Jutta Miller-Waldner: Und Kutte lachte (Humoreske)

Und Kutte lachte

Jut­ta Miller-Waldner

Kut­te plin­ker­te mit den Au­gen, klatsch­te mit der lin­ken Hand eine Flie­ge fort, die sich auf sein rech­tes Lid ge­setzt hat­te, ver­zog das Ge­sicht vor Schmerz, wälz­te sich auf die an­de­re Sei­te, fiel fast von der Park­bank, zuck­te zusammen.
Kut­te war wach.
Und Kut­te hat­te Hunger.
Er er­hob sich äch­zend, blieb eine Wei­le sit­zen, den Rü­cken ge­beugt, den Kopf tief zwi­schen den Schul­tern. Schliess­lich er­hob er sich und fal­te­te die FAZ-Sonn­tags­aus­ga­be zu­sam­men, die ihm als Un­ter­la­ge und Kopf­kis­sen und Zu­de­cke ge­dient hat­te, warf sie in den Abfallkorb.
“Heu­te muss ick mir wie­da zwee Zei­tun­gen or­ja­ni­si­ern. Muss ick wie­da mit de S-Bahn fah­ren. Oder nee, bes­ser is et mit die U-Bahn. Da las­sen die Leu­te öfta mal ne TAZ liejen.”
Kut­te las mög­lichst je­den Tag die TAZ. Das hat­te er von frü­her bei­be­hal­ten. Da war er ei­gen. So­viel Wür­de muss­te sein.
Er spritz­te sich am Spring­brun­nen Was­ser ins Ge­sicht, wisch­te den Schmutz von sei­nen Schu­hen, sei­nen Jeans, zog den Kamm aus der lin­ken Ge­säss­ta­sche, fuhr sich über die Haa­re, spuck­te in die Hän­de und strich sie glatt, er­blick­te sein Ge­sicht im Was­ser, guck­te schnell wie­der weg.
Sein Ma­gen knurrte.
“Als ers­tet werd ick die Ab­fall­kör­be ab­klap­pern. Am bes­ten drü­ben beim Jym­na­si­um. Wenn nich schon ein and­rer da­je­we­sen is. Aba die Jö­ren schmeis­sen ja so­ville wech, da werd ick be­stimmt noch wat fin­den. Fil­leicht ha ick ja Glück und find ne Stul­le mit Katenrauchschinken.”
Kut­te ass ger­ne Kar­ten­rauch­schin­ken. Am liebs­ten ass er Räu­cher­lachs, aber wel­che Mut­ter gab sei­nem Kind schon ein Lachs­brot mit in die Schule.
Er schlurf­te hin­über, wühl­te. Nichts. “Mist”, dach­te er. “Det is nich mein Tach heu­te. Da steht man am bes­ten jar nich erst uff. Aber denn kom­men die Bul­len un ver­ja­gen ei­nen. Na jut, werd ick zur Re­al­schu­le marschieren.”
Kut­tes Ma­gen knurr­te lauter.
“Sei ru­hich”, be­fahl er. “Krichst ja jleich wat.”
Er wühl­te. Fand zwei in Alu­fo­lie ge­wi­ckel­te Schrip­pen – “is doch meen Jlück­stach heu­te” -, wühl­te wei­ter, zog eine vier­tel­vol­le Ein­li­te­r­fla­sche Cola her­aus, eine halb­lee­re Dose Red Bull, ein Über­ra­schungs­ei, eine Son­nen­bril­le, de­ren lin­kes Glas ver­schrammt war, drei Sam­mel­bil­der für das Fuss­ball-EM-Al­bum mit René Ad­ler – “wie­so denn der”, schoss es ihm durch den Kopf -, Mi­ros­lav Klo­se und Bas­ti­an Schwein­stei­ger. “Na nu”, wun­der­te er sich. “Wat schmeis­sen die denn so­wat wech?!”
Kut­te moch­te Schweini.
Des Wei­te­ren fand er eine Bar­bie­pup­pe mit nur ei­nem Bein, warf sie an­ge­wi­dert zurück.
Fand eine Tarotkarte.
“Wat is ‘n det? So’n Quatsch”, stell­te er fest. Warf sie wie­der in den Abfallkorb.
Er steck­te das eine Bröt­chen in die Ja­cken­ta­sche – “Wer we­ess, wenn ick wie­da wat fin­de” -, wi­ckel­te das an­de­re aus, knüll­te die Alu­fo­lie zu­sam­men, warf sie zur Ta­rot­kar­te. Klapp­te das Bröt­chen auf, be­gut­ach­te­te die Jagd­wurst­schei­be, roch dar­an. “Na ja, jeht ooch” -, klapp­te es zu, biss hin­ein, schlurf­te weiter.
Schlurf­te zu­rück, griff in den Ab­fall­korb, hol­te die Ta­rot­kar­te her­aus. Starr­te sie an, steck­te sie in die Ho­sen­ta­sche, wan­der­te zu sei­ner Park­bank. Ass sei­ne Schrip­pe auf, schlen­der­te zum Spring­brun­nen, wusch sich die Hän­de, setz­te die Son­nen­bril­le mit dem zer­kratz­ten lin­ken Glas auf, mar­schier­te zu­rück, setz­te sich, schlug das rech­te Bein über das lin­ke, zog die Ta­rot­kar­te aus der Ho­sen­ta­sche, be­trach­te­te sie, die blau­en Ku­geln, die ge­schweif­ten Li­ni­en, die Ket­ten, die Frau, die das Schwert mit bei­den Hän­den hielt …
“Uff wat für Ein­fäl­le die Leu­te kom­men”, wun­der­te er sich. “Wer kooft denn so­wat? Und wozu?”
Er las die Zahl, die da in rö­mi­schen Zif­fern ge­schrie­ben stand, las das Wort am un­te­ren Rand: Ausgleichung.
“Aus­glei­chung. Kenn ick nich. Ha ick ja noch nie je­hört. Det jibt Jlei­chun­gen, Jleich­be­rech­ti­gung haha, An­j­lei­chung, Aus­j­leich, Jleich­heit, na ja, Jleich­jü­lig­keit. Die kenn wa zu jenüje.”
Kut­te sass auf sei­ner Park­bank, er rutsch­te hin und her, starr­te auf die Kar­te, stand auf, setz­te sich wie­der, starr­te auf die Kar­te, schau­te hin­über zum Spring­brun­nen, auf die Kar­te in sei­ner Hand. Sah die neun­und­neun­zig Luft­bal­lons, die in der Fon­tä­ne tanz­ten – hell­blaue, ba­by­blaue, süd­see­him­mel­blaue, blau wie Ver­giss­mein­nicht, Glet­scher­eis, Sa­phi­re, ge­streift, ge­punk­tet, ka­riert -, ging hin­über, er­griff die Strip­pe ei­nes weiss­blau­en, hob ab und schweb­te. Er schweb­te über das ICC, den Funk­turm, über Fürs­ten­feld­bruck und New York, die Wüs­te Gobi und den An­gel­fall, über den At­lan­ti­schen Oze­an, über Vul­ka­ne und Eis, und er schweb­te, und der Mond war sein Kum­pel und die Son­ne sei­ne Braut, und die Pla­ne­ten spiel­ten um ihn her Rin­gel­rei­hen, er kick­te ei­nen Sa­tel­li­ten ge­gen die Ve­nus und schrie “Tooo­or”, und rief zur ISS ein “Nas­da­rowje” hin­über; er spa­zier­te mit­ten­mang auf der Milch­stras­se, die Strip­pe des Luft­bal­lons fest in sei­ner rech­ten Hand, und sah die Ga­la­xien Wal­zer tan­zen, die Qua­sa­re Rock ‘n Roll, er fuhr auf ei­nem Ko­me­ten Ach­ter­bahn und ro­del­te mit ei­ner Stern­schnup­pe zu­rück zu Erde. –

Kut­te plin­ker­te mit den Au­gen, klatsch­te mit der lin­ken Hand eine Flie­ge fort, die sich auf sein rech­tes Lid ge­setzt hat­te, ver­zog das Ge­sicht vor Schmerz, wälz­te sich auf die an­de­re Sei­te, fiel fast von der Park­bank, zuck­te zu­sam­men, er­hob sich äch­zend und starr­te auf sei­ne rech­te Hand.
Und Kut­te lachte. ♦


Jut­ta Miller-Waldner

Geb. 1942 in Ber­lin, zahl­rei­che Ly­rik- und Kurz­pro­sa-Pu­bli­ka­tio­nen in Zeit­schrif­ten und An­tho­lo­gien, Le­sun­gen in Deutsch­land, Spa­ni­en, Ös­ter­reich und Un­garn, ver­schie­de­ne li­te­ra­ri­sche Wür­di­gun­gen, Vor­sit­zen­de der IGdA, lebt als Au­torin, Lek­to­rin und Chef­re­dak­teu­rin von “IGdA-ak­tu­ell: Zeit­schrift für Li­te­ra­tur, Kunst und Kri­tik” in Berlin

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Ein Kommentar

  1. Hal­lo Jutta…danke für dei­ne Ant­wort, die ich noch ge­büh­rend über AOL ex­tra be­ant­wor­ten wer­de, heu­te fehlt mir die Zeit. Auch ich weiß jetzt mehr oder we­ni­ger, mit wem ichs zu tun habe und wäre bei­na­he auch von der Park­bank gefallen. : )

    See you soon…Herzlichst Hans

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