Barbara Skarga: Nach der Befreiung (Aufzeichnungen)

Über den Wert des Individuums

von Jakob Krajewsky

Die pol­ni­sche Phi­lo­so­phin Bar­ba­ra Skar­ga ist im Wes­ten na­he­zu un­be­kannt. Als jun­ge Frau zeit­gleich mit der ‚Be­frei­ung‘ bzw. Be­set­zung Po­lens durch die Rote Ar­mee um 1944-45 äu­ßer­te sich Skar­ga kri­tisch über die so­wje­ti­sche Po­li­tik in Po­len. Das blieb nicht un­ge­hört. Sie wur­de be­reits 1944 ver­haf­tet und grau­sam be­straft mit Ge­fäng­nis und dem Auf­ent­halt zur ‘Bes­se­rung‘ in ver­schie­de­nen Gu­lags, u.a. Woi­wosch und Uch­ta im Nord­wes­ten Russ­lands so­wie in Bal­qasch in Kasachstan.

Zu­nächst wuchs Skar­ga un­be­fan­gen in War­schau auf und stu­dier­te Geis­tes­wis­sen­schaf­ten, Po­lo­nis­tik und Phi­lo­so­phie, mit gro­ßer Lie­be zur Kunst und zur Li­te­ra­tur. Das Recht selbst zu den­ken und zu ar­ti­ku­lie­ren wur­de ihr 12 Jah­re durch das har­te Re­gime der So­wjets ge­nom­men. Sie sah sich nach die­ser Er­fah­rung ei­nes kol­lek­ti­ven men­schen­ver­ach­ten­den Sys­tems als In­di­vi­dua­lis­tin, die den „Wert des In­di­vi­du­ums, die in­trin­si­sche Wür­de der mensch­li­chen Per­son“ als das höchs­te Gut be­griff (Sei­te 29), so führt Ali­ci­ja Ge­schin­ka die Auf­zeich­nun­gen der Skar­ga ein.

Überleben im Gulag

Barbara Skarga - Nach der Befreiung - Buch-Cover - Glarean MagazinSkar­gas Auf­zeich­nun­gen „Nach der Be­frei­ung“ le­sen sich tat­säch­lich ähn­lich wie Be­rich­te von Men­schen, die das KZ-Sys­tem deut­scher Prä­gung über­dau­ert ha­ben. Men­schen wer­den ge­bro­chen durch das La­ger­le­ben, die Ge­hirn­wä­sche, die un­se­li­gen Ab­hän­gig­kei­ten, Hun­ger, Grau­sam­kei­ten der Wäch­ter und schwe­re Krank­hei­ten. Selbst die Phe­nol­sprit­ze als To­des­sprit­ze kam in bei­den Ver­nich­tungs­sys­te­men – Gu­lag wie KZ – zum Ein­satz. Im Ka­pi­tel 3 ‘Die Ar­beit‘ zieht Skar­ga die­sen Ver­gleich der To­des­la­ger, ohne Re­la­ti­vie­run­gen vor­zu­neh­men. In bei­den La­ger­sys­te­men ist die ‘Ver­nich­tung durch Ar­beit‘ das er­klär­te Ziel der ‘Bes­se­rungs­an­stalt‘. Vie­le Men­schen woll­ten nach dem Krieg nicht glau­ben, dass es die­se La­ger wirk­lich gab – we­der im Os­ten noch im Westen…

Strategien des Durchhaltens

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Skar­ga über­lebt durch Zu­fäl­le, und weil sie Kran­ken­schwes­ter war, als Be­diens­te­te im Hos­pi­tal. Es ist ein täg­li­ches Va­ban­que-Spiel, die In­tri­gen, men­sch­un­wür­di­gen An­ord­nun­gen und Gän­ge­lun­gen durch Vor­ge­setz­te und La­ger­per­so­nal zu über­ste­hen. Ab und zu wird un­er­laubt ge­sof­fen, und es gibt ver­bo­te­ne Lieb­schaf­ten der we­ni­gen Frau­en im La­ger mit Be­schüt­zern, ‘Ehe­män­ner‘ ge­nannt, auch Ho­mo­se­xua­li­tät und Tran­sen gab es hier. Dazu be­fin­den sich ei­ni­ge De­nun­zi­an­tin­nen un­ter den De­lin­quen­ten. Manch­mal la­chen die Frau­en ein­fach auch und ver­su­chen sich, es schön zu ma­chen – eine Überlebensstrategie.

Europäerinnen unter Russen

Menschenvernichtung durch das russische Regime von Josef Stalin (Screenshot aus der ARTE-Dokumentation "Der Archipel Gulag")
Men­schen­ver­nich­tung durch das Re­gime des rus­si­schen Dik­ta­tors Jo­sef Sta­lin (Screen­shot aus der ARTE-Do­ku­men­ta­ti­on „Der Ar­chi­pel Gulag“)

Die pol­ni­schen Mit­ge­fan­ge­nen, meis­tens Frau­en, be­zeich­nen sich als Eu­ro­päe­rin­nen, im Ver­gleich zu den Rus­sen, die das La­ger­le­ben do­mi­nie­ren. Selbst die bäu­er­lich ge­präg­ten Po­lin­nen ge­ben sich ma­jes­tä­tisch über­heb­lich ge­gen­über dem rus­si­schen La­ger­per­so­nal. Sie be­ru­fen sich auf ihre groß­ar­ti­ge pol­ni­sche Kul­tur und ver­ach­ten die Be­drü­cker. „Wir fühl­ten uns im­mer noch als Eu­ro­päe­rin­nen, trotz der üb­li­chen Prak­ti­ken, die das Vor­stel­lungs­ver­mö­gen und die Wer­te, die man von Hau­se aus mit­be­kom­men hat­te, zu er­sti­cken drohten.“

Wider die Akzeptanz des Bösen

Barbara Skarga - Glarean Magazin
Bar­ba­ra Skar­ga (1919-2009)

Skar­ga re­sü­miert wei­ter: „Und so ver­lie­ren wir un­se­re See­le. Tag für Tag si­ckert mit dem Hun­ger, mit der Ar­beit, die un­se­re Kräf­te über­steigt und mit der Hoff­nungs­lo­sig­keit der Zeit et­was in uns ein, Trop­fen für Trop­fen, et­was, was beim Na­men ge­nannt wer­den muss. Was in uns ein­si­ckert, ist die Ak­zep­tanz des Bö­sen.“ […] „Es ist schwer hier, über­haupt je­man­dem zu ver­trau­en, Freun­de zu ge­win­nen, trag­fä­hi­ge, über­le­bens­wich­ti­ge Kon­tak­te zu machen.“

Nach der Be­frei­ung“ von Bar­ba­ra Skar­ga ist kei­ne Nacht­tisch-Lek­tü­re. Das geht uns alle an. Men­schen kön­nen Men­schen das Le­ben zur Höl­le machen.
Ir­gend­wann ent­rinnt Skar­ga die­ser Höl­le, muss noch ein Jahr in ei­ner Kol­cho­se die­nen, wird 1955 nach Po­len ent­las­sen und nimmt ihr Stu­di­um in War­schau wie­der auf. In­zwi­schen wur­de Skar­ga zur wohl be­deu­tends­ten Phi­lo­so­phin des 20. Jahrhunderts. ♦

Bar­ba­ra Skar­ga: Nach der Be­frei­ung – Auf­zeich­nun­gen aus dem Gu­lag 1944-1956, Hoff­mann und Cam­pe Ver­lag, 516 Sei­ten, ISBN 978-3-455-01726-7

Le­sen Sie im GLAREAN MAGAZIN auch zum The­ma pol­ni­sche Ver­nich­tungs­la­ger den Rei­se­be­richt von Pe­ter Biro: Ja­nu­ar­ta­ge in Krakau


 

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