Vera Simon: Was macht ein gutes Gedicht aus?

Sprachliche Präzision als Qualitätsmerkmal

von Vera Simon

Jeder kann Gedichte schrei­ben. Die Frage ist nur, was ein Gedicht braucht, um aus­ge­zeich­net zu wer­den. Oder anders: Was macht ein gutes Gedicht aus? Was ist bei Gedich­ten zu beach­ten? Sen­si­bi­li­tät, Sprach­ge­fühl, bestimmte Vers­for­men oder Reim­ar­ten mögen hilf­reich sein, ein Gedicht zu schrei­ben. Was aber führt zu einem Gedicht, das sogar aus­zeich­nungs­wür­dig ist?

Die poetische Sprache des Gedichts

Gedichte sind Texte, die in Ver­sen auf­ge­baut sind. Oder ein­fa­cher gesagt: Zei­len­um­brü­che sind typisch für Gedichte. Die Verse bil­den Sinn­ein­hei­ten, wobei nicht der Satz­bau bestimmt, wo ein Vers beginnt oder endet. Von einem Gedicht erwar­tet man andere Inhalte als von Pro­sa­tex­ten. Das Gedicht zählt zur Lyrik. Lyrik über­zeugt durch die Unmit­tel­bar­keit des Aus­drucks.  Im Gedicht drückt sich das Lyri­sche Ich aus, das erle­bende und emp­fin­dende Ich. Inso­fern zeigt das Gedicht eine beson­dere Spra­che, die so genannte poe­ti­sche Spra­che, eine Spra­che, die deut­lich von der All­tags­spra­che abweicht. So gese­hen ist das Gedicht ein Labo­ra­to­rium der Sprache.

Gedicht Manuskript Georg Trakl - An Mauern hin - Lyrik-Literatur Glarean-Magazin
Manu­skript von Georg Trakl des Gedich­tes “An Mau­ern hin”

Im Gedicht emp­fin­det der Dich­ter und drückt seine Emp­fin­dung aus. Wenn nur Wis­sen, Den­ken oder Glau­ben zum Aus­druck kom­men, kann man also noch nicht von einem Gedicht spre­chen. Im Emp­fin­den ist der Mensch ein­zig­ar­tig und durch den Aus­druck des Ein­zig­ar­ti­gen bekommt ein Gedicht seine eigene Note. Beim Aus­druck ihres Emp­fin­dens aber machen viele Men­schen Feh­ler. Auch Dich­ter: Viele ver­wen­den abge­grif­fene Worte, die einen Sach­ver­halt nur unge­nü­gend tref­fen, wer­den sen­ti­men­tal, schrei­ben geborgte Bil­der oder schwüls­tige und unpas­sende Ver­glei­che nie­der. Um das zu ver­hin­dern würde es manch­mal schon hel­fen, wenn so genannte Dich­ter ihre spon­ta­nen Ein­fälle erst ein­mal ver­räu­men und nach Tagen kri­tisch beur­tei­len wür­den. Meist miss­lin­gen Gedichte auch dann, wenn man sich nicht auf den eige­nen Ein­fall ver­lässt, son­dern mit frem­den Ein­fäl­len arbei­tet. Bes­ser die Fin­ger davon las­sen, als andere Dich­ter zu paraphrasieren.

Das Gedicht als Ausdruck des kleinsten Ganzen

Auch der Rhyth­mus ist wich­tig und macht ein Gedicht aus. Er ent­spricht nicht dem nor­ma­len Pro­sa­fluss, was man auch dann merkt, wenn ein Gedicht ohne Zei­len­fall wie ein Pro­sa­text gesetzt ist. Die­ser Rhyth­mus hat dem Inhalt des Gedich­tes zu ent­spre­chen. Der Ein­satz von Meta­pher und Ver­gleich ist ein wei­te­res Kenn­zei­chen von dich­te­ri­scher Spra­che. Aller­dings sollte man beim Ver­gleich das Wort “wie” ver­mei­den, denn es führt in die Region des Erzäh­le­ri­schen und löst die dich­te­ri­sche oder lyri­sche Atmo­sphäre auf.

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Nicht erst den Begriff bil­den, der aus­ge­sagt wer­den soll und dann das Bild dazu suchen! Dies ist ein typi­scher Anfän­ger­feh­ler, den Sie sicher ver­mei­den. Theo­re­ti­sche Erkennt­nisse las­sen sich sel­ten in lyri­sche Bil­der fas­sen, wes­halb die meis­ten Umwelt­schutz- oder Anti­kriegs­ge­dichte nichts wer­den. In einem Gedicht lässt sich nur sel­ten das grosse Ganze zum Aus­druck brin­gen. Das Gedicht for­mu­liert das kleinste Ganze. Nur im Bild­haf­ten ent­steht das Dich­te­ri­sche. Abs­trakta kön­nen leicht und schnell ein gan­zes Gedicht zer­stö­ren. Aber Vor­sicht: Beim Bild­haf­ten darf auch nicht der Sinn für das Ange­mes­sene ver­lo­ren gehen!

Der Rhythmus von Vers-Struktur und Vers-Inhalt

Die häufigsten Versmasse in der deutschen Lyrik: Jambus, Trochäus, Daktylus, Anapäst, Amphibrachis - Literatur im GLAREAN MAGAZIN
Die häu­figs­ten Vers­masse in der deut­schen Lyrik: Jam­bus, Tro­chäus, Dak­tylus, Ana­päst, Amphibrachis

Kein Vers ohne Rhyth­mus! Der Rhyth­mus stellt zwi­schen Vers­struk­tur und Ver­s­in­halt eine Bezie­hung her. Wer­den bestimmte Vers­for­men wie Knit­tel­vers, Blank­vers, Alex­an­dri­ner (jam­bi­sche Verse), fal­lende Vier­tak­ter, fal­lende Fünf­tak­ter, fal­lende Sechstak­ter (tro­chäi­sche Verse) oder vier­tak­tige Rei­hen, Hexa­me­ter oder Pen­ta­me­ter (dak­ty­li­sche Verse) ver­wen­det, so soll­ten diese Vers­for­men auch durch­ge­hal­ten wer­den und nicht irgendwo auf der Stre­cke wie ein lah­men­des Pferd eingehen.
Den­ken wir an ein Gedicht, den­ken wir zuerst wohl an Reime. Wer­den Reime in einem Gedicht ver­wen­det, soll­ten unreine Reime ver­mie­den wer­den. Der Klang beim Vor­le­sen ent­schei­det dar­über, ob ein unrei­ner Reim noch ver­wen­det wer­den kann. Ver­wen­det wer­den dür­fen alle Reim­fol­gen wie Hau­fen­reim, Kreuz­reim, Paar­reim, Schweif­reim, umar­men­der Reim, ver­schränk­ter Reim und so wei­ter und so fort. Aller­dings soll­ten diese Reim­fol­gen sorg­fäl­tig ver­wen­det wer­den und nur dann gegen die Reim­re­geln ver­stos­sen, wenn das die Aus­sage des Gedich­tes unterstreicht.

Innere Konsequenz der Strophenformen

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Auch bei der Anwen­dung von Stro­phen­for­men sollte Sorg­falt herr­schen. Man­che Stro­phen­form passt bes­ser als eine andere zum Gedicht­in­halt. Klas­si­sche deut­sche Stro­phen­for­men sind z.B. die Nibe­lun­gen­stro­phe, die Hil­de­brand­stro­phe, die Chevy-Chase-Stro­phe, die Vagan­ten­stro­phe, die Schweif­reim­s­trophe, die Fünf­zei­ler­stro­phe, die Luther­stro­phe. Dazu kom­men noch roma­ni­sche Stro­phen­for­men wie das Sonett, der Sonett­kranz, die Stanze, die Ter­zine, das Trio­lett und Nach­bil­dun­gen anti­ker Stro­phen­for­men wie Disti­chon, erste asklepia­dei­sche und zweite asklepia­dei­sche Oden­stro­phe sowie alkäi­sche und sap­p­hi­sche Oden­stro­phe. Wurde eine Stro­phen­form aus­ge­wählt, wäre es schön, wenn sie auch durch­ge­hal­ten würde.

Regelfreies Dichten als Grenzgefahr zum Prosatext

Viele heu­tige Dich­ter ver­su­chen alle Regeln des Dich­tens dadurch zu umge­hen, dass sie frei dich­ten. Freies Dich­ten ist aber nicht so leicht, wie es scheint. Man muss auch beim freien Dich­ten sprach­lich äus­serst prä­zis sein. Dar­über hin­aus muss auch beim freien Dich­ten noch ein Rest an Vers­struk­tur erhal­ten blei­ben, damit ein Text nicht in Prosa übergeht.
Auch Son­der­for­men des Dich­tens wie Haiku, komi­sche Gedichte, Lime­ricks, Klapp­horn­verse, Gedicht­par­odien, Laut­ge­dichte oder visu­elle Gedichte haben ihre Schön­heit und sind aus­zeich­nungs­wür­dig. Aber auch hier gilt natür­lich: Gedichte sol­len ein­fach und genau sein und damit Auf­ge­bla­sen­heit, Ver­schwom­men­heit, Schwulst und Manie­riert­heit ausschliessen.

Der Weg zu einem guten Gedicht muss nicht, kann aber lang sein. Nie­mals sollte sich der Dich­ter ent­mu­ti­gen las­sen. Gedichte schrei­ben ist immer eine Annä­he­rung an das zu Beschrei­bende. Mal gelingt diese Annä­he­rung mehr, mal weni­ger. Wir sind nie am Ende, wenn es um gute Gedichte geht. ♦


Vera Simon - Autorin - Literatur - Lyrik - Versmasse - Gedicht-Rhythmen - Glarean MagazinVera Simon

Geb. 1973 in Grön­land, seit 1977 in der BRD, Ver­öf­fent­li­chung ver­schie­de­ner Lyrik- und Geschenk­buch-Best­sel­ler, Autorin von Lebens­hilfe-Büchern, lebt in Danmarkshavn/GL

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema “Schrei­ben” auch den Essay von Mario Andreotti: Ist Dich­ten lernbar?

… sowie über den Gedichte-Band von Jasha Gnirs: Dolor de Desiderio


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