Edgar Rai: Halbschwergewicht (Roman)

Vom Opfer zum Täter

von Chris­tian Busch

Er stand vor dem Tor des Tege­ler Gefäng­nis­ses und war frei. […] Der schreck­li­che Augen­blick war gekom­men (schreck­lich, Franze, warum schreck­lich?), die vier Jahre waren um. Die schwar­zen, eiser­nen Tor­flü­gel, die er seit einem Jahr mit wach­sen­dem Wider­wil­len betrach­tet hatte [Wider­wil­len, warum Wider­wil­len?), waren hin­ter ihm geschlos­sen. Man setzte ihn wie­der aus. […] Die Strafe beginnt…”

…und mit ihr die Geschichte des Franz Biber­kopf in Alfred Döb­lins popu­lä­rem, bahn­bre­chen­dem Roman “Ber­lin Alex­an­der­platz” aus dem Jahre 1927.

Knapp 90 Jahre spä­ter befin­det sich der halb­schwer­ge­wich­tige Boxer Lucky alias Ste­fano Ferrante in der glei­chen Situa­tion, als er nach Ver­büs­sung sei­ner drei­ein­halb­jäh­ri­gen Haft­strafe wegen angeb­li­cher Ermor­dung einer Edel­pro­sti­tu­ier­ten die Ber­li­ner Jus­tiz­voll­zugs­an­stalt – aller­dings mit elek­tro­ni­scher Fuss­fes­sel – ver­las­sen darf. Und so prä­sen­tiert sich der neue Roman “Halb­schwer­ge­wicht” von Edgar Rai, dem viel­sei­ti­gen und immer für lite­ra­ri­sche Über­ra­schun­gen guten, in Ber­lin leben­den Autors, zunächst als – aller­dings leben­dig und unter­halt­sam gestal­tete – Sozialstudie.

Nicht ohne Klischees, aber in sich stimmig

Edgar Rai - Halbschwergewicht - Roman - Cover - Piper Verlag - Rezension Glarean MagazinLuckys ein wenig kli­schee­haf­tes, aber stim­mi­ges Schick­sal ist das eines früh ent­täusch­ten, vom Vater ver­las­se­nen und aus Arbei­ter­ver­hält­nis­sen stam­men­den Jun­gen, der sein Aggres­si­ons­po­ten­tial und sein Talent im Boxen ent­deckt und trotz für­sorg­li­cher Betreu­ung durch sei­nen Trai­ner Hel­mut in fal­sche Kreise und Milieus gerät. Als er sich in Yvonne ver­liebt, ver­liert er voll­ends die Über­sicht, so dass seine kri­mi­nelle Umge­bung in Gestalt von Nino und Mar­cello ihn aufs Kreuz legt, indem sie ihm Yvonne aus­span­nen und ihm einen Mord an der attrak­ti­ven, halb­sei­di­gen Dja­mila anhän­gen. Zu allem Unglück hatte er sich in sei­nem letz­ten Kampf eine auch noch abge­spro­chene Nie­der­lage durch K.O. ein­ge­han­delt. So Lucky Loo­sers ers­ter Weg zu Hel­mut, von dem er sich Hilfe und Auf­klä­rung der Ereig­nisse von damals erhofft. Doch bevor es zum Gespräch kommt, liegt Hel­mut von einer Kugel getrof­fen tot auf dem Tisch – und steht Lucky mit sei­ner ver­beul­ten Visage und stot­tern­dem Wesen als drin­gend Tat­ver­däch­ti­ger schon wie­der in äus­sers­ter Bedrängnis.

Zwischen Roman und Krimi

FAZIT: Der neue Roman von Edgar Rai: Halb­schwer­ge­wicht knüpft nur im ers­ten Teil an Döb­lins epo­cha­len Gross­stadt­ro­man und Sit­ten­ge­mälde an, den­noch gelingt ihm ein unter­halt­sa­mer, fes­seln­der, ver­schie­dene Gen­res gekonnt mischen­der Roman, der beson­ders auf­grund sei­ner cine­as­ti­schen Visua­li­tät und mensch­li­chen Nähe zu sei­nen Figu­ren überzeugt.

Doch wenn der per­so­nale Erzäh­ler dann in die Rolle des 27-jäh­ri­gen Kri­mi­nalas­sis­ten­ten Flo­rian Sei­bold schlüpft, ver­wan­delt sich der Roman in eine Kri­mi­nal­ge­schichte. Sei­bold und seine deut­lich ältere, aber unge­mein attrak­tive Che­fin Frau von Engel­brecht beschäf­ti­gen sich nun mit der Fahn­dung nach Lucky und den in der Folge pas­sie­ren­den Ereig­nis­sen, deren Auf­klä­rung sie auch – und das ist viel­leicht das gelun­genste am Roman – per­sön­lich ein­an­der immer näher kom­men lässt. Diese geschickte Dop­pel­per­spek­tive lässt den Leser nun immer schwan­ken zwi­schen der Sorge um das Schick­sal des armen Preis­bo­xers und dem Gefal­len an den sym­pa­thi­schen, um die Lösung des mys­te­riö­sen Fal­les bemüh­ten Kriminalbeamten.

Ein Hauch von Gaunerromantik

Autor Edgar Rai in einer öffentlichen Bücherlesung (Glarean Magazin)
Autor Edgar Rai in einer öffent­li­chen Bücherlesung

Es folgt Luckys tur­bu­lente und man­che Über­ra­schung bie­tende Gross­stadt­odys­see, die zunächst zum see­len­ver­wand­ten Mau­er­blüm­chen Babsi, dann aber in Box- , Rot­licht- und Gold­kett­chen-Milieu führt. Luckys wun­der­same Wand­lung vom pas­si­ven Opfer­lamm zum kühl kal­ku­lie­ren­den Akteur erlebt der Leser par­al­lel zur holp­ri­gen, von gegen­sei­ti­gen Anzie­hungs­kräf­ten flan­kie­ren Unter­su­chungs­ar­beit des Kom­mis­sar-Duos. Das ist stets unter­halt­sam und – wie man es vom Autor längst gewohnt ist – bes­tens in sze­nisch-visu­el­ler Manier auf­be­rei­tet, so dass man sich als Leser wie im Kino fühlt. Das Ganze kul­mi­niert in der orgi­as­ti­schen Szene, in wel­cher dem von Koks, Via­gra und Alko­hol voll­ge­pump­ten Mar­cello beim befoh­le­nen Vögeln von Yvonne eine Kugel die Gehirn­masse aus dem Kopf quil­len lässt. Längst ist aus dem als Sozi­al­stu­die begin­nen­den und als Krimi fort­ge­setz­ten Roman ein Action-Thril­ler gewor­den, des­sen flott kom­po­nier­tes Ende durch­aus mora­li­sche Beden­ken auf­kom­men las­sen könnte.
Am Ende weht jedoch ein Hauch von Gau­ner­ro­man­tik über dem Roman, wel­cher den Leser die Gren­zen sei­ner Frei­heit ein Stück wei­ter set­zen lässt als viel­leicht mora­lisch üblich – Tschick lässt grüssen!

Edgar Rai: Halb­schwer­ge­wicht – Roman, 272 Sei­ten, Piper Ver­lag, ISBN 978-3-492-05885-8

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