Inhaltsverzeichnis
- 1 Klänge-Körper-Zeichen-Räume
- 1.1 Raum-Partituren mit “Son-Icons”
- 1.2 Interdisziplinäre Kontexte
- 1.3 The Medium Is The Message
- 1.4 Achtstimmigkeit auf der Viola
- 1.5 Interaktion mit dem Musikinstrument
- 1.6 Erfahrungserweiterung durch Caoineadh-Gesang
- 1.7 Zwischen Kopfstimme und Falsett
- 1.8 Verführung in andere Welten
- 1.9 Das Schwinden des ewigen Eises hörbar gemacht
- 1.10 In den Phänomenen die Zeichen des Lebens
Klänge-Körper-Zeichen-Räume
Charlotte Hug befragt von Jakob Leiner
Die Composer-Performer, Improvisatorin, Zeichnerin, Medienkünstlerin und Teaching-Artist Charlotte Hug wurde 1965 in Zürich geboren. Die innovative Künstlerin mit ihren musikalisch-visuellen Performances an speziellen Orten und mit ihren Raum-Partituren hat mit sog. “Son-Icons” (Visueller Musik) ein neues Genre der transdisziplinären, räumlich-szenischen Musik und Kunst geschaffen. Hug erlangte Studienabschlüsse in Musik und Bildender Kunst und und wurde mehrfach ausgezeichnet. Nebst Ausstellungen in Galerien und Museen führt sie ihre rege Konzerttätigkeit als Improvisatorin, Solistin mit Stimme und Viola, Komponistin oder Dirigentin ihrer eigenen Werke an maßgebliche Festivals weltweit.
Glarean Magazin: Frau Hug, was sehen Sie aktuell von Ihrem Arbeitsplatz aus?

Charlotte Hug: Mein Studio in der Stadt Zürich, bestehend aus einem schallisolierten Musikraum und einem Atelierteil, befindet sich im Dachgeschoß des Hauses, wo wir auch wohnen.
Im Südwesten sehe ich über die Häuserdächer und Baumwipfel direkt auf den Grat des Uetlibergs. Ich liebe diesen Blick in die Weite bei jedem Wetter und in allen Stimmungen, speziell beim Improvisieren und Imaginieren.
Ansonsten bin ich im Atelier-Teil umgeben von der neusten Raum-Partitur mit “Son-Icons – Shapes of Time”, eine Komposition für ein Ensemble in Halifax/Kanada. Mitte März werden wir das Stück uraufführen. Wesentlich ist dabei, dass sich die MusikerInnen in der Raum-Partitur immer auch bewegen und so ganz verschiedene Perspektiven einnehmen. So suche auch ich in meinem Atelier immer nach neuen Perspektiven und Blickwinkeln in der Raum-Partitur.
Sie sind facettenreiche Komponistin, Performerin, Visual- und Teaching-Artist; Worin liegt der Reiz solcher Transdisziplinarität?
Meine Arbeit entsteht im weiten Spannungs- und Resonanzfeld von Körper, Klang, Zeichnung, “Son-Icons” (Visueller Klang – Klangzeichnungen), Innen- und Außenräumen, zwischen den Disziplinen, digitalen und analogen Medien, Orten, Kontinenten – zwischen Menschen. In den Zwischenräumen und Randzonen eröffnen sich neue Denk- und Schaffensräume – hier entsteht Erneuerungspotential. Musik und Kunst sind für mich immer auch Kommunikation.
Einerseits bedingt meine künstlerische Arbeit den transdisziplinären Arbeitsprozess zwischen den Medien. Die Musik wie die Bildende Kunst haben jedoch ihr Eigenleben und können autonom für sich stehen und sprechen.
Raum-Partituren mit “Son-Icons”
Meine Spezialität sind Raum-Partituren mit Son-Icons. Ich offeriere einen multidimensionalen Raum, in dem die MusikerInnen, PerformerInnen die Son-Icons als formgebendes Element, sinnlichen Magneten und als Inspiration interpretieren. Proben und Coaching, wie man diese Son-Icons mit den eigenen Ressourcen und in großer künstlerischer Präzision interpretieren kann, ist wichtig. Mit Präzision meine ich nicht die absolute Wiederholbarkeit als Ziel, sondern die ständige Entwicklung aller Beteiligten im Kontext – inklusive der Partitur.

Die Musik ist ständig in Bewegung. Szenisch-musikalische Konstellationen sind wichtiger Bestandteil und Parameter meiner kompositorischen Settings. Wege und Begegnungen der MusikerInnen werden choreographiert. So entsteht eine Klang-Inszenierung oder eine Choreophonie.
Klänge haben immer eine Verortung und eine Schallrichtung, sie sind in Bewegung und immer in Beziehung. Sie entstehen oft durch lebendige Körper, Personen, die präsent sind und als Teil der Musik wahrgenommen werden. Als Komponistin bin ich auch Regisseurin.
Interdisziplinäre Kontexte
Um die komplexen Abläufe und Interaktionen mit den Son-Icons, dem Raum und unter den MusikerInnen und KünstlerInnen aus verschiedenen Disziplinen zu koordinieren und inspirieren, habe ich die “InterAction Nation” IAN entwickelt. Diese Notation für interdisziplinäre Kontexte ist ein wichtiges Interface und gemeinsame Sprache für Kollaboration auf Augenhöhe über die Disziplinen hinweg.
Durch die transdisziplinären Bezüge bietet mein Werk verschiedene Eingänge für die Kreation wie die Rezeption an. Auch für das Publikum eröffnen sich verschiedenste Andockpunkte. Jemand findet durch die visuellen Partituren der Son-Icons den Eingang in die Musik, eine andere Person über die szenischen Elemente den Bezug zum Raum und zum räumlichen Hören etc. Mit Musik und Kunst möchte ich Resonanzräume eröffnen.
Ihre musikalische Arbeitsweise ist oft durch das Element der Improvisation gekennzeichnet, als bildende Künstlerin fertigen Sie zudem Klangzeichnungen an, eben die bereits erwähnten Son-Icons als Visuelle Musik. Fühlen, Sehen, Hören – in welcher Reihenfolge?
Die Improvisation ist ganz zentral in meiner künstlerischen Praxis, so etwas wie einen Elan vital, wie es der französische Philosoph Henri Bergson nennen würde – Improvisation als tägliche Praxis, große Inspiration und Lebensaufgabe. Auch konzertiere ich mit verschiedenen Improvisations-Ensembles weltweit, dies an innovativen Off-Spaces sowie an internationalen Festivals, u.a. mit dem Schweizer Duo Niggli-Hug, im britischen Trio mit der Ausnahmesängerin Maggie Nicols und der Saxophonistin Caroline Kraabel, dem Stellari String Quartett mit Phil Wachsmann, Marcio Mattos und John Edwards oder im Trio mit den beiden Schwedinnen Nina de Heney und Lisa Ullen.
The Medium Is The Message
Die Reihenfolge, ob die Son-Icons oder die Musik zuerst kommen, variiert stark. Der Medien-Wechsel geschieht oft auch in einem raschen Wechsel als transdisziplinärer Prozess. Der berühmte Satz: “The medium is the message” von Marshall McLuhan ist auch für meine Herangehensweise prägend. Musik und Klang offenbaren andere Inhalte als die Visualisierung durch Son-Icons. Die Zeichengeste, geführt durch das Medium des Körpers mit seiner musikalischen Erfahrung und Körperintelligenz, überrascht mich immer wieder neu durch ihre klaren, oft vielstimmigen Son-Icons-Strukturen von Anderswo. So nähere ich mich oft über Monate einem Thema an und erfahre durch diesen Medien-Wechsel immer neue Facetten und substantielle Vertiefung des Themas.

Die Son-Icons sind Kern und Herzstück meiner Kunst. Son-Icons sind Hybride: Mit Son-Icons habe ich einerseits eine Kompositionsmethode entwickelt, mit der ich für SolistInnen, Ensembles, Dance Companies, aber auch für Live-Elektronik, Chöre und Orchester komponiere. Son-Icons sind zudem eigenständige Kunstwerke, die ich in Galerien, Kunsträumen, in ortsspezifischen Settings oder Museen ausstelle.
Wie kann man sich diese hybride Existenz der Son-Icons konkret vorstellen?
Als Artiste Etoile am Lucerne Festival durfte ich in einem interdisziplinären Team eine Kollaboration mit zwei Kunst-Institutionen konzipieren. Im Kunstmuseum Luzern konnten Museums-BesucherInnen die audio-visuelle Installation Insomnia während drei Monaten tagsüber zu Museumszeiten besuchen. Am Abend wurde die Installation während des Lucerne Festivals zur Raum-Partitur verwandelt. Die Installation wurde mit über 20 Konzerten belebt und bespielt. Dies unter anderem mit dem Stellari String Quartett aus London oder mit meiner Solo-Performance Slipway to Galaxies. Jedes Mal wurde das Setting verändert, die Licht-Rhythmen anders gesetzt. Auch die Raum-Partitur war in einem ständigen Wandel und jede Vorstellung einzigartig.

Das Orchesterwerk Nachtplasmen für die Lucerne Festival Academy mit Son-Icons und einer interaktiven Video-Partitur bildete den dritten Fokus am Lucerne Festival. Oft kamen Interessierte mehrmals zu Veranstaltungen oder in die Ausstellung. Das Publikum beider Institutionen mischte sich. Solche Kollaborationen bieten durch die verbindende transdisziplinäre künstlerische Arbeit einen besonderen Reichtum von unterschiedlichen Bühnen, Denk- und Erkundungsräumen.

Ich bin dankbar, dass solche Kollaborationen mit verschiedenen Institutionen im In- und Ausland immer wieder zustande kamen, z.B. die Son-Icons-Installation im Multimedia Art Museum Moscow, die Raum-Partitur für das Moscow Contemporary Music Ensemble, die Installation im Haus der Berliner Festspiele oder die Solo-Performances am Festival März-Musik u.a.
Gerne ergänze ich diese unterschiedlichen Settings auch mit Artist Talks, Begegnungen und Gesprächsformen wie “meet the artist” oder moderierten Gesprächen mit KuratorInnen, VeranstalterInnen etc. Solche Kombinationen bieten dem Publikum verschiedenartige Erlebnisse und die Möglichkeit zum mehrmaligen Besuch und zur Vertiefung.
Achtstimmigkeit auf der Viola
Ihr Hauptinstrument ist die Viola, deren Klang- und Spielgrenzen sie permanent neu ausloten, z.B. auch mit der eigens entwickelten Weichbogentechnik, um bis zu achtstimmige Multiphonics zu erzeugen. Wie kamen Sie zu diesem Instrument?
Mit vier Jahren bekam ich bei meinem Großvater, der als Tonhallen-Musiker ein Leben lang in Zürich lebte und musizierte, Geigenunterricht. Zuhause spielte ich klassisch. Oft ging ich aber in das nahe Bachtobel, um hier zu improvisieren und meine eigene Musik zu machen.
Auch heute spiele ich oft an speziellen Orten. Ich liebe meine Viola von Thier aus dem Jahr 1763. Die Arbeit mit Live-Elektronik war und ist jedoch auch immer ein wichtiges Element und hat meine Klangfantasie stark geprägt und erweitert. Wenn ich im Rhônegletscher spiele oder mich auf dem Stapellauf bei Cobh vom Atlantik überfluten lasse, dann gibt es an solchen Orten keinen Strom. Trotzdem wollte ich meine Klangfantasien zum Klingen bringen und auch an diesen Orten vielstimmig spielen – das magische Wort war “acoustic electronics”.
Interaktion mit dem Musikinstrument
Die Idee des Weichbogens ist einfach. Die Haare des Bogens werden gelöst. Mit umgekehrtem Bogen und je nach Winkel und Haltung können die weichen Bogenhaare ein bis vier und vor- und hinter dem Steg sogar bis acht schwingende Saiten berühren und zum Klingen bringen. Den Weichbogen oder Soft-Bow habe ich optimiert, um rasch vom Standardbogen zum Weichbogen zu wechseln und umgekehrt. Den speziell dafür entwickelten Titan-Verschluss am Frosch des Weichbogens habe ich mit dem Industrie-Designer Thomas Steuri und dem Geigenbauer Peter Westermann gemeinsam entwickelt. Der Weichbogen ist kein Spezial-Effekt, sondern ich entwickelte eine vielschichtige Spieltechnik. Somit ist tatsächlich so etwas wie ein neues Instrument entstanden.
In diesem Sinne schrieb Raul d’Gama Rose 2019 im Magazin All About Jazz: “Her revolutionary playing celebrated in the unique ‘soft-bowing’ technique has turned the shrill glissandi of the viola into hues of deep, indulgent warmth. As her passion for the human interaction with her instrument developed, she began to meld her unique vocalistics into her artful reinvention of the viola and her music. Hug’s brave adventure in which Charlotte Hug reigns supreme. It is here that her world of music awakens the spirits dancing in the flesh.”
Als Vokalistin beherrschen Sie ein beeindruckendes Sound-Repertoire. Wo und wie haben Sie sich diesen “hybriden Sirenengesang”, wie ihn Barbara Eckle nannte, angeeignet?

Auch als Vokalistin komme ich vom klassischen Gesang. Dank zweier Artist Residencies von Pro Helvetia konnte ich mehrere Monate in Südafrika und China verbringen. Immer wieder kam ich mit traditionellen, spirituellen oder auch schamanischen Gesängen in Kontakt. 2017 traf ich in Hangzhou die Musikethnologin Adel Jing Wang. Mit ihr verbindet mich eine intensive Zusammenarbeit. Sie ermöglichte mir auch vertiefte Einblicke in den Schamanischen Gesang.
Nebst diversen Formen von Unter- und Obertönen war ein wesentliches Element des schamanischen Gesanges in China, beim Ausatmen wie auch beim Einatmen Klänge von sich zu geben. Das war eine enorme Inspiration für mich. Den Gedanken, durch Einsaugen der Luft Klänge zu erzeugen, habe ich intensiv verfolgt. Unzählige neue Klänge konnte ich entdecken und diese Technik für meine Klangvorstellungen entwickeln und verfeinern.
Erfahrungserweiterung durch Caoineadh-Gesang
Eine mehrjährige Forschungsarbeit begann jedoch bereits 2005 in Cobh/Irland. Ein ehemaliger Matrose erzählte mir von Anderwelten und dem keltischen Grabgesang, dem Keening oder auf Gälisch dem Caoineadh. Dieser Gesang begleitete einen Verstorbenen. Immer wieder sind auch die Stationen nach Anderwelten prägend. Keening oder Caoineadh auf Gälisch wird immer von Frauen praktiziert.
Wie man mir sagte, existiert der originale Gesang am Grab eines Verstorbenen nicht auf Tonträgern. Es ist ein zutiefst spiritueller Gesang. Die Befürchtung war groß, dass die Wirkkraft durch eine Aufnahme verändert oder verloren gehen könnte. Ich hatte jedoch die Chance, ein paar hochbetagte Menschen in Cork persönlich zu treffen und sie nach ihren Erinnerungen zu Caoineadh zu befragen. Sie erzählten mir von ihren Kindheitserinnerungen, und wie das damals geklungen hatte.
Keening ist ein reiches Feld. Nebst langsamen, stark repetitiven Gesängen gibt es verschiedene Keening-Techniken. Typisch sind rasche Zungenschläge oder fast Jodeleffekte zwischen den Stimmregistern. Die Beschreibung eines Oszillierens von hoher Kopfstimme und Falsettstimme hat mich fasziniert und elektrisiert.
Zwischen Kopfstimme und Falsett

Nach einem Jahr kehrte ich nach Coph zurück und gab Klangbeispiele zum Besten. Das Echo war jedoch, dass das, was ich hier singe, nicht Keening sei. So suchte und übte ich weiter. 2008 hatte ich im Sirius Arts Center eine Solo-Ausstellung mit Son-Icons und einer Performance.
Nach drei Jahren bekam ich den Ritterschlag von einer Besucherin. Sie meinte, was ich hier singe, sei tatsächlich wie Caoineadh. Es sei zwar ein “modernes” Keening, was ich da singe, meinte sie, aber mein Gesang erinnere sie jedoch stark an den letzten Übergang zu Anderwelten.
Diese schwebenden, hocherregten oszillierenden Glottis-Schläge zwischen Kopfstimme und Falsett haben eine Kraft, und sie lassen mich bis heute nicht mehr los. So entwickle ich diese Technik in meiner musikalischen Sprache und Ästhetik immer weiter. Spannend war auch, dass mein Caoineadh auf verschiedenen Kontinenten in ganz unterschiedlichen Kontexten berührte und auf großes Interesse gestoßen ist.
Zurück zum “Sirenengesang” von Barbara Eckle: Imaginierte Stimmen aller Art, nicht beschränkt auf die menschliche Stimme, prägen meine Klangfantasie und die Lust am Singen. Raul Dittmann formulierte es 2019 im Magazin Bad Alchemy folgendermaßen: “What a phenomenon, this slender artist and extreme musician with her wild mane of hair. Hug draws unbelievable sounds from the strings and produces even more unbelievable clicks in her throat. A shaman, a banshee, a Yma Sumac, surreal fauna, from the bird of paradise to the horse on the land, she transcends the sounds…”
Verführung in andere Welten
Es scheint, als besäße Ihre künstlerische Ausdrucksweise eine ausgeprägte supranaturalistische Ebene. Würden Sie dem zustimmen?
Musik verbindet Sichtbares und Unsichtbares und hat unbedingt die Kraft, sich jenseits von Natur anzusiedeln, uns in andere Welten zu verführen oder auch in ganz andere Umlaufbahnen zu katapultieren.
Wie stehen Sie als Klangfetischistin eigentlich zum ewigen Rauschen des interstellaren Nichts?
Die Astronomin Stella Koch Ocker meint: “Wir detektieren also das schwache, anhaltende Brummen von interstellarem Gas.” Nach Gaston Bachelar: “Ist in einem anwesenden Bild nicht auch ein abwesendes verborgen, bleibt kein Raum für Imagination.” Das Faszinosum in diesem interstellaren Nichts ist für mich klar die Imagination.
Seit 1998 “bespielen” Sie jährlich den verschwindenden Rhônegletscher mit Solo-Performances. Wie darf man sich die Textur des Eises synästhetisch vorstellen?

Die Arbeit im Gletscher ist ein multisensorielles Erlebnis. Das intensive Vitriol-Blau im Inneren des Gletschers ist betörend schön, die Klänge im Eis, die Tropfen und Spannungen, die Kälte, all dies prägt und verändert das Spiel. Mein Interesse und künstlerische Herangehensweise waren aber weit größer als eine mögliche Synästhesie.
Verschiedene Zeitdimensionen sind präsent: Von der Polyrhythmik der Tropfen im Moment, zu den Tagesrhythmen, sichtbar durch die Lichtverhältnisse und hörbar durch die Spannungen und dem daraus resultierenden Knacken im Eis, die besonders durch die Abkühlung während der Dämmerung hörbar wurden. Je nach Jahreszeit sind die Formen des Eises sehr unterschiedlich.
Das Schwinden des ewigen Eises hörbar gemacht
Über Jahre habe ich im Stollen des Rhônegletschers gespielt und gesungen. Jedes Jahr zog sich der Gletscher weiter zurück. Der Resonanzkörper veränderte sich, wurde dünnwandiger, durchläßiger und von Jahr zu Jahr massiv kürzer. Nebst der großen Liebe zum Gletscher und der großen Inspiration, die von ihm ausgeht, war mir zentrales Anliegen, durch meine Klänge das Schwinden und die Illusion des ewigen Eises sinnlich hörbar zu machen.

Bereits in frühen Arbeiten wie z.B. die Solo-CD “Mauerraum Wandraum” war dies Thema. “The act of disappearing” kehrte über die Jahre in verschiedenen Arbeiten wieder. In der aktuellen Solo-Performance The Vanishing Blue hat das Verschwinden eine dringliche szenisch-interdisziplinäre Form angenommen. Mit Live-Painting male ich Formen des Eises mit Wasser auf einen großformatigen Untergrund. Dann interpretiere ich diese Gletscher Son-Icons und singe ein Keening für den Gletscher. Am Ende der Perfomance herrscht Stille. Die gemalten Gletscherformen sind verdunstet und verschwunden.
Bei der Uraufführung 2020 an der Staatsoper Stuttgart fand anschließend eine Paneldiskussion mit der Dramaturgin Barbara Eckle, dem Glaziologen Leo Sold und mir statt. Solche Cross-Science-Veranstaltungen im Zusammenhang mit klimatischen Veränderungen und den schwindenden Gletschern werden mir immer wichtiger.
Für das noch junge Jahr 2023: Was sind Ihre kommenden Projekte?
Für 2023 sind verschiedene Projekte geplant. Im Sommer werde ich meine vierte Solo CD aufnehmen. Die Vorbereitungen begleiten mich schon seit langem. Dieses Jahr ist es nun soweit.
Dieser Tage arbeite ich intensiv an der Raum-Partitur von “Shapes Of Time” für ein Ensemble in Halifax in Canada.
Aktuell mischen wir die neue CD-Aufnahme des Trios mit Maggie Nicols und Caroline Kraabel.
Dank der über 20-jährigen Erfahrung im London Improvisers Orchestra werde ich einerseits mit dem von Magda Mayas und mir gegründeten Lucerne Improvisers Orchestra arbeiten sowie im Sommer ein neues Stück für das Steyran Improvisers Orchestra konzipieren, dirigieren und in Graz aufführen.

Im November spielen wir im TriOcular mit François Houle und Lori Freedman die Fortsetzung des Projekts Ocular Scores – Live Structures der Komponistin Linda Bouchard. Diese visuelle, digitale Partitur verändert sich ständig, je nachdem wie sie interpretiert wird. Mit diesem Projekt Ocular-Scores – Live Structures gehen wir im November auf eine USA West-Coast Tour. Der Film zu diesem Projekt wird am 17. Februar herauskommen. Mit Linda Bouchard verbindet mich seit Jahren die grosse Passion und ein reger Austausch über visuelle Partituren, die sich ständig weiterentwickeln.
Als Dozentin mit breiter Unterrichtserfahrung, z.B. an der Luzerner Musikhochschule oder der Zürcher Hochschule der Künste, suchen Sie den Kontakt zu kommenden Generationen von Künstlerinnen und Künstlern. Was beschäftigt die Studierenden?
An der Musikhochschule in Luzern bin ich im grundständigen Studium tätig, dies unter anderem im Master Musik & Art Performance, Musik & Bewegung sowie im Minor Improvisation. An der ZHdK der Zürcher Hochschule der Künste sind alle Disziplinen unter einem Dach vereint. Hier bin ich vor allem in der musikalisch-transdisziplinären Kreation aktiv.
Omnipräsent sind bei den Studierenden im grundständigen Studium die aktuell vieldiskutierten Themen des Klimas, Nachhaltigkeit, Identität, Gender, Wokeness etc. An der ZHdK initiierte und leite ich den internationalen einjährigen CAS-Weiterbildungs-Studiengang “Creation & Scenario in Music”. Auch biete ich den Baustein “Focusing on Creation” mit individuellen Mentoraten an. Die Themen und Interessen in der Weiterbildung sind hier enorm breit gefächert.
In den Phänomenen die Zeichen des Lebens
Wo ich jedoch alle Studierenden abholen möchte, ist: Dig Deep – suche deine ureigenen brennenden Themen, fokussiere darauf mit dem weiten Geist der Kunst. Wie gelingen künstlerische Übersetzungen in Klänge, transdisziplinäre Inszenierungen, an welchen Orten finden diese statt – in realen, virtuellen oder hybriden Orten? Wie erreiche ich die Menschen mit meiner Passion, allenfalls auch meiner politischen Message – dies jedoch, ohne die Kunst zu instrumentalisieren?
Du kennst dein Publikum nicht -biete ein lebendiges multidimensionales Bezugssystem deiner Kunst an. Lade das Publikum ein, und im besten Fall geht beim Publikum der Prozess rhizomatisch immer weiter. Oder wie es Foucault formuliert: “Nous devrions chercher des signes de vie dans les phénomènes.”
Welche Katalysatoren für Kreativität können Sie weiterempfehlen?
Dort, wo die Seh- und Hörneigungen andere Resultate und Fragen aufwerfen, heiße jegliche mediale Inkongruenzen willkommen, dort wird der Medienwechsel zum Ideenkatalysator und die Zwischenräume zu Innovationsfeldern.
Beginne jetzt – dig deep. recherchiere, übe, öffne, fokussiere, skizziere, tanze, improvisiere, behaupte, verwerfe – komme wieder darauf zurück, bleibe dran, wechsle die Perspektiven, drehe dein Hirn um und kreiere weiter. Kunst führt mitten ins Denken und wieder hinaus.
Frau Hug, wie klingt eigentlich die Musik der Zukunft?
Die Welt ist groß, und wie Musiken in Zukunft klingen werden, ist zum Glück ein Mysterium. In der Improvisation ist der Moment zwischen dem Erklingenden und dem Imaginären für mich am lebendigsten erlebbar – und es geht immer weiter.
“Yesterday is history, tomorrow is a mystery,
today is a gift, that is why it is called the present.” ♦
Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Komposition auch das Interview mit Katharina Nohl: “Die Musik wird wieder harmonischer werden”
… sowie zum Thema Zeitgenössische Musik das “Musik-Zitat der Woche” von Ursula Petrik
Danke für diesen interessanten Beitrag über eine der innovativsten Musikerinnen der Schweiz! Frau Hug hörte ich schon zweimal öffentlich, ihre bildnerischen Werke kenne ich weniger. Sehr gelungen auch die geschickten Fragestellungen von Herrn Leiner, der damit die Künstlerin aus der Reserve lockte 🙂 Schöner Beitrag, auch im Sinne des femininen Kunstschaffens in der Schweiz. Merci!