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Modernisiertes Italien-Fernweh
von Christian Busch
Klaus Modicks neuer Roman “Fahrtwind” ist eine romantische Reiserzählung und eine Reminiszenz an Eichendorffs berühmte “Taugenichts“-Novelle, die das Italien-Reisefernweh in die Siebziger Jahre transponiert, in des Autors eigene Studienzeit.
“Wem Gott will rechte Gunst erweisen / Den schickt er in die weite Welt. / Dem will er seine Wunder weisen / In Berg und Wald und Strom und Feld!” Mit diesen Zeilen stürzte sich vor ungefähr 200 Jahren Joseph Freiherr von Eichendorffs berühmter, längst zur literarischen Legende und zum Sinnbild deutsch-romantischer Italien-Sehnsucht gewordener Taugenichts in sein Reiseabenteuer, das ihn über Wien bis nach Rom und in die Arme seiner Geliebten führt.
Wer kennt nicht die zum Paradigma romantisierter Reiselust stilisierte Einleitung der Künstlernovelle, in welcher der gestrenge Vater seinen faulenzenden, musikverliebten Herrn Sohn und Müßiggänger in die Welt hinausschickt:
“Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde und läßt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot.” – “‘Nun”, sagte ich, “wenn ich ein Taugenichts bin, so ists gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück machen.’ Und eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher selber eingefallen, auf Reisen zu gehen…'”.
Folie für eine Modernisierung

In Klaus Modicks neuem Roman “Fahrtwind”, der bereits zum “Spiegel”-Bestseller avanciert ist, dient nun, wie der Autor bereits im Vorwort freimütig bekennt, Eichendorffs Erzählung als Folie für eine Modernisierung. Modick verlegt seine Geschichte in die Siebziger Jahre, seine eigene Studentenzeit – und scheint seine Jugend nachholen zu wollen. Er ist nun ein auf den sinnigen Namen Müller getaufter Studiosus vagabundicus, der kurz nach dem Abitur sorg- und ziellos aufbricht, um dem geregelten, bürgerlichen Leben der Spießer und Philister zu entkommen (“Die Trägen, die zu Hause liegen / Erquicket nicht das Morgenrot / Sie wissen nur vom Kinderwiegen / Von Sorgen, Last und Not um Brot”).
Aus der Mühle wird der Klempnerbetrieb, aus der Geige die Gitarre, aus der Wanderschaft eine Tramptour, aus der Kutsche der beiden vornehmen Damen ein “Mercedes Roadster 107”, aus dem Schloss bei Wien ein Schlosshotel und aus den beiden fremden Wanderern zwei homophile, vermeintlich mit Drogen dealende Easy-Rider-Cyclisten – und so weiter. Stilsicher werden – mit einer Prise narkotisch wirkender Pilze und anderer Gräser angereichert – Kulissen und Reliquien ausgetauscht. Deren Flair erschließt sich weiter durch die Popsongs, die als Motti über den Kapiteln stehen, und durch die gelegentliche Erwähnung von RAF und Roten Brigaden. Tiefgehender und sozialkritischer war das bei Eichendorff auch nicht.
Stimmung, Rhythmus und schwebende Leichtigkeit
Auch wenn der Ich-Erzähler bei seinen eigenen Dichtungen an seine Grenzen stößt, wird absolut flott fabuliert. Fast scheint es so, als habe er Eichendorffs Originaltext durch eine moderne Übersetzungsmaschine gejagt, die alles transponiert, ohne Stimmung, Rhythmus und die schwebende Leichtigkeit zu verlieren. Mit ebenso leichtfüßigem Charme und schwindelerregender Verspieltheit entstehen toskanische Gartenlandschaften und die von Zypressen und Olivenhainen gesäumten arkadischen Sehnsuchtsorte der romantischen Seele.

Das ist wirklich verblüffend und wäre ein spannendes Thema für eine germanistische Seminar-Arbeit, denn auch die Zeichnung des überwiegend eins zu eins übernommenen Figuren-Inventars gelingt in ihrer naiven, aber direkten und pointierten Art – auch unter gänzlicher Wahrung der romantischen Ironie. Und doch dürfte den Leser Klaus Modicks gekonnte Hommage und Reminiszenz an Eichendorffs Künstlerepisode nur halb zufriedenstellen. Denn bei aller Vergnüglichkeit bleibt die Geschichte doch allzu sehr eine schablonenhafte Imitation – ohne, dass Reise-, Lebens- und Liebesmotive irgendeine Aktualisierung, Vertiefung oder Erweiterung erfahren.
So beschert “Fahrtwind” zweifellos ein beträchtliches Lesevergnügen und nicht nur in Corona-Zeiten ein sinnliches Italien-Erlebnis, hinterlässt bei dem literarisch ambitionierteren Leser, vielleicht auch bei dem genauen Kenner der Eichendorff’schen Vorlage jedoch auch eine gewisse Ratlosigkeit darüber, dass nach 200 Jahren am Ende einfach “alles, alles gut” ist. Aber lesen Sie selbst, denn lesenswert ist der neue Modick allemal! ♦
Klaus Modick: Fahrtwind (Roman), 208 Seiten, Verlag Kiepenheuer & Witsch, ISBN 978 3462001303
Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Literarische Romantik auch über den Roman von Gerwin van der Werf: Der Anhalter