Interview mit dem Komponisten Christian Henking

Jeder Routine ausgewichen

Christian Henking befragt von Jakob Leiner

Der Bas­ler Kom­po­nist Chris­ti­an Hen­king ge­hört zu den frucht­bars­ten zeit­ge­nös­si­schen Kom­po­nis­ten der Schweiz, sein Œu­vre um­fasst fast alle Spar­ten, Gat­tun­gen und For­men der “Klas­si­schen Mu­sik”. Da­ne­ben ist er viel­fäl­tig und ge­ach­tet auch als Kunst­fo­to­graf tä­tig. GLAREAN-Mit­ar­bei­ter Ja­kob Lei­ner frag­te Hen­king nach sei­nen In­ten­tio­nen, Schaf­fens­pro­zes­sen und künst­le­ri­schen Antriebskräften.

Glarean Ma­ga­zin: Herr Hen­king, was sind Ihre frü­hes­ten Er­in­ne­run­gen an Klän­ge oder Musik?

Chris­ti­an Hen­king: Das muss im El­tern­haus ge­we­sen sein. Bei uns lief viel knis­tern­de klas­si­sche Mu­sik (knis­ternd, weil von al­ten Schall­plat­ten ab­ge­spielt). Des­halb war die klas­si­sche Mu­sik für mich von klein auf eine Selbst­ver­ständ­lich­keit, wäh­rend­dem ich die Jazz- und Pop­sze­ne selbst ent­de­cken musste.

Komponieren in frühester Kindheit

Komponist Christian Henking - Interview im Glarean Magazin - Juni 2021
Chris­ti­an Henking

Wel­che mu­si­ka­li­schen oder auch nicht­mu­si­ka­li­schen Hin­ter­grün­de ha­ben Sie letzt­lich zum Kom­po­nie­ren gebracht?

Ich hat­te das gro­ße Glück, dass vie­le mei­ner Ver­wand­ten pro­fes­sio­nel­le Musiker*innen wa­ren und sind – mei­ne El­tern aber nicht. Sie wa­ren höchst ge­bil­det, kul­tu­rell ex­trem in­ter­es­siert und auch künst­le­risch be­gabt, aber eben nicht Mu­si­ker. Das gab mir eine un­ge­heu­re Frei­heit – und wohl auch den Drang, Mu­si­ker zu wer­den, und zwar im Spe­zi­el­len Kom­po­nist. Ei­ner mei­ner Groß­on­kel war Di­ri­gent und Kom­po­nist, er war, als ich noch sehr klein war, mein ers­ter Leh­rer. Ich habe kom­po­niert, be­vor ich be­gann, se­ri­ös Kla­vier­stun­den zu nehmen.

Als Kom­po­nist schu­fen Sie bis­her ein Œu­vre gro­ßer Band­brei­te, zahl­rei­che Vo­kal- und kam­mer­mu­si­ka­li­sche Wer­ke eben­so wie sze­ni­sche, or­ches­tra­le oder jaz­zig-to­na­le Kom­po­si­tio­nen. Ken­nen Sie künst­le­ri­schen Spieltrieb?

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Die “jaz­zig-to­na­len” Kom­po­si­tio­nen – was für eine merk­wür­di­ge Be­zeich­nung! – sind nicht Teil mei­nes Wer­kes, son­dern le­dig­lich hin­ge­wor­fe­ne Spä­ße, die halt im­mer noch auf mei­ner Werk­lis­te her­um­lun­gern. Ich müss­te dies end­lich mal än­dern. Vor al­lem lie­be ich zwar Jazz, bin aber kein Jaz­zer. Der Jazz ist ja eine ei­gen­stän­di­ge, viel­fäl­ti­ge, groß­ar­ti­ge Kul­tur. Wir “Klas­si­ker” soll­ten uns hü­ten zu mei­nen, man kön­ne so lo­cker-flo­ckig auch “jaz­zig” komponieren.
Aber sonst mag mei­ne Band­brei­te tat­säch­lich recht groß ein – das kommt da­her, dass mich prak­tisch nichts nicht in­ter­es­siert. Dar­aus wächst so et­was wie ein Spiel­trieb. Ich bin über­aus neu­gie­rig und ma­che ger­ne et­was zum al­ler­ers­ten Mal.
Es fällt aber auf, dass ich mich bis jetzt noch nicht tie­fer mit Elek­tro­nik be­schäf­tigt habe. Das In­ter­es­se dazu wäre na­tür­lich da, aber ich müss­te mich ein paar Jah­re zu­rück­zie­hen, um mich da rein­zu­ar­bei­ten, und dazu fehlt mir mo­men­tan der Mut.

Ich arbeite einfach drauflos”

Chris­ti­an Hen­king (1961 ge­bo­ren in Ba­sel) stu­dier­te nach dem Ab­itur Mu­sik­theo­rie bei Theo Hirs­brun­ner, da­nach folg­te eine zwei­jäh­ri­ge Ka­pell­meis­ter­aus­bil­dung bei Ewald Kör­ner. Ab 1987 ab­sol­vier­te er ein Kom­po­si­ti­ons­stu­di­um bei Cris­to­bal Halff­ter und Edi­son De­n­is­ov, in Meis­ter­kur­sen bei Wolf­gang Rihm und Heinz Hol­li­ger. Chris­ti­an Hen­king wur­de viel­fach aus­ge­zeich­net, u.a. 2016 mit dem Mu­sik­preis des Kan­tons Bern. Er ist Do­zent an der Hoch­schu­le der Küns­te Bern für Kom­po­si­ti­on, theo­re­ti­sche Fä­cher und Kam­mer­mu­sik. Sei­ne Wer­ke er­schei­nen beim Ver­lag Mül­ler & Schade.
Da­ne­ben be­steht eine in­ten­si­ve fo­to­gra­fi­sche Tä­tig­keit: Un­ter­richt bei Si­mon Stäh­li an der Schu­le für Ge­stal­tung Bern, so­wie bei Tim Da­vo­li, Adri­an Mo­ser und Ani­ta Voz­za. Aus­stel­lun­gen u.a. an der pho­to 09, 12 und 16 in Zü­rich, im Korn­haus Bern 2011, in Schön­bühl 2012, im ONO Bern 2013, in der Ga­le­rie Ho­fer und Ho­fer 2015 und im Ber­ner Ge­ne­ra­tio­nen Haus 2016.

Gibt es in­spi­ra­ti­ve Rou­ti­nen im Ent­ste­hungs­pro­zess für ein neu­es Werk?

Ich bin meis­tens nicht in­spi­riert, wenn ich mit ei­ner Kom­po­si­ti­on be­gin­ne. Ich ar­bei­te ein­fach drauf­los, schrei­be Blöd­sinn oder schlech­tes Zeugs und habe das Ver­trau­en, dass ir­gend­wann, viel­leicht nach Wo­chen oder Mo­na­ten, die In­spi­ra­ti­on dank der Ar­beit kom­men wird. Den Blöd­sinn und das schlech­te Zeugs schmei­ße ich dann weg, und die Kom­po­si­ti­on be­ginnt zu wach­sen. Des­halb ver­ste­he die künst­le­ri­sche Ar­beit als eine Art Zer­stö­rungs­pro­zess: Ich “er­schaf­fe” zwar et­was, da­für aber zer­stö­re ich un­end­lich viel.
Die­ser Ab­lauf mag eine Art von Rou­ti­ne sein – in­halt­lich aber wei­che ich je­der Rou­ti­ne aus.

Wie di­gi­tal kom­po­nie­ren Sie?

Gar nicht. Ich bin ein mu­si­ka­li­scher Di­no­sau­ri­er, der noch al­les mit Blei­stift auf ein Pa­pier krit­zelt. Ich ken­ne Fi­na­le und Si­be­l­i­us nur vom Hö­ren­sa­gen. Zum Glück ist mein Ver­lag so groß­zü­gig, dass ein tol­ler An­ge­stell­ter mei­ne Blei­stift-Rein­schrift auf Fi­na­le überträgt.

Komponierend in Farben denken

Vie­le Ih­rer Wer­ke be­inhal­ten Text­ver­to­nun­gen, zu Ih­rer Oper “Le­on­ce und Lena” nach Ge­org Büch­ners gleich­na­mi­gem Lust­spiel ha­ben Sie selbst das Li­bret­to ver­fasst. “Pri­ma le pa­ro­le, dopo la mu­si­ca” also?

Das scheint nur so. Im Werk “Schnee” sind Mu­sik, Spra­che, Be­we­gung und Licht gleich­zei­tig ent­stan­den, es gäbe noch et­li­che an­de­re Bei­spie­le zu nen­nen. Bei der Oper “Le­on­ce und Lena” habe ich tat­säch­lich den Ori­gi­nal­text neu kon­zi­piert, be­vor die Mu­sik ent­stan­den ist – das ist für mich aber nicht die Re­gel, son­dern nur eine Möglichkeit.

Wel­ches Stück woll­ten Sie schon im­mer ein­mal komponieren?

Eine drit­te Oper.

Sehen und hören als künstlerische Wechselbeziehung

Sie sind auch als viel­sei­ti­ger Fo­to­graf tä­tig. Aus­gleich zum Mu­sik­kos­mos oder Va­ria­ti­on des­sel­ben künst­le­ri­schen Selbstverständnisses?

"Es war einmal ein Winter": Szenenfoto aus dem Theatre Musical "Schnee" von Christian Henking und Zarin Moll (Atelier Contrast)
Sze­nen­fo­to aus dem Theat­re Mu­si­cal “Schnee” von Chris­ti­an Hen­king und Za­rin Moll

Bei­des. Wenn ich mit dem Auge ar­bei­te, er­holt sich mein Ohr und um­ge­kehrt. Gleich­zei­tig mer­ke ich im­mer wie­der, wie ähn­lich ich for­mal den­ke, wenn ich fo­to­gra­fie­re oder kom­po­nie­re. Zu er­wäh­nen ist noch, dass ich beim Kom­po­nie­ren häu­fig eine gro­ße Sehn­sucht nach viel­fäl­ti­gen Klang­far­ben ver­spü­re. Das kommt wohl da­her, dass ich far­ben­blind bin. Als Fo­to­graf den­ke ich also nicht in Far­ben, als Kom­po­nist sehr wohl.

War­um abbilden?

Als Fo­to­graf bil­de ich nur schein­bar et­was ab. Ei­gent­lich fo­to­gra­fie­re ich mich im­mer selbst. Je­des Foto, mag es nun eine Ga­bel oder et­was Abs­trak­tes oder was weiß ich ab­bil­den, ist ei­gent­lich ein Selbst­por­trait, weil ich ja nur zei­gen kann, wie ich die Welt sehe, nicht wie sie ein an­de­rer Mensch sieht.

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Wie all­täg­lich sind Hu­mor und (Selbst)Ironie in der zeit­ge­nös­si­schen Kunst- und Kulturszene?

In der Thé­ât­re-Mu­si­cal-Sze­ne sind Hu­mor und Iro­nie eine Selbst­ver­ständ­lich­keit – Gott sei Dank. Nicht zu­letzt des­halb schrei­be ich mit gro­ßer Lei­den­schaft Thé­ât­re-Mu­si­cal-Wer­ke. An­sons­ten aber ha­ben es der Hu­mor und die Iro­nie zu­wei­len schwer in un­se­rer be­deu­tungs­schwan­ge­ren Sze­ne. Hu­mor scheint un­se­ri­ös zu sein, und Iro­nie sucht man bei Bach und Brahms ver­ge­bens, also kann das ja nicht gut sein. Da­bei gibt es wun­der­ba­re Wer­ke, die mit Hu­mor und Iro­nie fan­tas­tisch um­ge­hen, man den­ke nur an Wer­ke von Ka­gel, Schnitt­ke, Li­ge­ti und wie sie alle heißen.

Probeseite aus der Partitur "Keine Zeit ist zeitig mit der Sehnsucht Zeit" (2011) von Christian Henking
Pro­be­sei­te aus der Par­ti­tur “Kei­ne Zeit ist zei­tig mit der Sehn­sucht Zeit” (2011) von Chris­ti­an Henking

Die Welt dreht sich auch ohne meine Musik”

Wie ha­ben Sie das ver­gan­ge­ne kul­tur­ver­arm­te Co­ro­na-Jahr erlebt?

Alle Kon­zer­te wur­den ab­ge­sagt resp. ver­scho­ben. Es war schon ein Glücks­fall, wenn eine Ur­auf­füh­rung we­nigs­tens für das Ra­dio auf­ge­nom­men wer­den konn­te, als Er­satz für ein Kon­zert. Ein Ge­fühl des “Ver­dor­rens” schlich sich ein. Gleich­zei­tig war mir be­wusst, dass ich un­glaub­li­ches Glück hat­te, denn die An­stel­lung an der Hoch­schu­le hielt mich über Was­ser. Ich war und bin also in ei­ner Lu­xus-Si­tua­ti­on und habe kein Recht, mich zu be­kla­gen. Die Welt dreht sich auch ohne mei­ne Musik.

Wie hört sich ei­gent­lich die Mu­sik der Zu­kunft an?

Groß­ar­ti­ge Mu­sik hat es im­mer ge­ge­ben, in al­len Kul­tu­ren und Zei­ten, also wird es auch in Zu­kunft groß­ar­ti­ge Mu­sik ge­ben. Wie die klin­gen wird, hängt nicht so sehr von den Kom­po­nie­ren­den ab, son­dern von den Um­stän­den. Still wird es auf je­den Fall nie wer­den, dazu ist der Mensch zu laut. ♦

Le­sen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum The­ma Zeit­ge­nös­si­sche Mu­sik auch das In­ter­view mit der Kom­po­nis­tin Kath­rin Denner

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