Khatia Buniatishvili: Labyrinth (Klavier solo)

Im Irrgarten des Geistes

von Jakob Leiner

Es ist wahr, hat man das su­chen­de Ele­ment in dem neu­en Al­bum “La­by­rinth” von Kha­tia Bu­nia­tish­vi­li ein­mal re­gis­triert, scheint es sich mit je­dem Hör­ein­druck noch zu po­ten­zie­ren. Und hier könn­te man be­reits zu ei­nem Kern der “La­by­rinth” be­ti­tel­ten Ein­spie­lung, Ende 2020 bei Sony Clas­si­cal er­schie­nen, vor­ge­drun­gen sein: das Su­chen­de als Wie­der­ho­lung, als eine sich selbst­ver­stär­ken­de, fast re­pe­ti­ti­ve Kraft, die bra­chi­al nicht sein muss.

Labyrinth Khatia Buniatishvili (Klavier), Erik Satie (Komponist), Ennio Morricone (Komponist) und weitere - Audio CDIn Bu­nia­tish­vi­lis Aus­wahl der Stü­cke so­wie ih­rer lie­be­vol­len In­ter­pre­ta­ti­on äu­ßert sich ne­ben dem Su­chen­den eine zwei­te Wir­kungs­ebe­ne von hoch­wirk­sa­mer Sinn­lich­keit. Das gilt so­wohl für Film­mu­si­ka­li­sches wie “Deborah’s The­me” von En­nio Mor­rico­ne (“Once Upon a Time in Ame­ri­ca”) als auch für “un­ser al­ler” Bach, u.a. ver­tre­ten mit der (an­ge­jazz­ten) “Ba­di­ne­rie” aus der zwei­ten so­wie sei­ner ge­nia­len “Air” aus der drit­ten Orchestersuite.

Grenzen zwischen E- und U-Musik aufgelöst

Bu­nia­tish­vi­li scheut sich nicht, die Gren­zen der so­ge­nann­ten E- und U-Mu­sik, oh­ne­hin ein ält­li­ches und durch­aus um­strit­te­nes Klas­si­fi­ka­ti­ons­sche­ma, mit der An­ord­nung der kur­zen Ein­zel­wer­ke auf­zu­lö­sen. Das ge­lingt, weil sie sich der Mu­sik sämt­li­cher Gen­res (bzw. Epo­chen) mit der­art un­vor­ein­ge­nom­me­ner Zärt­lich­keit nä­hert, dass jene zum “Mör­tel” des ge­sam­ten Al­bums wer­den kann. Der Ohr­wurm-Cha­rak­ter der al­le­samt wohl­be­kann­ten Stü­cke er­leich­tert na­tür­lich die Re­zep­ti­on um eine ge­wis­se in­tel­lek­tu­el­le An­for­de­rung, die ja nicht im­mer in­ten­diert sein muss.

Couperin - Les Barricades Mysterieuses - Glarean Magazin
Ne­ben S. Rach­ma­ni­nov, S. Gains­bourg, J.S. Bach und A. Pärt: “Les Bar­ri­ca­des Mys­te­rieu­ses” von F. Couperin

Was be­lie­big scheint – folgt auf die be­rühm­te Rach­ma­ni­nov-Vo­ca­li­se doch eine Tran­skrip­ti­on des wun­der­ba­ren Gains­bourg-Chan­sons “La Ja­va­nai­se” (Ju­li­et­te Gré­co lässt grü­ßen), an wel­chen sich Cou­pe­rins “Les Bar­ri­ca­des mys­té­rieu­ses” an­schließt, nur um wie­der zu ei­nem Bach’schen Ar­ran­ge­ment (der “Si­ci­li­en­ne” nach Vi­val­dis “Con­cer­to Op. 3, Nr. 11”) zu sprin­gen – die­se sti­lis­tisch mu­ti­ge Ab­fol­ge er­klärt sich beim Hö­ren von selbst. Bu­nia­tish­vi­lis tat­säch­lich schwer­ver­gleich­li­che Fein­heit im An­schlag spannt den Bo­gen so­wie eine ge­wis­se Ver­klärt­heit, die nicht als Pa­thos miss­ver­stan­den wer­den darf.

Introvertierte Musik-Sammlung

Die fran­zö­sisch-ge­or­gi­sche Pia­nis­tin möch­te die­ses Kon­zept­al­bum nicht als Bei­spiel ih­rer enor­men Vir­tuo­si­tät (man den­ke nur an Schu­manns Kla­vier­kon­zert mit dem Sin­fo­nie­or­ches­ter des Hes­si­schen Rund­funks un­ter Paa­vo Jär­vi) ver­kau­fen – nein, es ist eine stil­le, ge­ra­de­zu in­tro­ver­tier­te Mu­sik­samm­lung, die sie vorlegt.
Arvo Pärts re­duk­ti­ve Ge­bets­kom­po­si­ti­on “Pari in­ter­vallo” steht stell­ver­tre­tend für das Aus­maß an me­di­ta­ti­ver Ver­sen­kung, die zeit­wei­se er­reicht wird. Zwei streng par­al­lel ge­führ­te Li­ni­en, dem per­sön­li­chen Tin­tin­na­bu­li-Stil des est­ni­schen Kom­po­nis­ten fol­gend, bil­den über knapp acht Mi­nu­ten hin ein kla­res klang­op­ti­sches Mus­ter, das von Es-Moll-Drei­klän­gen be­stimmt wird. Nicht nur (Selbst-)Spiritualität zu­ge­neig­te Men­schen wer­den der Tran­szen­denz, die hier zu­sam­men mit Schwes­ter Gvant­sa Bu­nia­tish­vi­li zu vier Hän­den meis­ter­haft trans­por­tiert wird, et­was ab­ge­win­nen können.

Von Bach bis Cage

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Na­tür­lich darf in ei­ner sol­chen durch­aus nach phi­lo­so­phi­schen Ge­sichts­punk­ten fest­ge­leg­ten Stück­aus­wahl auch John Ca­ges “Nicht­werk” “4’33” nicht feh­len. Früh­lings­haf­te Re­al­klän­ge wie ent­fern­tes Vo­gel­ge­zwit­scher wer­den, dem CD-Book­let nach auf ei­nem Fried­hof auf­ge­nom­men, zur alea­to­ri­schen Mu­sik von ho­her ima­gi­na­ti­ver Wirk­sam­keit. Be­zeich­nend, dass die Künst­le­rin kur­ze kon­tem­pla­ti­ve Tex­te zu je­dem Werk selbst ver­fass­te – das La­by­rinth als Sinn­bild für ei­nen Le­bens­weg, der Ver­ir­rung ge­wis­ser­ma­ßen be­inhal­ten muss und den man trotz­dem selbst­re­flek­tiert und be­wusst zu ge­hen in der Lage ist. Zu­gleich schwingt die Auf­for­de­rung mit, die in­trin­si­sche Ord­nung, für die der Al­bum­na­me eben­so steht, aus me­ta­phy­si­scher Vo­gel­per­spek­ti­ve so­wohl wahr­zu­neh­men als auch zu ergründen.

Schnulzige Gesten neben überzeugender Seriösität

Virtuose Sinnlichkeit - Die Pianistin Khatia Buniatishvili - Musik im Glarean Magazin
“Vir­tuo­se Sinn­lich­keit und in­trin­si­sche Ord­nung”: Die Pia­nis­tin Kha­tia Buniatishvili

Es lässt sich nicht ver­mei­den, dass der Ges­tus an man­chen Stel­len mit dem Schnul­zi­gen lieb­äu­gelt, je­doch ver­liert er nie eine se­riö­se Über­zeu­gungs­kraft. Die Li­ge­ti-Etü­de “Arc-en-ciel” oder Jo­han­nes Brahms me­lan­cho­li­sches “In­ter­mez­zo in A-Dur” aus den 6 Kla­vier­stü­cken be­stä­ti­gen jene in­ter­pre­ta­to­ri­sche Rei­fe, die der erst 33-Jäh­ri­gen viel­fach at­tes­tiert wird. Das emp­find­sa­me Spiel mit Zwi­schen­stim­men kenn­zeich­net auch die Liszt-Con­so­la­ti­on in Des-Dur als “poe­ti­scher Gedanke”.
So­mit ist “La­by­rinth” ein ge­wag­tes wie sen­si­bles Al­bum, das ge­nau durch die­se Mi­schung be­sticht. Der Be­zug auf jene neo­ro­man­ti­sche Kon­zep­ti­on des mensch­li­chen Geis­tes als wech­sel­sei­ti­ges Ein­tau­chen und Ein­ge­taucht­wer­den in die Viel­falt ei­ner Welt­be­seelt­heit ist in pan­de­mi­schen Zei­ten eben­so heil­sam wie wahr. Wehe dem, der an­ders spricht… ♦

Kha­tia Bu­nia­tish­vi­li (Kla­vier): La­by­rinth (Div. Kom­po­nis­ten) Au­dio-CD, La­bel Sony Classical


Jakob Leiner - Lyriker, Musik, Arzt - Glarean MagazinJakob Leiner

Geb. 1992, Stu­di­um an der Hoch­schu­le für Mu­sik Karls­ru­he, lang­jäh­ri­ges Mit­glied im Bun­des-Ju­gend­or­ches­ter, seit 2016 Ly­rik-Ver­öf­fent­li­chun­gen in Bü­chern und Zeit­schrif­ten, 2020 Ab­schluss des Me­di­zin-Stu­di­ums, lebt als Arzt in Freiburg/Breisgau (BRD)

Le­sen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum The­ma Kla­vier­mu­sik auch über Ko­mi­t­as: Se­ven Songs (Pia­nis­tin: Lu­si­ne Grigoryan)

… so­wie über: Se­ve­rin von Eckard­stein plays Ro­bert Schu­mann – Ein Plä­doy­er für die Romantik

Au­ßer­dem im GLAREAN MAGAZIN: Das Kla­vier­werk von Er­nest Bloch & Fer­ruc­cio Busoni


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