Helmut Böttiger: Die Jahre der wahren Empfindung

Melange aus Anekdote und Analyse

von Sigrid Grün

Der Au­tor und Li­te­ra­tur­kri­ti­ker Hel­mut Böt­ti­ger er­hielt 2013 für sein Buch über die Grup­pe 47 den Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se im Be­reich Sachbuch/Essayistik. Er hat be­reits zahl­rei­che Wer­ke zur Li­te­ra­tur­ge­schich­te ver­fasst, die nicht nur tro­cke­ne Ana­ly­sen be­inhal­ten, son­dern aus­ge­spro­chen le­ben­dig er­zählt sind. “Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung” bie­tet ei­nen Über­blick über die deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur der 70er.

Helmut Böttiger: Die Jahre der wahren Empfindung - Die 70er - eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur - Wallstein VerlagBöt­ti­ger hat sich dazu ent­schlos­sen, kei­ne zu­sam­men­hän­gen­de Li­te­ra­tur­ge­schich­te zu ver­fas­sen, son­dern das Jahr­zehnt in 27 Es­says zu por­trä­tie­ren. Die Sieb­zi­ger wa­ren ein be­weg­tes, von Kri­sen und Um­brü­chen ge­präg­tes Jahr­zehnt, das auch eine fa­cet­ten­rei­che Li­te­ra­tur her­vor­brach­te. Hel­mut Böt­ti­ger be­leuch­tet schlag­licht­ar­tig Li­te­ra­tur­schaf­fen­de und Dis­kur­se, die der Epo­che ih­ren be­son­de­ren Cha­rak­ter ver­lie­hen ha­ben. Als ty­pisch für die da­ma­li­ge Li­te­ra­tur gilt eine ge­wis­se Selbst­zen­triert­heit, die Böt­ti­ger in den Kon­text des viel­schich­ti­gen Trans­for­ma­ti­ons­ge­sche­hens bet­tet: “Die psy­chi­schen An­for­de­run­gen, die die ge­sell­schaft­li­chen Eman­zi­pa­ti­ons­pro­zes­se mit sich brach­ten, der auf sich selbst zu­rück­ge­wor­fe­ne Ein­zel­ne – das wur­de zum gro­ßen The­ma der sieb­zi­ger Jahre.”

Literaturgeschichte in Geschichten

Anzeige Amazon: Bernward Vesper: Die Reise - rororo Verlag
An­zei­ge

So be­schäf­tigt sich der Au­tor in “Die Nar­ben sind die al­ten – Her­mann Pe­ter Pi­witt, Bern­ward Ves­per, Chris­toph Me­ckel: Die Aus­ein­an­der­set­zung mit den Nazi-Vä­tern” bei­spiels­wei­se mit der per­sön­li­chen Auf­ar­bei­tung der ei­ge­nen Fa­mi­li­en­ge­schich­te. Be­son­ders tra­gisch ist hier das Schick­sal von Bern­ward Ves­per, des­sen Va­ter Will Ves­per ein völ­ki­scher Dich­ter war. In sei­nem “Frag­ment ge­blie­be­nen” au­to­bio­gra­phi­schen Ro­man-Es­say “Die Rei­se” lo­tet Bern­ward Ves­per in Form ei­nes Be­wusst­seins­stroms die zwie­späl­ti­ge Be­zie­hun­gen zu sei­nem Va­ter und zu sei­ner zeit­wei­li­gen Le­bens­ge­fähr­tin Gud­run Ens­slin aus. Im Mai 1971 nahm Ves­per sich in der Psych­ia­trie des Uni­ver­si­täts­kli­ni­kums Ham­burg-Ep­pen­dorf das Le­ben. Er hat­te sich bis zum Schluss nicht wirk­lich von sei­nem Va­ter ab­ge­grenzt und litt auch dar­un­ter sehr.

Peter Handke und Ingeborg Bachmann

Helmut Böttiger - Literatur - Glarean Magazin
Me­lan­ge aus An­ek­do­te und Ana­ly­se: Li­te­ra­tur­kri­ti­ker Hel­mut Böt­ti­ger (*1956)

In ei­nem an­de­ren Text geht es um Pe­ter Hand­ke, dem in den Sieb­zi­gern eine Ver­bin­dung von Li­te­ra­tur und Pop­kul­tur ge­lang und der da­mit zum in­tel­lek­tu­el­len Vor­bild für vie­le jun­ge Men­schen in der Bun­des­re­pu­blik wur­de. Sei­ne 1975 er­schie­ne­ne Er­zäh­lung “Die Stun­de der wah­ren Emp­fin­dung” in­spi­rier­te auch den Ti­tel der vor­lie­gen­den Text­samm­lung, die eine Li­te­ra­tur­ge­schich­te in Ge­schich­ten ist.

Die ös­ter­rei­chi­sche Schrift­stel­le­rin In­ge­borg Bach­mann steht ge­mein­sam mit ih­rem Ro­man “Ma­li­na” im Mit­tel­punkt ei­nes Tex­tes, in dem es auch um die Be­zie­hun­gen zu Max Frisch und Paul Ce­lan geht, die eine wich­ti­ge Rol­le in ih­rem Werk spiel­ten. Frisch zum Bei­spiel als “Ur­bild der Va­ter­fi­gur im Ma­li­na-Ro­man” (Böt­ti­ger).
Auch die Li­te­ra­tur der DDR und wich­ti­ge Er­eig­nis­se, etwa die Aus­bür­ge­rung Wolf Bier­manns am 16. No­vem­ber 1976, die eine be­deu­ten­de Zä­sur dar­stell­te, wer­den an­ge­mes­sen gewürdigt.

Literaturgeschichte, die neugierig macht

Anzeige Amazon: In Medias Res - 222 Aphorismen - Walter Eigenmann
An­zei­ge

Es ist eine ab­wechs­lungs­rei­che Me­lan­ge aus An­ek­do­te und Ana­ly­se, die der Au­tor bie­tet. Von Uwe Joh­sons Kon­flikt mit der Kom­mu­ne I, de­ren Mit­glie­der in sei­ner Ab­we­sen­heit in des­sen Woh­nung nicht nur das Pud­ding-At­ten­tat plan­ten, über die Me­di­en­welt (Zeit­schrif­ten, Ver­la­ge und Buch­hand­lun­gen) bis hin zu Por­träts der Li­te­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger Hein­rich Böll und Gün­ter Grass schlägt Böt­ti­ger ei­nen wei­ten Bo­gen, der ein Jahr­zehnt um­fasst, und das eine Men­ge zu bie­ten hat: Ver­spielt­heit und Kri­se, Wan­del und Fest­hän­gen in al­ten Struk­tu­ren, Ko­mik und Tragik.

Literarische Aha-Momente

Es sind zahl­rei­che Aha-Mo­men­te, die der Au­tor uns be­schert. Er macht neu­gie­rig auf eine Li­te­ra­tur, die viel­leicht et­was aus dem Fo­kus ge­rückt ist, weil die Li­te­ra­tur der Sieb­zi­ger vie­len als an die Ge­ge­ben­hei­ten der Zeit ge­bun­den er­schei­nen mag. Und ge­ra­de des­halb ist es groß­ar­tig, dass Hel­mut Böt­ti­ger neu­gie­rig auf eine Li­te­ra­tur­epo­che macht, die sehr viel mehr be­inhal­tet als man an­neh­men möchte.
Mich hat der Au­tor auf alle Fäl­le zur Relek­tü­re ei­ni­ger Tex­te ver­an­lasst. Eine ge­wis­se Kennt­nis der Hin­ter­grün­de kann ei­nen völ­lig neu­en Zu­gang zu li­te­ra­ri­schen Wer­ken er­mög­li­chen. Es ist das Ver­dienst von Böt­ti­ger, die Sieb­zi­ger und ihre Li­te­ra­tur in der vor­lie­gen­den Li­te­ra­tur- und Kul­tur­ge­schich­te zum Le­ben er­weckt zu haben. ♦

Hel­mut Böt­ti­ger: Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung: Die 70er – eine wil­de Blü­te­zeit der Li­te­ra­tur, Wall­stein Ver­lag, 472 Sei­ten, ISBN 978-3-8353-3939-2

Le­sen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum The­ma Li­te­ra­tur­ge­schich­te auch über Gi­or­gio van Stra­ten: Das Buch der ver­lo­re­nen Bücher

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)