Inhaltsverzeichnis
Tour de Force durch die Schachwelt
von Ralf Binnewirtz
Der Autor Dr. Christian Mann, Professor für Alte Geschichte in Mannheim und Internationaler Meister im Schach, legt mit seinem Taschenbuch “Schach – Die Welt auf 64 Feldern” seinen schachliterarischen Erstling vor. Der Klappentext deutet an, dass der Leser einen facettenreichen Überblick über die Welt des Schachs erwarten darf, realisiert in einem kleinformatigen Büchlein von lediglich 128 Seiten – zweifellos ein ambitioniertes Unterfangen. Hierbei werden noch 24 Seiten verwendet für “Vorspann” und Inhaltsangabe, Spielregeln/Notation, Glossar, Register, Literaturverzeichnis sowie eine Auflistung der Weltmeister am Ende des Buchs.
Das Buch dürfte insbesondere Einsteiger in das Gebiet des Schachs ansprechen, zumindest suggeriert dies das aufgenommene, gut neun Seiten beanspruchende Regelwerk. Aber auch allen Schachfreunden, die sich kurz über die Geschichte des Schachs, über Randgebiete bzw. kulturelle Aspekte des Spiels informieren möchten, dürfte es als erste Auskunftsquelle dienlich sein. (Hier finden sich die exakten Inhaltsangaben des Bandes).
Faszination Schach
Zum Auftakt beleuchtet der Autor zwei entscheidende Stellungen aus WM-Partien der Vergangenheit. Es folgen mehr oder weniger kurze Betrachtungen des Autors zur politischen Instrumentalisierung des Schachs, zur Einordnung als Sport, Spiel, Wissenschaft oder Kunst, zum Auftreten in Literatur und Film, zu Schachcomputern usw. bilden Appetitanreger auf Themen, die in späteren Kapiteln ausführlicher behandelt werden. Leider mit nur wenigen Zeilen bedacht ist das Thema Problemschach. Ich hätte es begrüsst, wenn der Autor diesem künstlerischen Zweig des Schachs an späterer Stelle etwas mehr Beachtung geschenkt hätte, zumal manch anderes Thema im Buch vergleichsweise ausführlich behandelt wird.1) Im Literaturverzeichnis wird “Die Schwalbe – Zeitschrift für Problemschach” angeführt, dieses Vereinsorgan ist aber vor allem für fortgeschrittene Problemfreunde geeignet, zudem erhält man die Zeitschrift nur regelmässig als Mitglied der Schwalbe, deutsche Vereinigung für Problemschach e.V.
Geschichte des Schachs

Vom mythen- und legendenumrankten Ursprung des Schachs im ostasiatischen Raum2) und der weiteren Ausbreitung des Spiels nach Europa führt uns der Autor sukzessive auf der Zeitachse voran: Von der Rolle des Schachs im Mittelalter, die Dynamisierung des Spiels durch die Metamorphose von Dame und Läufer in langschrittige Figuren gegen Ende des 15. Jahrhunderts und die weitere Entwicklung über Philidor bis ins 19. Jahrhundert. Wer über die teils konzise Darstellung hinaus weiter reichende Kenntnisse erwerben will, muss auf andere schachhistorische Werke zurückgreifen. Indes gilt dies analog für das gesamte Buch.
Die nachfolgenden Unterkapitel widmen sich der Zeit ab 1851 (erstes Schachturnier der Neuzeit in London) bis zur Gegenwart und damit den klassischen Schachweltmeistern von Wilhelm Steinitz bis Magnus Carlsen. Nicht berücksichtigt werden die FIDE-Weltmeister aus der Zeit des Schismas 1993 bis 2005. Gelegentlich nimmt der Autor die Gelegenheit wahr, Ereignisse der Vergangenheit etwas näher ins Visier zu nehmen: Zum Beispiel bei Aljechin, der 1941 mit antisemitischen Schriften gegen jüdische Schachspieler agitiert hat, wobei er u.a. auch einen Emanuel Lasker verunglimpfte. Bei der Lektüre dieser Passage ist dem Rezensenten der frappierende “Sinneswandel” aufgefallen, den Aljechin hier vollzogen hat. Denn letzterer hatte noch wenige Jahre zuvor (in Nottingham 1936) denselben Lasker mit Worten der Wertschätzung und aufrichtigen Bewunderung gewürdigt.3)
Leben und Denken des Schachspielers

Der Autor zeigt zunächst auf, warum Schach als Sport einzustufen ist, bespricht die diversen Formate von Turnieren und Wettkämpfen sowie Bedenkzeitregelungen. Das hier vermittelte fundamentale Wissen mag teilweise etwas trocken erscheinen, ist aber gerade für Einsteiger sehr wertvoll, um in den Schachmedien das Geschehen im nationalen oder internationalen Schachzirkus verfolgen zu können. Die finanziellen Einkunftsmöglichkeiten, insbesondere für diejenigen, die nicht den Top 100 zugehören, wirken ernüchternd. Das Ranglistensystem auf Basis der Elo-Zahlen wird ebenso erläutert wie die durch Erfüllung von Normen erzielbaren Titel für Männer und Frauen.
Im Unterkapitel “Training und Wettkampf” wird vor allem die immense Bedeutung hervorgehoben, die der Computer im Partieschach gewonnen hat: bei der Vorbereitung auf den Gegner, in der häuslichen Ausarbeitung von Eröffnungsneuerungen, bei der nachträglichen Analyse.4) Als Antidot für ein überhandnehmendes “Retortenschach” wird das auf Bobby Fischer zurückgehende Schach960 vorgeschlagen.
In “Die Gedanken eines Schachspielers: das Geheimnis von Spielstärke” widmet sich der Autor vornehmlich den drei schachspezifischen Fähigkeiten des Spielers: Dem (Theorie-)Wissen, der Rechenfähigkeit am Brett und dem Schachgefühl, der intuitiven Einschätzung von nicht exakt berechenbaren Stellungen. Zur Entwicklung der Schachlehre, insbesondere des Positionsspiels, schlägt der Autor einen grossen Bogen von Steinitz bis zu den Vertretern der Moderne, d.h. John Watson, Jonathan Rowson und Willy Hendriks mit ihren schachliterarischen Bestsellern. Der Autor beendet diesen Abschnitt mit der Betrachtung von drei kritischen Stellungen aus der 5. WM-Partie 2008, Kramnik – Anand.
Die letzten Schwerpunkte des Kapitels, “Psychologie, Doping und Computerbetrug” sowie “Genie” und “Wahnsinn”, sollen gleichfalls nur kurz erwähnt sein. Bei letzterem ist so manche Darstellung klischeebehaftet bzw. entbehrt der sachlichen Grundlage. Dass Schachspieler auch ausserhalb ihrer eigenen Sphäre zu herausragenden Leistungen imstande sein können (entgegen einer pauschalen Aussage Einsteins), belegt der Autor an einigen Beispielen.
Schach in der Gesellschaft
Unter der Überschrift “Schach im Alltag und in der Wissenschaft” bündelt der Autor vielfältige Themen, vom Schach in der Werbung über schachmathematische Probleme bis hin zu Schach in der Psychologie, Debatten über Talent und Lernen sowie dem Nutzen von Schach für die kindliche Entwicklung (Schach an Schulen). Ein eingestreuter ca. halbseitiger Exkurs zur heiligen Theresia von Ávila, einer mittelalterlichen Mystikerin, die posthum (1944) zur Schutzpatronin der Schachspieler avancierte, scheint dem Rezensenten im gegebenen Kontext allerdings entbehrlich.
In den Fokus des Autors rücken schliesslich “Lebensunfähige Genies und zynische Meisterdenker”, d.h. “Schach in Literatur, Film und Kunst”. Aus der Fülle der Schachbelletristik werden vier Werke selektiert und besprochen: Stefan Zweigs “Schachnovelle”, Vladimir Nabokovs “Lushins Verteidigung”, Thomas Glavinics “Carl Haffners Liebe zum Unentschieden” sowie “Die Schachspieler von Buenos Aires” von Ariel Magnus. – Schachszenen in Filmen gibt es unzählige, aber nur relativ wenige Filme, deren Handlung massgeblich vom Schach bestimmt wird – der Autor kann einige Beispiele benennen und kurz vorstellen. –
Im Abschnitt über bildende Kunst beleuchtet der Autor exemplarisch das “Reunion”-Projekt von Marcel Duchamp und John Cage, bei dem die Züge von Schachpartien in Musik transformiert werden. Vielleicht wäre hier noch die japanische Fluxus-Künstlerin Takako Saito eine Erwähnung wert gewesen, die sich in der Nachfolge von Duchamp wie kein(e) andere(r) um die Verbindung von Schach und Kunst (“Fluxchess”) bemüht und verdient gemacht hat.5)
Schach und die Gender-Frage
Mit “Ein brisantes Thema: Schach und Geschlechterbeziehungen” hat sich der Autor einem in der sonstigen Schachliteratur wenig bedachten Sujet angenommen, das in den Online-Medien immer wieder auftaucht und oft heftig disputiert wird, ohne dass ein übergreifender Konsens in Reichweite scheint.
Die “Drosophila der Künstlichen Intelligenz”: “Computerschach vom ‘Schachtürken’ bis zu AlphaZero” gibt hiernach einen Überblick über die Entwicklung des Computerschachs von der Geschichte über den “getürkten” Schachautomaten des Baron von Kempelen im 18. Jh. bis zum aufsehenerregenden jüngsten Produkt der technischen Entwicklung, dem selbstlernenden Programm AlphaZero bzw. dessen Open-Source-Variante “Leela”. Es ist noch nicht abzusehen, welche futuristischen Möglichkeiten der technischen Anwendung sich hieraus auch auf ausserschachlichen Feldern ergeben könnten.
Informativer Überblick
Insgesamt hat der Autor sein Anliegen, den Mikrokosmos des Schachs mit seinen vielfältigen Aspekten und Verknüpfungen zu anderen (kulturellen, gesellschaftlichen) Bereichen im Taschenbuchformat zu präsentieren, routiniert und sachkundig umgesetzt. Aus nicht allzu ferner Zeit fällt vor allem ein weiteres Buch mit vergleichbarer Zielsetzung – indes höherem Anspruch – ins Auge: Michael Ehn, Hugo Kastner: “Alles über Schach” (Hannover 2010), das aber aufgrund der unterschiedlichen Aufmachung (Format, Umfang, reichhaltige u. teils farbige Bebilderung) keinen echten Vergleich zulässt. Ähnliches gilt für das bereits 35 Jahre alte SCHACH – Spiel Sport Wissenschaft Kunst (hrsg. von Helmut Pfleger/Horst Metzing, Hamburg 1984), das natürlich in verschiedenen Teilen nicht mehr aktuell sein kann.
Sorgfältige Recherche
Die Fülle des Stoffs im vorliegenden Buch wurde vom Autor – soweit für den Rezensenten erkennbar – sorgfältig recherchiert und aufbereitet. Schwerpunktsetzung oder Gewichtung von Themen/Details sind der unvermeidbar subjektiven Wahl des Autors geschuldet, ich vermute, die Mehrzahl der Leser wird sich mit der getroffenen Auslese anfreunden können. Ein ernster Wermutstropfen bleibt die sehr spärliche Berücksichtigung des Kunstschachs. Ein wenig unterrepräsentiert ist auch das Gebiet der Schach-Varianten, wo lediglich das Schach960 angesprochen wird. Hier besteht bisweilen eine Überlappung mit dem Märchenschach (z.B. beim Räuberschach = Schlagschach).
Angenehmer Lesefluss
In Stil und Diktion ist das Buch ausgewogen und gut verständlich, so dass ein angenehmer Lesefluss resultiert. Von den 22 Abbildungen des Buchs entfallen 19 auf Schachdiagramme, hier hätte man die Attraktivität durch Aufnahme weiterer Illustrationen/Fotos noch etwas steigern können. Sachliche Fehler sind mir nicht aufgefallen, eine kleine Unstimmigkeit auf S. 67 bezüglich der Abb. 4 + 5 (“linke/rechte Stellung” statt richtig “obere/untere …”) ist kaum der Rede wert.
Das Verzeichnis “Literatur und Webseiten” (mit kurz kommentierten Literaturangaben) scheint mir etwas knapp bemessen und in der Auswahl nicht immer optimal. Vereinzelt könnte die genannte Literatur etwas aktueller sein, wie im Fall des schachhistorischen Werks von Joachim Petzold.
Im Buch unerwähnt bleiben andersartige Aktivitäten von Schachfreunden, die sich abseits des Kampfs am Brett abspielen und nicht immer meisterliche Spielstärke voraussetzen:
– Tätigkeit als Schachhistoriker, ferner als Autor von Büchern/Artikeln/Beiträgen (auch im Web);
– Sammler von (bibliophiler) Schachliteratur; von Schachfiguren/-sets; von Schach-Memorabilien oder Schachmotiv-Sammler, die alle in diversen (teils internationalen) Vereinen organisiert sind. ♦
Christian Mann: Schach – Die Welt auf 64 Feldern, 128 Seiten, C.H. Beck Verlag, ISBN 978 3 406 73970 5
1) Als eine empfehlenswerte Einführung in das Gebiet sei das Buch von Michael Ehn u. Hugo Kastner: Schachkompositionen (Hannover 2013) genannt, das alle Kategorien des Problemschachs einbezieht. Weitere Literatur für Einsteiger wurde in den einschlägigen Artikeln von Bernd Gräfrath (Schach 10/2018, S. 66-70) und Thomas Brand (Schach 12/2018, S. 66-70) besprochen.
2) Der letzte Stand der Urschachforschung ist zusammengefasst in Jean-Louis Cazaux and Rick Knowlton: A World of Chess – Its development and variations through centuries and civilizations. McFarland, Jefferson 2017
3) So schrieb Aljechin in seiner Turnierrückschau (Manchester Guardian, 29.08.1936): “Ich finde es fast unmöglich, Lasker zu kritisieren, derart ist meine Bewunderung für ihn, gleichermassen als Persönlichkeit, Künstler und treuer Anhänger des Schachs. Ich kann nur eins sagen, Lasker mit 67 ist immer noch Lasker, vielleicht nicht als praktischer Spieler, aber gewiss als Führer der Schachwelt, mit seiner ausgesprochen jugendlichen Energie, seinem Kampfgeist und der unvergleichlichen Tiefe seiner Auffassung der Probleme auf dem Brett. Sein Beispiel ist gleichsam ein Beispiel für unsere eigene Zeit wie für die Schachspieler kommender Generationen.” [Zitiert nach Forster/Hansen/Negele, Emanuel Lasker – Denker Weltenbürger Schachweltmeister. Berlin 2009, S. 49] – Eine aktualisierte Zusammenfassung der ganzen Affäre bietet z.B. Edward Winter mit seinem Feature article Was Alekhine a Nazi?
4) Übrigens hat der Computer auch im Problemschach erhebliche Relevanz erlangt, einmal zur Korrektheitsprüfung beim Komponieren (mit Hilfe spezieller Löseprogramme), andererseits um in riesigen Problemdatenbanken eventuelle Vorgänger von Aufgaben aufzuspüren. Mehr hierzu ist in dem jüngst erschienenen Buch von Wolfgang Dittmann (†): Der Flug der Schwalbe – Geschichte einer Problemschach-Vereinigung (Zweite Aufl. aktualisiert und ergänzt von Thomas Brand und Hans Gruber, München 2018) nachzulesen.
5) Die inzwischen 90-jährige Künstlerin, die in Düsseldorf lebt, ist immer noch künstlerisch aktiv. Literatur (Ausstellungskatalog): Takako Saito: Dreams To Do. Snoeck, Köln 2018.
Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schach-Geschichte auch über Gerhard Josten: Auf der SeidenStrasse zur Quelle des Schachs
… sowie zum Thema Schach-Psychologie über Marion Bönsch-Kauke: Klüger durch Schach