Interview mit der Komponistin Charlotte Hug

Klänge-Körper-Zeichen-Räume

Charlotte Hug befragt von Jakob Leiner

Die Com­po­ser-Per­for­mer, Impro­vi­sa­to­rin, Zeich­ne­rin, Medi­en­künst­le­rin und Tea­ching-Artist Char­lotte Hug wurde 1965 in Zürich gebo­ren. Die inno­va­tive Künst­le­rin mit ihren musi­ka­lisch-visu­el­len Per­for­man­ces an spe­zi­el­len Orten und mit ihren Raum-Par­ti­tu­ren hat mit sog. “Son-Icons” (Visu­el­ler Musik) ein neues Genre der trans­dis­zi­pli­nä­ren, räum­lich-sze­ni­schen Musik und Kunst geschaf­fen. Hug erlangte Studienabschlüsse in Musik und Bil­den­der Kunst und und wurde mehr­fach aus­ge­zeich­net. Nebst Aus­stel­lun­gen in Gale­rien und Museen führt sie ihre rege Konzerttätigkeit als Impro­vi­sa­to­rin, Solis­tin mit Stimme und Viola, Kom­po­nis­tin oder Diri­gen­tin ihrer eige­nen Werke an maß­geb­li­che Fes­ti­vals weltweit.

Glarean Maga­zin: Frau Hug, was sehen Sie aktu­ell von Ihrem Arbeits­platz aus?

Charlotte Hug - Gesang und Viola - Interview GLAREAN MAGAZIN - Februar 2023 - Foto Kai Bienert
“Musik in Zwi­schen­räu­men und Rand­zo­nen”: Char­lotte Hug  (© Kai Bienert)

Char­lotte Hug: Mein Stu­dio in der Stadt Zürich, bestehend aus einem schall­iso­lier­ten Musik­raum und einem Ate­lier­teil, befin­det sich im Dach­ge­schoß des Hau­ses, wo wir auch wohnen.
Im Süd­wes­ten sehe ich über die Häu­ser­dä­cher und Baum­wip­fel direkt auf den Grat des Uet­li­bergs. Ich liebe die­sen Blick in die Weite bei jedem Wet­ter und in allen Stim­mun­gen, spe­zi­ell beim Impro­vi­sie­ren und Imaginieren.
Ansons­ten bin ich im Ate­lier-Teil umge­ben von der neus­ten Raum-Par­ti­tur mit “Son-Icons – Shapes of Time”, eine Kom­po­si­tion für ein Ensem­ble in Halifax/Kanada. Mitte März wer­den wir das Stück urauf­füh­ren. Wesent­lich ist dabei, dass sich die Musi­ke­rIn­nen in der Raum-Par­ti­tur immer auch bewe­gen und so ganz ver­schie­dene Per­spek­ti­ven ein­neh­men. So suche auch ich in mei­nem Ate­lier immer nach neuen Per­spek­ti­ven und Blick­win­keln in der Raum-Partitur.

Sie sind facet­ten­rei­che Kom­po­nis­tin, Per­for­me­rin, Visual- und Tea­ching-Artist; Worin liegt der Reiz sol­cher Transdisziplinarität?

Meine Arbeit ent­steht im wei­ten Span­nungs- und Reso­nanz­feld von Kör­per, Klang, Zeich­nung, “Son-Icons” (Visu­el­ler Klang – Klang­zeich­nun­gen), Innen- und Außen­räu­men, zwi­schen den Dis­zi­pli­nen, digi­ta­len und ana­lo­gen Medien, Orten, Kon­ti­nen­ten – zwi­schen Men­schen. In den Zwi­schen­räu­men und Rand­zo­nen eröff­nen sich neue Denk- und Schaf­fens­räume – hier ent­steht Erneue­rungs­po­ten­tial. Musik und Kunst sind für mich immer auch Kommunikation.
Einer­seits bedingt meine künst­le­ri­sche Arbeit den trans­dis­zi­pli­nä­ren Arbeits­pro­zess zwi­schen den Medien. Die Musik wie die Bil­dende Kunst haben jedoch ihr Eigen­le­ben und kön­nen auto­nom für sich ste­hen und sprechen.

Raum-Partituren mit “Son-Icons”

Meine Spe­zia­li­tät sind Raum-Par­ti­tu­ren mit Son-Icons. Ich offe­riere einen mul­ti­di­men­sio­na­len Raum, in dem die Musi­ke­rIn­nen, Per­for­me­rIn­nen die Son-Icons als form­ge­ben­des Ele­ment, sinn­li­chen Magne­ten und als Inspi­ra­tion inter­pre­tie­ren. Pro­ben und Coa­ching, wie man diese Son-Icons mit den eige­nen Res­sour­cen und in gro­ßer künst­le­ri­scher Prä­zi­sion inter­pre­tie­ren kann, ist wich­tig. Mit Prä­zi­sion meine ich nicht die abso­lute Wie­der­hol­bar­keit als Ziel, son­dern die stän­dige Ent­wick­lung aller Betei­lig­ten im Kon­text – inklu­sive der Partitur.

Charlotte Hug - Son-Icons als Kompositions- und Kreativitätsmethode - Interview GLAREAN MAGAZIN - Februar 2023
“Zen­tra­ler Bestand­teil des kom­po­si­to­ri­schen Set­tings”: Son-Icons mit zwölf­tö­ni­ger Rei­hung als “Kom­po­si­ti­ons- & Krea­ti­vi­täts­me­thode” von Char­lotte Hug

Die Musik ist stän­dig in Bewe­gung. Sze­nisch-musi­ka­li­sche Kon­stel­la­tio­nen sind wich­ti­ger Bestand­teil und Para­me­ter mei­ner kom­po­si­to­ri­schen Set­tings. Wege und Begeg­nun­gen der Musi­ke­rIn­nen wer­den cho­reo­gra­phiert. So ent­steht eine Klang-Insze­nie­rung oder eine Choreophonie.
Klänge haben immer eine Ver­or­tung und eine Schall­rich­tung, sie sind in Bewe­gung und immer in Bezie­hung. Sie ent­ste­hen oft durch leben­dige Kör­per, Per­so­nen, die prä­sent sind und als Teil der Musik wahr­ge­nom­men wer­den. Als Kom­po­nis­tin bin ich auch Regisseurin.

Interdisziplinäre Kontexte

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Um die kom­ple­xen Abläufe und Inter­ak­tio­nen mit den Son-Icons, dem Raum und unter den Musi­ke­rIn­nen und Künst­le­rIn­nen aus ver­schie­de­nen Dis­zi­pli­nen zu koor­di­nie­ren und inspi­rie­ren, habe ich die “Inter­Ac­tion Nation” IAN ent­wi­ckelt. Diese Nota­tion für inter­dis­zi­pli­näre Kon­texte ist ein wich­ti­ges Inter­face und gemein­same Spra­che für Kol­la­bo­ra­tion auf Augen­höhe über die Dis­zi­pli­nen hinweg.

Durch die trans­dis­zi­pli­nä­ren Bezüge bie­tet mein Werk ver­schie­dene Ein­gänge für die Krea­tion wie die Rezep­tion an. Auch für das Publi­kum eröff­nen sich ver­schie­denste Andock­punkte. Jemand fin­det durch die visu­el­len Par­ti­tu­ren der Son-Icons den Ein­gang in die Musik, eine andere Per­son über die sze­ni­schen Ele­mente den Bezug zum Raum und zum räum­li­chen Hören etc. Mit Musik und Kunst möchte ich Reso­nanz­räume eröffnen.

Ihre musi­ka­li­sche Arbeits­weise ist oft durch das Ele­ment der Impro­vi­sa­tion gekenn­zeich­net, als bil­dende Künst­le­rin fer­ti­gen Sie zudem Klang­zeich­nun­gen an, eben die bereits erwähn­ten Son-Icons als Visu­elle Musik. Füh­len, Sehen, Hören – in wel­cher Reihenfolge?

Die Impro­vi­sa­tion ist ganz zen­tral in mei­ner künst­le­ri­schen Pra­xis, so etwas wie einen Elan vital, wie es der fran­zö­si­sche Phi­lo­soph Henri Berg­son nen­nen würde – Impro­vi­sa­tion als täg­li­che Pra­xis, große Inspi­ra­tion und Lebens­auf­gabe. Auch kon­zer­tiere ich mit ver­schie­de­nen Impro­vi­sa­ti­ons-Ensem­bles welt­weit, dies an inno­va­ti­ven Off-Spaces sowie an inter­na­tio­na­len Fes­ti­vals, u.a. mit dem Schwei­zer Duo Niggli-Hug, im bri­ti­schen Trio mit der Aus­nah­me­sän­ge­rin Mag­gie Nicols und der Saxo­pho­nis­tin Caro­line Kraa­bel, dem Stel­lari String Quar­tett mit Phil Wachs­mann, Mar­cio Mat­tos und John Edwards oder im Trio mit den bei­den Schwe­din­nen Nina de Heney und Lisa Ullen.

The Medium Is The Message

Die Rei­hen­folge, ob die Son-Icons oder die Musik zuerst kom­men, vari­iert stark. Der Medien-Wech­sel geschieht oft auch in einem raschen Wech­sel als trans­dis­zi­pli­nä­rer Pro­zess. Der berühmte Satz: “The medium is the mes­sage” von Mar­shall McLuhan ist auch für meine Her­an­ge­hens­weise prä­gend. Musik und Klang offen­ba­ren andere Inhalte als die Visua­li­sie­rung durch Son-Icons. Die Zei­chen­geste, geführt durch das Medium des Kör­pers mit sei­ner musi­ka­li­schen Erfah­rung und Kör­per­in­tel­li­genz, über­rascht mich immer wie­der neu durch ihre kla­ren, oft viel­stim­mi­gen Son-Icons-Struk­tu­ren von Anderswo. So nähere ich mich oft über Monate einem Thema an und erfahre durch die­sen Medien-Wech­sel immer neue Facet­ten und sub­stan­ti­elle Ver­tie­fung des Themas.

Charlotte Hug - Musikalische Raum-Installationen Insomnia - Interview GLAREAN MAGAZIN - Februar 2023
“Medien-Wech­sel als trans­dis­zi­pli­nä­rer Pro­zess”: Die Raum-Instal­la­tion Insom­nia im Kunst­mu­seum Luzern von Char­lotte Hug (© Ste­fano Schröter)

Die Son-Icons sind Kern und Herz­stück mei­ner Kunst. Son-Icons sind Hybride: Mit Son-Icons habe ich einer­seits eine Kom­po­si­ti­ons­me­thode ent­wi­ckelt, mit der ich für Solis­tIn­nen, Ensem­bles, Dance Com­pa­nies, aber auch für Live-Elek­tro­nik, Chöre und Orches­ter kom­po­niere. Son-Icons sind zudem eigen­stän­dige Kunst­werke, die ich in Gale­rien, Kunst­räu­men, in orts­spe­zi­fi­schen Set­tings oder Museen ausstelle.

Wie kann man sich diese hybride Exis­tenz der Son-Icons kon­kret vorstellen?

Als Artiste Etoile am Lucerne Fes­ti­val durfte ich in einem inter­dis­zi­pli­nä­ren Team eine Kol­la­bo­ra­tion mit zwei Kunst-Insti­tu­tio­nen kon­zi­pie­ren. Im Kunst­mu­seum Luzern konn­ten Muse­ums-Besu­che­rIn­nen die audio-visu­elle Instal­la­tion Insom­nia wäh­rend drei Mona­ten tags­über zu Muse­ums­zei­ten besu­chen. Am Abend wurde die Instal­la­tion wäh­rend des Lucerne Fes­ti­vals zur Raum-Par­ti­tur ver­wan­delt. Die Instal­la­tion wurde mit über 20 Kon­zer­ten belebt und bespielt. Dies unter ande­rem mit dem Stel­lari String Quar­tett aus Lon­don oder mit mei­ner Solo-Per­for­mance Slip­way to Gala­xies. Jedes Mal wurde das Set­ting ver­än­dert, die Licht-Rhyth­men anders gesetzt. Auch die Raum-Par­ti­tur war in einem stän­di­gen Wan­del und jede Vor­stel­lung einzigartig.

Charlotte Hug - Dirigentin der Lucerne Festival 2011 - Interview GLAREAN MAGAZIN - Februar 2023 - Foto Franca Pedrazzetti
“Reich­tum unter­schied­li­cher Büh­nen, Denk- und Erkun­dungs­räu­men”: Char­lotte Hug diri­giert ihr Auf­trags­werk “Nacht­plas­men” für die Lucerne Fes­ti­val Aca­demy 2011 (© Franca Pedrazzetti)

Das Orches­ter­werk Nacht­plas­men für die Lucerne Fes­ti­val Aca­demy mit Son-Icons und einer inter­ak­ti­ven Video-Par­ti­tur bil­dete den drit­ten Fokus am Lucerne Fes­ti­val. Oft kamen Inter­es­sierte mehr­mals zu Ver­an­stal­tun­gen oder in die Aus­stel­lung. Das Publi­kum bei­der Insti­tu­tio­nen mischte sich. Sol­che Kol­la­bo­ra­tio­nen bie­ten durch die ver­bin­dende trans­dis­zi­pli­näre künst­le­ri­sche Arbeit einen beson­de­ren Reich­tum von unter­schied­li­chen Büh­nen, Denk- und Erkundungsräumen.

Charlotte Hug - Installation im Multimedia Art Museum Moscow - Interview GLAREAN MAGAZIN - Februar 2023
Son-Icons-Instal­la­tion im Mos­kauer Mul­ti­me­dia Art Museum (© Iakov Khalip)

Ich bin dank­bar, dass sol­che Kol­la­bo­ra­tio­nen mit ver­schie­de­nen Insti­tu­tio­nen im In- und Aus­land immer wie­der zustande kamen, z.B. die Son-Icons-Instal­la­tion im Mul­ti­me­dia Art Museum Moscow, die Raum-Par­ti­tur für das Moscow Con­tem­po­rary Music Ensem­ble, die Instal­la­tion im Haus der Ber­li­ner Fest­spiele oder die Solo-Per­for­man­ces am Fes­ti­val März-Musik u.a.
Gerne ergänze ich diese unter­schied­li­chen Set­tings auch mit Artist Talks, Begeg­nun­gen und Gesprächs­for­men wie “meet the artist” oder mode­rier­ten Gesprä­chen mit Kura­to­rIn­nen, Ver­an­stal­te­rIn­nen etc. Sol­che Kom­bi­na­tio­nen bie­ten dem Publi­kum ver­schie­den­ar­tige Erleb­nisse und die Mög­lich­keit zum mehr­ma­li­gen Besuch und zur Vertiefung.

Achtstimmigkeit auf der Viola

Ihr Haupt­in­stru­ment ist die Viola, deren Klang- und Spiel­gren­zen sie per­ma­nent neu aus­lo­ten, z.B. auch mit der eigens ent­wi­ckel­ten Weich­bo­gen­tech­nik, um bis zu acht­stim­mige Mul­ti­pho­nics zu erzeu­gen. Wie kamen Sie zu die­sem Instrument?

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Mit vier Jah­ren bekam ich bei mei­nem Groß­va­ter, der als Ton­hal­len-Musi­ker ein Leben lang in Zürich lebte und musi­zierte, Gei­gen­un­ter­richt. Zuhause spielte ich klas­sisch. Oft ging ich aber in das nahe Bach­to­bel, um hier zu impro­vi­sie­ren und meine eigene Musik zu machen.
Auch heute spiele ich oft an spe­zi­el­len Orten. Ich liebe meine Viola von Thier aus dem Jahr 1763. Die Arbeit mit Live-Elek­tro­nik war und ist jedoch auch immer ein wich­ti­ges Ele­ment und hat meine Klang­fan­ta­sie stark geprägt und erwei­tert. Wenn ich im Rhô­ne­glet­scher spiele oder mich auf dem Sta­pel­lauf bei Cobh vom Atlan­tik über­flu­ten lasse, dann gibt es an sol­chen Orten kei­nen Strom. Trotz­dem wollte ich meine Klang­fan­ta­sien zum Klin­gen brin­gen und auch an die­sen Orten viel­stim­mig spie­len – das magi­sche Wort war “acou­stic electronics”.

Interaktion mit dem Musikinstrument

Die Idee des Weich­bo­gens ist ein­fach. Die Haare des Bogens wer­den gelöst. Mit umge­kehr­tem Bogen und je nach Win­kel und Hal­tung kön­nen die wei­chen Bogen­haare ein bis vier und vor- und hin­ter dem Steg sogar bis acht schwin­gende Sai­ten berüh­ren und zum Klin­gen brin­gen. Den Weich­bo­gen oder Soft-Bow habe ich opti­miert, um rasch vom Stan­dard­bo­gen zum Weich­bo­gen zu wech­seln und umge­kehrt. Den spe­zi­ell dafür ent­wi­ckel­ten Titan-Ver­schluss am Frosch des Weich­bo­gens habe ich mit dem Indus­trie-Desi­gner Tho­mas Steuri und dem Gei­gen­bauer Peter Wes­ter­mann gemein­sam ent­wi­ckelt. Der Weich­bo­gen ist kein Spe­zial-Effekt, son­dern ich ent­wi­ckelte eine viel­schich­tige Spiel­tech­nik. Somit ist tat­säch­lich so etwas wie ein neues Instru­ment entstanden.

In die­sem Sinne schrieb Raul d’Gama Rose 2019 im Maga­zin All About Jazz: “Her revo­lu­tio­nary play­ing cele­bra­ted in the uni­que ‘soft-bowing’ tech­ni­que has tur­ned the shrill glis­sandi of the viola into hues of deep, indul­gent warmth. As her pas­sion for the human inter­ac­tion with her instru­ment deve­lo­ped, she began to meld her uni­que voca­li­stics into her artful reinven­tion of the viola and her music. Hug’s brave adven­ture in which Char­lotte Hug reigns supreme. It is here that her world of music awa­kens the spi­rits dancing in the flesh.”

Als Voka­lis­tin beherr­schen Sie ein beein­dru­cken­des Sound-Reper­toire. Wo und wie haben Sie sich die­sen “hybri­den Sire­nen­ge­sang”, wie ihn Bar­bara Eckle nannte, angeeignet?

Charlotte Hug - Schamanische Musikinstrumente - Interview GLAREAN MAGAZIN - Februar 2023
“Klänge beim Ein- wie beim Aus­at­men”: Scha­ma­ni­sche Musikinstrumente

Auch als Voka­lis­tin komme ich vom klas­si­schen Gesang. Dank zweier Artist Resi­den­cies von Pro Hel­ve­tia konnte ich meh­rere Monate in Süd­afrika und China ver­brin­gen. Immer wie­der kam ich mit tra­di­tio­nel­len, spi­ri­tu­el­len oder auch scha­ma­ni­schen Gesän­gen in Kon­takt. 2017 traf ich in Hang­zhou die Musik­eth­no­lo­gin Adel Jing Wang. Mit ihr ver­bin­det mich eine inten­sive Zusam­men­ar­beit. Sie ermög­lichte mir auch ver­tiefte Ein­bli­cke in den Scha­ma­ni­schen Gesang.
Nebst diver­sen For­men von Unter- und Ober­tö­nen war ein wesent­li­ches Ele­ment des scha­ma­ni­schen Gesan­ges in China, beim Aus­at­men wie auch beim Ein­at­men Klänge von sich zu geben. Das war eine enorme Inspi­ra­tion für mich. Den Gedan­ken, durch Ein­sau­gen der Luft Klänge zu erzeu­gen, habe ich inten­siv ver­folgt. Unzäh­lige neue Klänge konnte ich ent­de­cken und diese Tech­nik für meine Klang­vor­stel­lun­gen ent­wi­ckeln und verfeinern.

Erfahrungserweiterung durch Caoineadh-Gesang

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Eine mehr­jäh­rige For­schungs­ar­beit begann jedoch bereits 2005 in Cobh/Irland. Ein ehe­ma­li­ger Matrose erzählte mir von Ander­wel­ten und dem kel­ti­schen Grab­ge­sang, dem Kee­ning oder auf Gälisch dem Cao­i­neadh. Die­ser Gesang beglei­tete einen Ver­stor­be­nen. Immer wie­der sind auch die Sta­tio­nen nach Ander­wel­ten prä­gend. Kee­ning oder Cao­i­neadh auf Gälisch wird immer von Frauen praktiziert.
Wie man mir sagte, exis­tiert der ori­gi­nale Gesang am Grab eines Ver­stor­be­nen nicht auf Ton­trä­gern. Es ist ein zutiefst spi­ri­tu­el­ler Gesang. Die Befürch­tung war groß, dass die Wirk­kraft durch eine Auf­nahme ver­än­dert oder ver­lo­ren gehen könnte. Ich hatte jedoch die Chance, ein paar hoch­be­tagte Men­schen in Cork per­sön­lich zu tref­fen und sie nach ihren Erin­ne­run­gen zu Cao­i­neadh zu befra­gen. Sie erzähl­ten mir von ihren Kind­heits­er­in­ne­run­gen, und wie das damals geklun­gen hatte.
Kee­ning ist ein rei­ches Feld. Nebst lang­sa­men, stark repe­ti­ti­ven Gesän­gen gibt es ver­schie­dene Kee­ning-Tech­ni­ken. Typisch sind rasche Zun­gen­schläge oder fast Jodel­ef­fekte zwi­schen den Stimm­re­gis­tern. Die Beschrei­bung eines Oszil­lie­rens von hoher Kopf­stimme und Fal­sett­stimme hat mich fas­zi­niert und elektrisiert.

Zwischen Kopfstimme und Falsett

Schamanen-Sängerin - UUTAi Olena - Glarean Magazin
Zwi­schen Kopf­stimme und Fal­sett: Die Scha­ma­nen-Sän­ge­rin Olena UUTAi

Nach einem Jahr kehrte ich nach Coph zurück und gab Klang­bei­spiele zum Bes­ten. Das Echo war jedoch, dass das, was ich hier singe, nicht Kee­ning sei. So suchte und übte ich wei­ter. 2008 hatte ich im Sirius Arts Cen­ter eine Solo-Aus­stel­lung mit Son-Icons und einer Performance.
Nach drei Jah­ren bekam ich den Rit­ter­schlag von einer Besu­che­rin. Sie meinte, was ich hier singe, sei tat­säch­lich wie Cao­i­neadh. Es sei zwar ein “moder­nes” Kee­ning, was ich da singe, meinte sie, aber mein Gesang erin­nere sie jedoch stark an den letz­ten Über­gang zu Anderwelten.
Diese schwe­ben­den, hoch­er­reg­ten oszil­lie­ren­den Glot­tis-Schläge zwi­schen Kopf­stimme und Fal­sett haben eine Kraft, und sie las­sen mich bis heute nicht mehr los. So ent­wickle ich diese Tech­nik in mei­ner musi­ka­li­schen Spra­che und Ästhe­tik immer wei­ter. Span­nend war auch, dass mein Cao­i­neadh auf ver­schie­de­nen Kon­ti­nen­ten in ganz unter­schied­li­chen Kon­tex­ten berührte und auf gro­ßes Inter­esse gesto­ßen ist.

Zurück zum “Sire­nen­ge­sang” von Bar­bara Eckle: Ima­gi­nierte Stim­men aller Art, nicht beschränkt auf die mensch­li­che Stimme, prä­gen meine Klang­fan­ta­sie und die Lust am Sin­gen. Raul Ditt­mann for­mu­lierte es 2019 im Maga­zin Bad Alchemy fol­gen­der­ma­ßen: “What a phe­no­me­non, this slen­der artist and extreme musi­cian with her wild mane of hair. Hug draws unbe­lie­va­ble sounds from the strings and pro­du­ces even more unbe­lie­va­ble clicks in her throat. A shaman, a bans­hee, a Yma Sumac, sur­real fauna, from the bird of para­dise to the horse on the land, she tran­s­cends the sounds…”

Verführung in andere Welten

Es scheint, als besäße Ihre künst­le­ri­sche Aus­drucks­weise eine aus­ge­prägte supra­na­tu­ra­lis­ti­sche Ebene. Wür­den Sie dem zustimmen?

Musik ver­bin­det Sicht­ba­res und Unsicht­ba­res und hat unbe­dingt die Kraft, sich jen­seits von Natur anzu­sie­deln, uns in andere Wel­ten zu ver­füh­ren oder auch in ganz andere Umlauf­bah­nen zu katapultieren.

Wie ste­hen Sie als Klang­fe­ti­schis­tin eigent­lich zum ewi­gen Rau­schen des inter­stel­la­ren Nichts?

Die Astro­no­min Stella Koch Ocker meint: “Wir detek­tie­ren also das schwa­che, anhal­tende Brum­men von inter­stel­la­rem Gas.” Nach Gas­ton Bachelar: “Ist in einem anwe­sen­den Bild nicht auch ein abwe­sen­des ver­bor­gen, bleibt kein Raum für Ima­gi­na­tion.” Das Fas­zi­no­sum in die­sem inter­stel­la­ren Nichts ist für mich klar die Imagination.

Seit 1998 “bespie­len” Sie jähr­lich den ver­schwin­den­den Rhô­ne­glet­scher mit Solo-Per­for­man­ces. Wie darf man sich die Tex­tur des Eises syn­äs­the­tisch vorstellen?

Charlotte Hug - Viola-Performance im Rhone-Gletscher - Interview GLAREAN MAGAZIN - Februar 2023
“Mul­ti­sens­ori­el­les Erleb­nis”: Viola-Per­for­mance im Rhône-Glesch­ter (© Alberto Venzago)

Die Arbeit im Glet­scher ist ein mul­ti­sens­ori­el­les Erleb­nis. Das inten­sive Vitriol-Blau im Inne­ren des Glet­schers ist betö­rend schön, die Klänge im Eis, die Trop­fen und Span­nun­gen, die Kälte, all dies prägt und ver­än­dert das Spiel. Mein Inter­esse und künst­le­ri­sche Her­an­ge­hens­weise waren aber weit grö­ßer als eine mög­li­che Synästhesie.
Ver­schie­dene Zeit­di­men­sio­nen sind prä­sent: Von der Poly­rhyth­mik der Trop­fen im Moment, zu den Tages­rhyth­men, sicht­bar durch die Licht­ver­hält­nisse und hör­bar durch die Span­nun­gen und dem dar­aus resul­tie­ren­den Kna­cken im Eis, die beson­ders durch die Abküh­lung wäh­rend der Däm­me­rung hör­bar wur­den. Je nach Jah­res­zeit sind die For­men des Eises sehr unterschiedlich.

Das Schwinden des ewigen Eises hörbar gemacht

Über Jahre habe ich im Stol­len des Rhô­ne­glet­schers gespielt und gesun­gen. Jedes Jahr zog sich der Glet­scher wei­ter zurück. Der Reso­nanz­kör­per ver­än­derte sich, wurde dünn­wan­di­ger, durch­lä­ßi­ger und von Jahr zu Jahr mas­siv kür­zer. Nebst der gro­ßen Liebe zum Glet­scher und der gro­ßen Inspi­ra­tion, die von ihm aus­geht, war mir zen­tra­les Anlie­gen, durch meine Klänge das Schwin­den und die Illu­sion des ewi­gen Eises sinn­lich hör­bar zu machen.

Charlotte Hug - Das Schwinden des ewigen Eises hörbar gemacht - Interview GLAREAN MAGAZIN - Februar 2023
“Das Schwin­den des ewi­gen Eises hör­bar gemacht”: Char­lotte Hug auf dem Rhône-Glet­scher (© Alberto Venzago)

Bereits in frü­hen Arbei­ten wie z.B. die Solo-CD “Mau­er­raum Wand­raum” war dies Thema. “The act of dis­ap­pearing” kehrte über die Jahre in ver­schie­de­nen Arbei­ten wie­der. In der aktu­el­len Solo-Per­for­mance The Vanis­hing Blue hat das Ver­schwin­den eine dring­li­che sze­nisch-inter­dis­zi­pli­näre Form ange­nom­men. Mit Live-Pain­ting male ich For­men des Eises mit Was­ser auf einen groß­for­ma­ti­gen Unter­grund. Dann inter­pre­tiere ich diese Glet­scher Son-Icons und singe ein Kee­ning für den Glet­scher. Am Ende der Per­fo­mance herrscht Stille. Die gemal­ten Glet­scher­for­men sind ver­duns­tet und verschwunden.
Bei der Urauf­füh­rung 2020 an der Staats­oper Stutt­gart fand anschlie­ßend eine Panel­dis­kus­sion mit der Dra­ma­tur­gin Bar­bara Eckle, dem Gla­zio­lo­gen Leo Sold und mir statt. Sol­che Cross-Sci­ence-Ver­an­stal­tun­gen im Zusam­men­hang mit kli­ma­ti­schen Ver­än­de­run­gen und den schwin­den­den Glet­schern wer­den mir immer wichtiger.

Für das noch junge Jahr 2023: Was sind Ihre kom­men­den Projekte?

Für 2023 sind ver­schie­dene Pro­jekte geplant. Im Som­mer werde ich meine vierte Solo CD auf­neh­men. Die Vor­be­rei­tun­gen beglei­ten mich schon seit lan­gem. Die­ses Jahr ist es nun soweit.
Die­ser Tage arbeite ich inten­siv an der Raum-Par­ti­tur von “Shapes Of Time” für ein Ensem­ble in Hali­fax in Canada.
Aktu­ell mischen wir die neue CD-Auf­nahme des Trios mit Mag­gie Nicols und Caro­line Kraabel.
Dank der über 20-jäh­ri­gen Erfah­rung im Lon­don Impro­vi­sers Orches­tra werde ich einer­seits mit dem von Magda Mayas und mir gegrün­de­ten Lucerne Impro­vi­sers Orches­tra arbei­ten sowie im Som­mer ein neues Stück für das Stey­ran Impro­vi­sers Orches­tra kon­zi­pie­ren, diri­gie­ren und in Graz aufführen.

Linda Bouchard - Glarean Magazin
“Aus­tausch über visu­elle Par­ti­tu­ren”: Die kana­di­sche Kom­po­nis­tin Linda Bou­chard

Im Novem­ber spie­len wir im TriO­cu­lar mit Fran­çois Houle und Lori Freed­man die Fort­set­zung des Pro­jekts Ocu­lar Scores – Live Struc­tures der Kom­po­nis­tin Linda Bou­chard. Diese visu­elle, digi­tale Par­ti­tur ver­än­dert sich stän­dig, je nach­dem wie sie inter­pre­tiert wird. Mit die­sem Pro­jekt Ocu­lar-Scores – Live Struc­tures gehen wir im Novem­ber auf eine USA West-Coast Tour. Der Film zu die­sem Pro­jekt wird am 17. Februar her­aus­kom­men. Mit Linda Bou­chard ver­bin­det mich seit Jah­ren die grosse Pas­sion und ein reger Aus­tausch über visu­elle Par­ti­tu­ren, die sich stän­dig weiterentwickeln.

Als Dozen­tin mit brei­ter Unter­richts­er­fah­rung, z.B. an der Luzer­ner Musik­hoch­schule oder der Zür­cher Hoch­schule der Künste, suchen Sie den Kon­takt zu kom­men­den Gene­ra­tio­nen von Künst­le­rin­nen und Künst­lern. Was beschäf­tigt die Studierenden?

An der Musik­hoch­schule in Luzern bin ich im grund­stän­di­gen Stu­dium tätig, dies unter ande­rem im Mas­ter Musik & Art Per­for­mance, Musik & Bewe­gung sowie im Minor Impro­vi­sa­tion. An der ZHdK der Zür­cher Hoch­schule der Künste sind alle Dis­zi­pli­nen unter einem Dach ver­eint. Hier bin ich vor allem in der musi­ka­lisch-trans­dis­zi­pli­nä­ren Krea­tion aktiv.
Omni­prä­sent sind bei den Stu­die­ren­den im grund­stän­di­gen Stu­dium die aktu­ell viel­dis­ku­tier­ten The­men des Kli­mas, Nach­hal­tig­keit, Iden­ti­tät, Gen­der, Woke­ness etc. An der ZHdK initi­ierte und leite ich den inter­na­tio­na­len ein­jäh­ri­gen CAS-Wei­ter­bil­dungs-Stu­di­en­gang “Crea­tion & Sce­na­rio in Music”. Auch biete ich den Bau­stein “Focu­sing on Crea­tion” mit indi­vi­du­el­len Men­to­ra­ten an. Die The­men und Inter­es­sen in der Wei­ter­bil­dung sind hier enorm breit gefächert.

In den Phänomenen die Zeichen des Lebens

Wo ich jedoch alle Stu­die­ren­den abho­len möchte, ist: Dig Deep – suche deine urei­ge­nen bren­nen­den The­men, fokus­siere dar­auf mit dem wei­ten Geist der Kunst. Wie gelin­gen künst­le­ri­sche Über­set­zun­gen in Klänge, trans­dis­zi­pli­näre Insze­nie­run­gen, an wel­chen Orten fin­den diese statt – in rea­len, vir­tu­el­len oder hybri­den Orten? Wie errei­che ich die Men­schen mit mei­ner Pas­sion, allen­falls auch mei­ner poli­ti­schen Mes­sage – dies jedoch, ohne die Kunst zu instrumentalisieren?
Du kennst dein Publi­kum nicht -biete ein leben­di­ges mul­ti­di­men­sio­na­les Bezugs­sys­tem dei­ner Kunst an. Lade das Publi­kum ein, und im bes­ten Fall geht beim Publi­kum der Pro­zess rhi­zo­ma­tisch immer wei­ter. Oder wie es Fou­cault for­mu­liert: “Nous devri­ons cher­cher des signes de vie dans les phénomènes.”

Wel­che Kata­ly­sa­to­ren für Krea­ti­vi­tät kön­nen Sie weiterempfehlen?

Dort, wo die Seh- und Hör­nei­gun­gen andere Resul­tate und Fra­gen auf­wer­fen, heiße jeg­li­che mediale Inkon­gru­en­zen will­kom­men, dort wird der Medi­en­wech­sel zum Ideen­ka­ta­ly­sa­tor und die Zwi­schen­räume zu Innovationsfeldern.
Beginne jetzt – dig deep. recher­chiere, übe, öffne, fokus­siere, skiz­ziere, tanze, impro­vi­siere, behaupte, ver­werfe – komme wie­der dar­auf zurück, bleibe dran, wechsle die Per­spek­ti­ven, drehe dein Hirn um und kre­iere wei­ter. Kunst führt mit­ten ins Den­ken und wie­der hinaus.

Frau Hug, wie klingt eigent­lich die Musik der Zukunft?

Die Welt ist groß, und wie Musi­ken in Zukunft klin­gen wer­den, ist zum Glück ein Mys­te­rium. In der Impro­vi­sa­tion ist der Moment zwi­schen dem Erklin­gen­den und dem Ima­gi­nä­ren für mich am leben­digs­ten erleb­bar – und es geht immer weiter.
“Yes­ter­day is history, tomor­row is a mystery,
today is a gift, that is why it is cal­led the present.” ♦

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Kom­po­si­tion auch das Inter­view mit Katha­rina Nohl: “Die Musik wird wie­der har­mo­ni­scher werden”

… sowie zum Thema Zeit­ge­nös­si­sche Musik das “Musik-Zitat der Woche” von Ursula Petrik 



Ein Kommentar

  1. Danke für die­sen inter­es­san­ten Bei­trag über eine der inno­va­tivs­ten Musi­ke­rin­nen der Schweiz! Frau Hug hörte ich schon zwei­mal öffent­lich, ihre bild­ne­ri­schen Werke kenne ich weni­ger. Sehr gelun­gen auch die geschick­ten Fra­ge­stel­lun­gen von Herrn Lei­ner, der damit die Künst­le­rin aus der Reserve lockte 🙂 Schö­ner Bei­trag, auch im Sinne des femi­ni­nen Kunst­schaf­fens in der Schweiz. Merci!

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