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Neulich im Indischen Ozean
Peter Biro
Eine wichtige Frage treibt uns alle um: Darf man in den Ozean urinieren? Gleich vorneweg möchte ich diese Frage nicht nur bejahen, sondern sie sogar explizit befürworten. Dieses Bedürfnis, alles loszulassen, sobald man mindestens bis zum Bauchnabel im azurblauen Wasser eines der sieben Weltmeere steht, gehört zweifellos zu den stärksten Antrieben, die einen Menschen beim Baden befallen kann.
Der innere Drang, der Natur mit das Wertvollste zurückzugeben, was man von ihr geborgt hat, ist nicht nur eine stoffwechselbedingte Notwendigkeit, es ist auch zutiefst moralisch und human. Dafür nimmt der umweltbewusst agierende Mensch gewaltige Anstrengungen und Kosten in Kauf. Ich zum Beispiel flog dafür fast um die halbe Welt, aus Zentraleuropa über Pitipalki bis auf die Malediven, um mein kleines Scherflein zur Erhaltung einer ausgewogenen Wasserbilanz beizutragen. Meine Frau, eine diplomierte und staatlich zertifizierte Meeresbiologin mit Spezialzulassung für den Indischen Ozean, hat diese entlegenen Eilande eigens ausgesucht, um ihre überstrapazierte Blase nach den neuesten Erkenntnissen der Hydrologie zu entleeren. Und zur Sicherheit bzw. zur Deckung der anfallenden Reisekosten hat sie mich einfach mitgenommen.
Selbstverständlich benutze ich die Gelegenheit, auch meinen bescheidenen Beitrag zum Anreichern des Gewässers mit dem Wertvollsten, das ich habe, zu leisten. Ich lasse dies vor allem durch die Badehose hindurch geschehen, so wie es sich für einen dezent auftretenden Gentleman gehört, der mit beiden Beinen fest auf dem Meeresboden steht. Allerdings genügt es nicht, einfach drauf loszupinkeln und währenddessen bei den nächsten herumstehenden Badegästen nach Anerkennung Ausschau zu halten.
Zum vornehmen Erscheinungsbild eines umweltbewussten Zeitgenossen gehört auch, dass man dabei einen völlig unbeteiligten Gesichtsausdruck macht. Vielleicht so, als würde man den Horizont nach einer sich in den Wellen tummelnden Meerjungfrau absuchen. Oder irgendwelche Segeln der Hoffnung erspähen zu wollen, die einem die Befreiung von allen körperlichen Drangsalen künden. Der Gesichtsausdruck darf ein wenig an eine gespielte Neugier gemahnen, und vielleicht ganz am Schluss darf man die Mundwinkel ein wenig nach unten ziehen – ganz dezent und nur für einen Augenblick. Auf keinen Fall sollte man sich nach Abschluss des Vorgangs schütteln. Das ist auch nicht nötig, denn unter Wasser gibt es kein Nachtropfproblem.
Bernsteinfarbene subaquatische Erleichterung…
Das leicht bernsteinfarbene Resultat der subaquatischen Erleichterung verteilt sich in rauchähnlichen Wölkchen um einen herum und verblasst innerhalb weniger Minuten, so dass selbst aus der Möwenperspektive keine Spur vom abgesonderten Schwall mehr sichtbar ist. Das ist dem thermodynamischen Prinzip der unaufhaltsam voranschreitenden Entropie zu verdanken, die bestrebt ist, alle Unterschiede im Universum auszugleichen. Anders ausgedrückt: der Urin verteilt sich zunehmend gleichmäßig im Wasser des Ozeans und erreicht eine praktisch nicht mehr nachweisbare Konzentration – weder am Ort des Geschehens noch irgendwo sonst auf dem Erdenrund. Oder wie es unsere Weisen formulieren würden, „der Pipi ist dann überall und nirgends“.
Doch wer weiß? So manches in den Ozean abgegebene Harnstoff-Molekül könnte nach einer längeren Weile die Küsten Venedigs erreichen, in den Canale Grande eindringen und am pendelartigen Wellenspiel der Gondeln teilnehmen. Oder andere Auswüchse meiner Nierentätigkeit könnten an die atemberaubenden Gestaden der hawaiianischen Inseln gespült werden und – so stelle ich mir das lebhaft vor – dass sie dortselbst sachte die athletischen Oberschenkel von braungebrannten jungen Surferinnen umfließen, während diese sich ihrem spritzigen Vergnügen hingeben.
… und segensreiches altruistisches Wasserlassen…
Zugegebenermaßen könnten derartige Aktionen Anlass für Gewissensbisse sein, denn man hat damit nicht nur den drohenden Anstieg des Meeresspiegels befördert, sondern auch einen Beitrag zur Zunahme der Wassertemperatur geleistet. Dies könnte wiederum die Korallenbleiche befördern und damit zu erheblichen Beschaffungsproblemen für die Schmuckindustrie führen. Aber ich darf hier beruhigend feststellen, dass selbst erhebliches Wasserlassen nach ausgiebigen Trinkgelagen im Rahmen von großzügig bemessenen All-inclusive-Paketen nur einen verschwindend kleinen Beitrag zu diesen Phänomenen leistet. Der Beitrag des Einzelnen verblasst buchstäblich im Nu im Vergleich zur Einleitung von Industrieabwässern und der Ballastentsorgung aus dem Bauch mächtiger Containerschiffe. Von der Stoffwechselproduktion der marinen Lebewesen ganz zu schweigen. Was ist schon mein Deziliterchen gegenüber den Hektolitern eines Blauwals? Drum meine ich, dass die Vorteile des altruistischen Wasserlassens in die Weltmeere von Unsereinem überwiegen und diese segensreiche Tätigkeit zum festen Bestandteil der Strandferien erklärt werden sollte.
… in der Mitte des Stromes
Dieser Appell an alle Menschen, die einen sinnvollen Nutzen aus ihrer Erleichterung ziehen wollen, sollte kein Freibrief für ähnliche Aktivitäten in kleineren Gewässern wie Baggerseen, Entenweihern, Schwimmbädern und schon gar nicht in öffentlichen Jacuzzibecken darstellen. Diesen fehlt es an genügend großem Volumen, um die üblichen Portionen in einem akzeptablen Ausmaß zu verdünnen. Eine analoge Enthaltsamkeit empfiehlt sich vor allem auch für träge dahinfließende Gewässer, sofern man flussabwärts Badende sehen oder vermuten würde. Ansonsten darf man es ruhig fließen lassen, erst recht, wenn man es schafft, bis in die Mitte des Stromes zu waten und den eigenen Strahl mit dem von hinten anbrandenden Schwall zu vereinigen. Aber über alle Sonderformen der unauffälligen Gewässerbereicherung ist und bleibt das Urinieren in den Ozean die Königsdisziplin, die es sorgsam auszuüben und zu pflegen gilt. Ich empfehle, dieser Fertigkeit die ihr zustehenden akademischen Weihen zu verleihen und sie in den Kanon der feinen Künste aufzunehmen.
Hiermit, meine lieben Freunde der entfesselten körperlichen Vorgänge, schließe ich diesen dem Allgemeinwohl dienenden Exkurs mit dem Hinweis, dass ich mal dringend raus muss. Es ist gerade Ebbe und das heißt: Ziemlich weit hinauswaten. ♦
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