge­dich­tes “Nacht­ge­dan­ken” des be­deu­ten­den Tang-Ly­ri­kers Li Bai (701-762)

Im Schat­ten der über­mäch­ti­gen Tra­di­ti­on die­ser “Be­am­ten­dich­tung” konn­ten sich die vie­len For­men ei­ner ei­ge­nen Volks­dich­tung zwar durch­aus reich ent­fal­ten, muss­ten sich aber auf die münd­li­che Über­lie­fe­rung stüt­zen. Denn das brei­te Volk ver­füg­te zwar na­tür­lich über dich­te­ri­sche Stim­men, doch wie Über­set­zer Klöpsch dar­legt: “Die Be­herr­schung der Schrift auf Grund ih­rer Schwie­rig­kei­ten war ein noch viel grös­se­res Pri­vi­leg der ‘ge­bil­de­ten Stän­de’ als im eu­ro­päi­schen Mit­tel­al­ter. Das Er­ler­nen von vie­len tau­send chi­ne­si­schen Schrift­zei­chen er­for­der­te eine lang­jäh­ri­ge Aus­bil­dung, der sich nur die we­nigs­ten un­ter­zie­hen konnten.”

Exkurs: Übersetzen aus dem Chinesischen

Li Bai - Chinesischer Dichter der Tang-Dynastie - Glarean Magazin
Li Bai in ei­ner Tu­sche-Zeich­nung von Lian Kai

Zur Pro­ble­ma­tik des Über­set­zens aus ei­ner so kom­ple­xen Hoch­spra­che wie dem Chi­ne­si­schen führt der deut­sche Si­no­lo­ge aus: “Die sprach­li­chen Struk­tu­ren – es gibt im mo­der­nen Chi­ne­sisch nur etwa 400 un­ter­schied­li­che Sil­ben – be­din­gen eine gros­se Zahl von gleich­klin­gen­den Wör­tern und ent­spre­chen­den ge­dank­li­chen An­spie­lun­gen und Zwei­deu­tig­kei­ten. Neh­men wir ein klei­nes Bei­spiel: Ein schlich­tes, mit ‘Be­trieb­sam­keit’ über­schrie­be­nes Lied be­schreibt auf der Ober­flä­che nichts als ein­fa­che (und un­schul­di­ge) Tä­tig­kei­ten im länd­li­chen Haushalt:

Der Jun­ge soll Lo­tos pflanzen –
sie sieht in den Blü­ten ein Band.
Das Mäd­chen züch­tet die Raupen –
er sieht in der Sei­de ein Pfand.

Sie will aus dem Brun­nen schöpfen,
doch fehlt ihr das rech­te Gerät.
Zu ger­ne schlüpf­te er ein­mal hinein
in das Hemd, das sie ge­ra­de näht.

Vier Schlüs­sel­wör­ter ver­mit­teln je­doch für den ge­üb­ten Hö­rer oder Le­ser eine tie­fe­re Di­men­si­on: Der Lo­tus (lian) lässt die vom Mäd­chen er­sehn­te ‘Ver­bin­dung’ an­klin­gen, die Sei­de (mian) deu­tet das Be­geh­ren des Jun­gen an, mit dem Mäd­chen zu ‘schla­fen’; das Schöpf­ge­rät (tong) für den Brun­nen, wel­ches das Mäd­chen ver­misst, heisst auch ‘mit­ein­an­der ver­keh­ren’, und der Wunsch des Jun­gen, in das Hemd ‘hin­ein­zu­schlüp­fen’, ist eben­falls ein­deu­tig se­xu­el­ler Natur.” –

Tour d’horizont durch 3 Jahrtausende chinesischer Poesie

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Dem in­ter­es­sier­ten Le­ser, ge­schult an the­ma­tisch ver­gleich­ba­rer Ly­rik ok­zi­den­ta­len Ur­sprungs, er­schliesst die Samm­lung eine ganz ei­ge­ne dich­te­ri­sche Welt der un­ver­fälsch­ten Sen­si­bi­li­tät und ei­ner selt­sam naiv an­mu­ten­den Seins-Sicht, aber auch der rät­sel­haf­ten Ge­fühls-Chif­fren und der be­tont na­tur- bzw. tier­ver­bun­de­nen, gleich­zei­tig sehr be­deu­tungs­träch­ti­gen Bild­mo­ti­ve. Die­se be­son­de­re poe­ti­sche Qua­li­tät der ost­asia­ti­schen Lie­bes-Ly­rik zu ver­mit­teln ist ein ver­dienst­vol­ler Aspekt die­ser Tour d’horizont durch drei Jahr­tau­sen­de Poe­sie aus Chi­na, und mit der Her­aus­ga­be die­ser Ge­dich­te, wel­che trotz al­ler fas­zi­nie­ren­den Exo­tik in In­halt und Form doch auch die mensch­li­chen Kon­stan­ten Lie­be und Lust li­te­ra­risch be­wäl­ti­gen und da­mit we­sent­li­che Be­rüh­rungs­punk­te mit der ent­spre­chen­den abend­län­di­schen Hoch­poe­sie auf­wei­sen, ver­bin­det Her­aus­ge­ber Klöpsch ne­ben dem dich­te­ri­schen auch ein in­ter­kul­tu­rel­les Anliegen.
Er hofft näm­lich, dass es ge­län­ge, “uns die fer­nen Men­schen nä­her zu brin­gen und ver­ständ­li­cher zu ma­chen, so dass das Frem­de uns nicht mehr ver­wirrt, son­dern be­rei­chert und be­glückt, weil es als ein Teil des Ei­ge­nen be­grif­fen wird.” Nicht das schlech­tes­te der Mo­ti­ve, fremd­län­di­sche Li­te­ra­tur her­aus­zu­ge­ben… Eine hoch­will­kom­me­ne Edi­ti­on, der man et­was brei­te­re Le­ser­schaft als den üb­li­chen Ly­rik-Ni­schen­markt erhofft! ♦

Vol­ker Klöpsch (Hrsg.), Chi­ne­si­sche Lie­bes­ge­dich­te, Insel/Suhrkamp Ver­lag, 144 Sei­ten, ISBN 978-3458351177

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Ly­rik auch von Ju­li­et­ta Fix: Ein Fest (Drei Gedichte)
Wolf­gang Lu­ley: Am Puls der Wör­ter (Drei Gedichte)

… so­wie zum The­ma Lie­be und Li­te­ra­tur über die An­tho­lo­gie: Lie­bes­brie­fe be­rühm­ter Frauen

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