Die These, dass wir in der Musik vor allem eine Bestätigung unserer Erwartungen suchen, wird einige Musikfans vielleicht erst einmal erstaunen. Ist die Musikindustrie nicht geprägt von der Jagd nach dem immer Neuen? Nach neuen Stars und Sternchen, nach dem nächsten Hit? Sind die eingefleischtesten Enthusiasten nicht immer auf der Suche nach der heissesten Newcomer-Band, nach dem neuesten Sound?
Wohl wahr – aber der Zwang zur ständigen Rotation in den Hitparaden ist zunächst einmal ein wirtschaftlicher. Tatsächlich bieten die Plattenfirmen ihren Kunden zu 99 Prozent mehr von dem an, was sie schon mögen: die neue Platte des schon bekannten Sängers, der – Gott bewahre! – möglichst keine stilistischen Experimente macht, sondern die in ihn gesetzten Erwartungen bedient. Künstler wie Neil Young, Joni Mitchell oder Prince haben schon Ärger mit ihren Labels bekommen, weil ihre neuesten Aufnahmen nicht dem Stil entsprachen, den das Publikum angeblich erwartete. Die Radiosender spielen zunehmend nur noch “die grössten Hits der 8oer, 9oer (und das Beste von heute)”.
Die meisten Laien hören auch irgendwann auf, den neuesten Trends zu folgen, und richten sich in ihrem musikalischen Lieblingsgenre gemütlich ein. Und die Fans der klassischen Musik erfreuen sich an einem Kanon von Kompositionen, der in den letzten hundert Jahren kaum ergänzt worden ist.
Aber natürlich hat die Überraschung ihren Platz in der Musik. Wir wollen beim Training unseres Zukunftssinns ja auch herausgefordert werden. Musik, die alle Erwartungen zuverlässig bedient, ist langweilig und allenfalls als Fahrstuhl- oder “Ambient”-Musik einsetzbar.
Musiker haben unterschiedliche Mittel, für Überraschungen zu sorgen, ihnen stehen dazu alle Parameter der Musik zur Verfügung: Melodie, Rhythmus, Harmonie, Klangfarbe. Als Bob Dylan beim Newport Folk Festival 1965 seine akustische Gitarre gegen eine elektrische tauschte, vom Folk zum Rock wechselte und damit seinen Sound entscheidend veränderte, erregte das grosses Aufsehen, ein Teil seiner alten Fans wollte diese Abkehr vom Gewohnten nicht nachvollziehen und wandte sich von ihm ab. Die Beatles verletzen in ihren Songs ständig Konventionen: metrische in Yesterday (das Thema hat die krumme Zahl von sieben Takten), melodische (For No One endet nicht auf dem Grundton, sondern auf der 5. Stufe), harmonische (der Dur-Akkord der 4. Stufe wird häufig gegen einen Moll-Akkord ausgetauscht, etwa in Michelle). In der klassischen Musik ist der sogenannte Trugschluss ein beliebtes Mittel, den Hörer kurzfristig an der Nase herumzuführen: Statt zum Grundakkord führt die harmonische Wendung zum parallelen Moll-Akkord (zum Beispiel A-Moll statt C-Dur), das Stück kann damit noch nicht enden, und so folgt eine weitere Kadenz von Harmonien bis zum erlösenden Grundakkord.
Solche Kadenzen, also harmonische und melodische Wendungen, haben selbst die simpelsten Kompositionen. Jede Harmonie, die nicht dem Grundakkord entspricht, führt weg vom Gleichgewicht, sie macht deutlich: Hier kann das Stück nicht aufhören, es muss irgendwie weitergehen. Manche dieser Harmonien und manche Melodien erzeugen besonders stark das, was die Musiker “Spannung” nennen, eine Situation, in der der Hörer sich nach einer Auflösung sehnt.
David Huron hat die Psychologie der Erwartung in eine Theorie gefasst, die er ITPRA nennt (von den englischen Wörtern imagination, tension, prediction, response und appraisal). Eine Theorie, die nicht nur für die Musik gilt, aber insbesondere dafür anwendbar ist:
I: In der lmaginationsphase stellen wir uns vor, wie eine Situation ausgehen könnte, imaginieren die Gefühle, die das bei uns auslösen würde, und die möglichen Reaktionen darauf.
T: Die Spannung steigt. Unser Körper bereitet sich auf mögliche Reaktionen vor (Flucht? Angriff?), die Muskeln werden angespannt, allgemein steigt unsere Aufmerksamkeit.
P: Nachdem das Ereignis eingetreten ist, bewerten wir unsere Vorhersage: War sie korrekt, oder ist alles ganz anders gekommen? Entsprechend ist die emotionale Antwort positiv oder negativ.
R: Nun gilt es zu reagieren. Die erste Reaktion ist spontan und unbewusst, also zum Beispiel das Aufstellen der Nackenhaare oder ein Fluchtreflex. Wir können sie nicht steuern, und es ist sehr schwierig, einmal gelernte Reflexe wieder abzulegen.
A: Erst mit einer gewissen Verzögerung bewerten wir die Situation und kommen zum Beispiel zu der Einschätzung, dass eigentlich alles ein blinder Alarm und der Fluchtreflex völlig überzogen war. In dieser Phase lernen wir auch für die Zukunft, sie bestimmt letztlich, wie wir das gesamte Ereignis emotional bewerten.
So können wir zum Beispiel eine Achterbahnfahrt, während der wir tausend Ängste auszustehen hatten, letztlich als lustvoll beurteilen – “Nochmal!” ruft das Kind. Und natürlich gilt für die Musik praktisch immer, dass das Hörerlebnis im Nachhinein als aufregend, aber ungefährlich bewertet wird.
Was folgt aus der Theorie der Erwartung für Musiker und Komponisten? Dass sie gut daran tun, die Mechanismen zu verstehen, die sie bei ihren Hörern auslösen. Es muss ja nicht das Ziel der Musik sein, “gute” Gefühle zu erzeugen. Ein grosser Teil der Musik des 20. Jahrhunderts war, nicht zuletzt durch die katastrophalen Erfahrungen zweier Weltkriege, auch darauf gerichtet, ein gewisses Unwohlsein auszulösen, “negative” Emotionen, unaufgelöste Spannungen. Das darf Kunst natürlich – sie darf schocken, ängstigen, sogar beleidigen. Und natürlich sind die Erwartungen des Publikums nichts Statisches: allein dadurch, dass man gewissen Klängen ausgesetzt ist, fügt man sie seinem inneren “musikalischen Lexikon” hinzu, und beim nächsten Hören sind sie schon gar nicht mehr so fremd.
Die Vorstellung allerdings, man könne das Publikum musikalisch umerziehen und dazu bringen, Zwölftonmusik auf der Strasse zu pfeifen, muss irrig bleiben, dazu ist unsere biologische Sucht nach der Erfüllung unserer Erwartungen einfach zu gross. ♦
Aus Christoph Drösser: Hast du Töne? – Warum wir alle musikalisch sind, Rowohlt Verlag 2009