F. Chiquet & M. Affolter: Die Pazifistin

Die vergessene Heldin:
Gertrude Woker

von Katka Räber

Was sagt es über die Schwei­zer Ge­sell­schaft aus, wenn eine der ers­ten Hoch­schul-Pro­fes­so­rin­nen Eu­ro­pas und – seit Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts – eine un­er­schro­cke­ne Kämp­fe­rin für die Gleich­be­rech­ti­gung der Frau­en und für den Frie­den voll­kom­men von der Ge­schichts­schrei­bung und auch von der ei­ge­nen Fa­mi­lie ver­ges­sen wor­den ist? Die Rede ist von der Ber­ne­rin Ger­trud Wo­ker (1878-1968), der ers­ten Che­mie-Pro­fes­so­rin im deutsch­spra­chi­gen Eu­ro­pa, der kämp­fe­ri­schen Pa­zi­fis­tin aus Über­zeu­gung und un­er­schro­cke­nen Fe­mi­nis­tin aus Leidenschaft.

Die So­lo­thur­ner Film­ta­ge 2021, an de­nen “Die Pa­zi­fis­tin” ur­auf­ge­führt wur­de, er­wäh­nen rich­tig, dass Ger­trud Wo­ker zu “Un­recht aus dem his­to­ri­schen Ge­dächt­nis ge­stri­chen wur­de: Sie setz­te sich als eine der ers­ten Pro­fes­so­rin­nen Eu­ro­pas be­harr­lich für Frau­en­rech­te und Frie­den ein. Ge­schlech­ter­dis­kri­mi­nie­rung und Kriegs­trei­be­rei­en zum Trotz for­der­te sie Kon­ven­tio­nen ih­rer Epo­che her­aus und wur­de zu ei­ner In­spi­ra­ti­on selbst­be­stimm­ter Frau­en, da­zu­mal wie heute.”

Die Pazifistin - Gertrud Woker - Eine vergessene Heldin - Film-Rezensionen - GLAREAN MAGAZINDie Pa­zi­fis­tin” der bei­den Fil­me­ma­cher Fa­bi­an Chi­quet und Mat­thi­as Af­fol­ter ist ein po­li­tisch und mensch­lich hoch­bri­san­ter Do­ku­men­tar­film, der eine wich­ti­ge his­to­ri­sche Per­sön­lich­keit, eine un­an­ge­pass­te, in­tel­li­gen­te Frau aus der voll­kom­me­nen Ver­ges­sen­heit fil­misch aus der Ver­sen­kung der Ge­schich­te holt. In Form ei­ner span­nen­den Col­la­ge aus Ani­ma­ti­ons­stü­cken, In­ter­views ei­ner His­to­ri­ke­rin, meh­re­rer Ver­wand­ter und auf­grund his­to­ri­schern Film­do­ku­men­te wird die gan­ze Epo­che um die Jahr­hun­dert­wen­de vor wäh­rend und nach dem Ers­ten Welt­krieg aufgerollt.

Porträt einer ganzen Epoche

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An­hand auch von schrift­li­chen Do­ku­men­ten, von Ta­ge­bü­chern und von Ge­dich­ten aus der Fe­der der Che­mi­ke­rin wird die da­ma­li­ge Ge­sell­schaft por­trä­tiert. Der Film ist span­nend wie ein gu­ter Kri­mi und ge­nau­so trau­rig und scho­ckie­rend dar­in, wie un­be­que­me und an­ders­den­ken­de Per­sön­lich­kei­ten sys­te­ma­tisch dif­fa­miert und zum Schwei­gen ge­bracht wer­den kön­nen, so­gar von der ei­ge­nen Fa­mi­lie. Wir er­fah­ren im Film vie­les über die da­ma­li­ge ers­te Frau­en­be­we­gung, die sich fürs Frau­en­stimm­recht und für Frau­en­an­lie­gen bei der Schul- und Be­rufs­bil­dung der Frau­en ein­setz­te, ins­be­son­de­re an den Uni­ver­si­tä­ten. So wur­de be­reits da­mals „glei­cher Lohn für glei­che Ar­beit“ ge­for­dert – was ei­gent­lich scho­ckiert, denn die­se For­de­rung ist auch heu­te im­mer noch eine nicht eingelöste…

Wissenschaftliche Pionierin

Ihr po­li­ti­scher Kampf ver­bau­te Ger­trud Wo­ker zu­nächst die viel­ver­spre­chen­de Uni­ver­si­täts­kar­rie­re, denn die Män­ner auf den ho­hen Pos­ten setz­ten sich ge­gen die fort­schritt­li­che Frau durch. Ers­te­re mach­ten sich lus­tig über sie, auch als Wo­ker als Wis­sen­schaft­le­rin be­reits 1911 das Zu­sam­men­le­gen von Che­mie und Bio­lo­gie vor­schlug. (Heu­te ist Bio­che­mie ein wich­ti­ges Fach). Es brauch­te Jahr­zehn­te, bis sich Wo­kers For­de­run­gen durch­set­zen lie­ßen; sie wur­den schluss­end­lich dann von Män­nern vor­ge­schla­gen und eingeführt….

Fabian Chiquet - Regisseur - Film-Rezensionen GLAREAN MAGAZIN
Re­gis­seur Fa­bi­an Chiquet

Ger­trud Wo­ker setz­te sich mu­tig und ori­gi­nell ge­gen den Krieg und den Ein­satz von Ner­ven­gas ein. 1915, nach die Er­fah­rung des Ers­ten Welt­krie­ges, en­ga­gier­te sie sich als Pa­zi­fis­tin am In­ter­na­tio­na­len Frau­en-Frie­dens­kon­gress in Den Haag, zu dem mehr als 1000 Frau­en aus 12 Län­dern an­reis­ten. Wo­ker wur­de zur Mit­be­grün­de­rin der In­ter­na­tio­na­len Frau­en­li­ga für Frie­den und Frei­heit, der auch die spä­te­re Frie­dens-No­bel­preis­trä­ge­rin Jane Ad­dams (1931) und die Na­tio­nal­öko­no­min Emi­ly Gree­ne Balch (1946) an­ge­hör­ten, bei­de ame­ri­ka­ni­sche So­zio­lo­gin­nen und Fe­mi­nis­tin­nen. Auch sie ge­rie­ten aus pa­tri­ar­chal-ge­sell­schaft­li­chen Grün­den prak­tisch in Vergessenheit.

Kritisch gegen das Militär

In den 1920er Jah­ren mie­te­te die in­ter­nat. Frau­en­li­ga ei­nen Zug, in dem auch Ger­trud Wo­ker mit­fuhr und zu­sam­men mit an­de­ren en­ga­gier­ten Frau­en die US-Staa­ten be­reis­te, um für den Frie­den zu wer­ben. In der Schweiz wur­de die­ses En­ga­ge­ment der Ger­trud Wo­ker vom Nach­rich­ten­dienst be­ob­ach­tet, und sie er­hielt wäh­rend des Zwei­ten Welt­krie­ges und so­gar als 80-Jäh­ri­ge wäh­rend des Kal­ten Krie­ges fi­chier­te Ein­trä­ge, weil sie sich kri­tisch über das Mi­li­tär und die Auf­rüs­tung äusserte.

Wollt ihr solche Frauen - Patriarchalisches Anti-Emanzipations-Plakat in den 1920er Jahren - Glarean Magazin
“Wollt ihr sol­che Frau­en?” Pa­tri­ar­cha­li­sches Anti-Eman­zi­pa­ti­ons-Pla­kat in den 1920er Jahren

Auch in ih­rer ei­ge­nen Fa­mi­lie sprach man lie­ber nicht über die sich auf­leh­nen­de Tan­te. Erst die Nef­fen, ih­rer­seits schon im Pen­si­ons­al­ter, be­gan­nen sich für das Le­ben ih­rer tot­ge­schwie­ge­nen Ver­wand­ten zu in­ter­es­sie­ren. Nach dem Tode der hoch en­ga­gier­ten, aber ver­fem­ten Tan­te, Frie­dens­ak­ti­vis­tin und Fe­mi­nis­tin der ers­ten Stun­de ver­schar­te man so­gar ihre Urne heim­lich, ohne Be­gräb­nis, im Gar­ten der Fa­mi­lie, wo man ihr erst spä­ter reu­mü­tig eine Ge­denk­ta­fel  widmete…

Mitreißend und aufklärend

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Der Film reisst mit, er klärt po­li­tisch und ge­sell­schaft­lich auf, en­ga­giert sich mensch­lich und ist auch ci­ne­as­tisch sehr span­nend kon­zi­piert. Er be­ant­wor­tet vie­le Fra­gen wie bei­spiels­wei­se: Wie konn­te es so weit kom­men, dass eine so hoch­in­tel­li­gen­te und ge­bil­de­te, mo­ra­lisch en­ga­gier­te und so­zi­al kämp­fe­ri­sche Wis­sen­schaft­le­rin so­gar in die Psych­ia­trie weg­ge­sperrt wur­de? Wel­che pa­tri­ar­cha­li­schen Ge­sell­schafts­struk­tu­ren wa­ren die Vor­aus­set­zung für eine der­ar­ti­ge Dis­kre­di­tie­rung un­be­que­mer Frau­en? Mit wel­chen po­li­ti­schen Mit­teln be­herrsch­te eine zu­rück­ge­blie­be­ne Män­ner­ge­sell­schaft alle eman­zi­pa­to­ri­schen Be­stre­bun­gen über­le­ge­ner Frauen?

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Ein wich­ti­ger Strei­fen, der auf­klärt und er­hellt. Zu­gleich er­hal­ten his­to­risch In­ter­es­sier­te ei­nen in­ter­es­san­ten Ein­blick in die so­zia­len Me­cha­nis­men der Zeit vor 100 Jah­ren. Empfehlenswert. ♦

Le­sen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum The­ma Eman­zi­pier­te Frau­en auch über Kers­tin De­cker: Lou An­dre­as-Sa­lo­mé (Bio­gra­phie)

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