Sandra Kegel: Prosaische Passionen (Short Stories)

Frauen der Feder”

von Sigrid Grün

101 Kurz­ge­schich­ten von Frau­en hat die Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin und Lei­te­rin des FAZ-Feuil­le­tons San­dra Ke­gel in ih­rer An­tho­lo­gie “Pro­sa­ische Pas­sio­nen” zu­sam­men­ge­stellt. Eine Samm­lung von Short Sto­ries, die mich ab­so­lut über­zeu­gen konn­te, zeigt sie doch auf, wie viel­fäl­tig weib­li­ches Schrei­ben welt­weit ist. Es sind Tex­te ab dem Jahr 1900, die Li­te­ra­tur­in­ter­es­sier­te be­rüh­ren und ver­stö­ren, be­geis­tern und aufwühlen.

Prosaische Passionen: Die weibliche Moderne in 101 Short Stories - Übersetzungen aus 25 Weltsprachen Gebundene Ausgabe - Sandra KegelGibt es Frau­en­li­te­ra­tur im Sin­ne ei­nes spe­zi­fisch weib­li­chen Schrei­bens, das als sol­ches auch ein­deu­tig er­kannt wer­den kann? Die schot­ti­sche Schrift­stel­le­rin A.L. Ken­ne­dy ver­neint dies ganz klar: “Frau­en­li­te­ra­tur gibt es nicht – ge­nau­so we­nig wie Links­hän­der­li­te­ra­tur oder Rot­haa­ri­gen­li­te­ra­tur.” Mit Blick auf den li­te­ra­ri­schen Ka­non muss al­ler­dings fest­ge­stellt wer­den, dass über Jahr­hun­der­te hin­weg Män­ner­li­te­ra­tur do­mi­nier­te. Le­se­rin­nen und Le­ser konn­ten le­dig­lich den männ­li­chen Blick auf die Welt er­kun­den. Der männ­lich do­mi­nier­te Ka­non war nicht zu­letzt dem Pro­zess der Ka­no­ni­sie­rung selbst ge­schul­det, der eben­falls ge­schlech­ter­ideo­lo­gisch vor­ein­ge­nom­men war.

Frauenliteratur = Schundliteratur

Ob­wohl Frau­en zu al­len Zei­ten li­te­ra­risch ak­tiv wa­ren, schenkt die Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft ih­nen erst seit den 1970er Jah­ren mehr Auf­merk­sam­keit. Erst ab der Jahr­hun­dert­wen­de (vom 18. zum 19. Jahr­hun­dert) wur­de das Schrei­ben Frau­en über­haupt als Be­ruf er­laubt. Noch Goe­the hat­te in die­sem Zu­sam­men­hang eine Rede über den “Di­let­tan­tism der Wei­ber” ver­fasst und ein Jahr­hun­dert spä­ter (1906) ver­öf­fent­lich­te Theo­dor Wahl die Schrift “Die weib­li­che Ge­fahr auf li­te­ra­ri­schem Ge­bie­te“. Dar­in er­klär­te er, dass Frau­en le­dig­lich “aus Not oder Geld­sucht” schrie­ben und mach­te sie “für den Mas­sen­be­trieb der Bel­le­tris­tik verantwortlich”.

"Kraftvolles weibliches Schreiben": Herausgeberin Sandra Kegel
“Kraft­vol­les weib­li­ches Schrei­ben”: Her­aus­ge­be­rin San­dra Kegel

Li­te­ra­tur von Frau­en galt also als Schund­li­te­ra­tur. Die­se Auf­fas­sung än­der­te sich nur lang­sam. Doch die Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin San­dra Ke­gel, die seit 2019 das Feuil­le­ton der “Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung” lei­tet und Mit­glied des Kri­ti­ker­quar­tetts der Li­te­ra­tur­sen­dung “Buch­zeit” ist, zeigt ein­drucks­voll auf, wie kraft­voll weib­li­ches Schrei­ben ist. 101 Kurz­ge­schich­ten, die ab dem Jahr 1900 ent­stan­den sind, re­prä­sen­tie­ren zahl­rei­che Fa­cet­ten weib­li­cher Erzählkunst.
Ent­hal­ten sind Tex­te von be­kann­ten Ver­tre­te­rin­nen des Gen­res “Kurz­ge­schich­te”, etwa Edith Whar­ton und Ka­the­ri­ne Mans­field. Aber auch Ma­ri­na Zweta­je­wa und Else Las­ker-Schü­ler, die eher für ihre Ly­rik be­kannt sind, ha­ben hier ih­ren Platz ge­fun­den. Die No­bel­preis­trä­ge­rin­nen Do­ris Les­sing, Sig­rid Und­set und Sel­ma La­ger­löf sind na­tür­lich eben­falls ver­tre­ten. Und na­tür­lich fehlt auch Vir­gi­nia Woolf nicht, de­ren Text “Der Fleck an der Wand” 1917 ent­stan­den ist.

Experimentierfreude und Realismus

Zwi­schen Ex­pe­ri­men­tier­freu­de und psy­cho­lo­gi­schem Rea­lis­mus, Har­lem Re­nais­sance und ja­pa­ni­scher Er­zähl­kunst ist ein span­nen­des Spek­trum an un­ter­schied­lichs­ten Sti­len ge­bo­ten. Be­son­ders in­ter­es­sant fand ich per­sön­lich die mir bis­her un­be­kann­ten Au­torin­nen, etwa die ka­na­di­sche Häupt­lings­toch­ter Te­kahion­wa­ke, Ro­keya Sak­ha­wat Hossain aus Bri­tisch-In­di­en (heu­te Ban­gla­desch), Kate Ro­bin­son aus Wales, die Fin­nin Solv­eig von Schoultz und die Grie­chin Ga­la­tea Kazantzaki.

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An­zei­ge

Pro­sa­ische Pas­sio­nen” ist eine An­tho­lo­gie, für die man sich Zeit neh­men soll­te. An man­chen Ta­gen konn­te ich nur ei­nen ein­zi­gen Text le­sen und ver­ar­bei­ten – etwa die le­dig­lich drei Sei­ten um­fas­sen­de Ge­schich­te “Pro­sti­tu­iert” der in fran­zö­si­scher Spra­che schrei­ben­den Nie­der­län­de­rin Neel Doff (1858-1942), die in ih­rem au­to­bio­gra­phi­schen Text da­von be­rich­tet, wie sie sich be­reits in jun­gen Jah­ren pro­sti­tu­ie­ren muss­te, um für den Le­bens­un­ter­halt der Fa­mi­lie zu sor­gen. Nach­dem ein Frei­er sie nicht be­zahlt hat, nö­tigt ihre Mut­ter sie dazu, wei­ter­zu­ma­chen: “Wenn wir mit lee­ren Hän­den zu­rück­kom­men, wer­den sie ster­ben”. Ge­meint sind die klei­nen Ge­schwis­ter des Mäd­chens, das die Fa­mi­lie er­näh­ren muss und die von ih­rer Fa­mi­lie ge­op­fert wird, um über­le­ben zu kön­nen: “Die Leich­tig­keit, mit der sich mei­ne El­tern an die­sen Zu­stand ge­wöhn­ten, nähr­te in mir den Über­druss, der mit je­dem Tag wuchs. Sie hat­ten ver­ges­sen, dass ich, die Hüb­sches­te ih­rer Brut, mich Abend um Abend für je­den, der vor­über­kam, pro­sti­tu­ier­te. Zwei­fel­los gab es für uns kei­ne an­de­re Mög­lich­keit, dem Hun­ger­tod zu ent­ge­hen, doch ich konn­te es nicht er­tra­gen, dass die­se Ge­fäl­lig­keit ein­fach so hin­ge­nom­men wur­de, ohne jene Em­pö­run­gen und Ver­wün­schun­gen, die mich Tag und Nacht umtrieben.”

Facettenreiche Sammlung

Virginia Woolf - Ikone der Frauenliteratur - Glarean Magazin
Iko­ne der Frau­en­li­te­ra­tur: Vir­gi­nia Woolf (1882-1941)

Pro­sa­ische Pas­sio­nen” ist eine der­art fa­cet­ten­rei­che Samm­lung, dass ich sie li­te­ra­risch In­ter­es­sier­ten nur ans Herz le­gen kann. Wie arm wäre die Li­te­ra­tur ohne weib­li­che Er­zäh­le­rin­nen! San­dra Ke­gel ist eine Aus­wahl ge­glückt, die ich aus­ge­spro­chen ge­lun­gen fin­de. Na­tür­lich habe ich ei­ni­ge Au­torin­nen auch ver­misst – etwa die No­bel­preis­trä­ge­rin Ali­ce Mun­ro, eine Meis­te­rin der Short Sto­ry, die schon ei­ner jün­ge­ren Ge­ne­ra­ti­on als die in die­sem Band ver­sam­mel­ten Au­torin­nen an­ge­hört. Aber das Werk er­hebt ja kei­ner­lei An­spruch auf Vollständigkeit.
Er­gänzt wird der um­fang­rei­che Band durch ein sehr in­for­ma­ti­ves Nach­wort und aus­führ­li­che Au­torin­nen­vi­ten, die auch eine bio­gra­phi­sche Ein­ord­nung er­mög­li­chen. Es ist eine ab­wechs­lungs­rei­che und span­nen­de Aus­wahl, die pro­blem­los zahl­rei­che Nach­fol­ge­bän­de ha­ben könnte. ♦

San­dra Ke­gel (Hrsg.): Pro­sa­ische Pas­sio­nen – Die weib­li­che Mo­der­ne in 101 Short Sto­rys, 928 Sei­ten, Ma­nes­se Ver­lag, ISBN 978-3-7175-2546-2

Le­sen Sie zum The­ma weib­li­che Li­te­ra­tur auch über Eu­ro­päi­sche Frau­en­be­we­gun­gen im 19. und 20. Jahrhundert

… so­wie über Jane Ger­hard und Dan Tu­cker: Fe­mi­nis­mus (Bild­band)


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