Kent Nagano: Erwarten Sie Wunder! (Klassik)

Die Rettung der Klassik

von Christian Busch

Expect the Unextpected”

Die Klänge der Eröff­nungs­kon­zerte der neuen Pari­ser Phil­har­mo­nie via ARTE noch im Ohr, weiss man in der Welt der Klas­si­schen Musik schon lange, wel­che Töne ange­schla­gen wer­den müs­sen. Längst ist die Zeit der eit­len und sich um sich selbst und die Grün­dung immer neuer Plat­ten­fir­men und Ver­mark­tungs-Stra­te­gien dre­hen­den Star­di­ri­gen­ten vor­bei. Boomte die Klas­sik in den 80er und 90er Jah­ren noch dank der neuen digi­ta­len CD-Schei­ben mit ihrem viel trans­pa­ren­te­ren und hör­freund­li­chen Klang­bild, gehen die Nach­fah­ren von Beet­ho­ven & Co. an vie­len Orten längst am Stock.

Kent Nagano - Erwarten Sie Wunder - Cover - Berlin VerlagIn den Zei­ten knap­per Kas­sen und all­ge­gen­wär­ti­gem Mul­ti­me­dia-Rausch müs­sen die Lieb­ha­ber kom­ple­xer fili­gra­ner Orches­ter­kul­tur mit­un­ter gesucht wer­den wie die berühmte Steck­na­del im Heu­hau­fen. Das Durch­schnitts­al­ter in den Kon­zert­sä­len steigt bedroh­lich und dege­ne­riert zur exklu­si­ven Mati­née für Betagte und Betuchte. Da wird ein fast 400 Mil­lio­nen schwe­res Pro­jekt wie das der Pari­ser Phil­har­mo­nie, wel­ches das städ­ti­sche Orches­ter von sei­ner ange­stamm­ten – nahe dem Arc de Triom­phe gele­ge­nen – Salle Pleyel ver­treibt, auch schon mal in die sub­ur­bane Zone des Parc de la Vil­lette ver­la­gert, in die schon fast pre­kär zu nen­nende soziale Rand­zone, wo jüngst die Atten­tä­ter von “Char­lie Hebdo” ihr Flucht­auto wech­sel­ten. Und statt der VIP-Zone legt man jetzt Wert auf ein Lern­zen­trum “Abtei­lung Edu­ca­tion”, in der kul­tu­relle Brü­cken zu Schu­len und bil­dungs­fer­nen Schich­ten geschla­gen wer­den sol­len. Ist die Lage wirk­lich so ernst?

Wirtschafts- und Sinnkrise

In dem jüngst erschie­ne­nen Buch “Expect the unex­pec­ted!” (“Erwar­ten Sie Wun­der”) behan­delt der ame­ri­ka­ni­sche Diri­gent Kent Nagano, unter­stützt von der Koau­to­rin Inge Kloep­fer, mit sozio­lo­gi­schen Sach­ver­stand genau die­ses Pro­blem der schwin­den­den Stel­lung der klas­si­schen Musik im Kul­tur­le­ben. Aus unmit­tel­ba­rer Nähe berich­tet er am Bei­spiel von Detroit vom Nie­der­gang der nord­ame­ri­ka­ni­schen Orches­ter­land­schaft und den fata­len Fol­gen für die kul­tu­relle Ent­wick­lung in den Städ­ten. Er empört sich gegen die scho­nungs­lose Aus­brei­tung von Mate­ria­lis­mus, Kon­su­mis­mus und rei­nem Uti­li­ta­ris­mus in der west­li­chen Zivi­li­sa­tion, wel­che in der PISA-Stu­die ihren deut­lichs­ten bil­dungs­po­li­ti­schen Nie­der­schlag fin­det: Was zählt, sind Fähig­kei­ten, die den Men­schen auf ihren funk­tio­na­len Nut­zen redu­zie­ren. Fächer wie Kunst und Musik, wel­che Krea­ti­vi­tät, Vor­stel­lungs­ver­mö­gen und Inspi­ra­tion för­dern, kom­men dort nicht vor. Dabei steht schon im Mat­thäus-Evan­ge­lium: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.

Rückbesinnung auf die Klassik

Er zeigt an vie­len Bei­spie­len sei­ner lang­jäh­ri­gen, inten­si­ven und frucht­ba­ren Aus­ein­an­der-set­zung mit den unsterb­li­chen Wer­ken auf, dass die schö­nen Künste vor dem Hin­ter­grund eines gene­rel­len Wer­te­wan­dels in den west­li­chen Indus­trie­län­dern eine Ant­wort auf die Sinn­krise dar­stel­len: “Sie […] machen den All­tag mehr als nur erträg­lich. Sie inspi­rie­ren uns, öff­nen den Geist. Sie hel­fen uns, Unbe­greif­li­ches und Uner­träg­li­ches anzu­neh­men und als Teil unse­res Lebens zu akzep­tie­ren, dar­aus Kraft zu schöp­fen und nicht daran zu ver­zwei­feln.” Dabei erweist er sich als ener­gi­scher und nim­mer­mü­der Ver­fech­ter der Quel­len mensch­li­cher Inspi­ra­tion., der längst begrif­fen hat, dass heute die wich­tigste Auf­gabe der Diri­gen­ten und Inten­dan­ten nicht in der Selbst­ver­wirk­li­chung ego­is­ti­scher Eitel­kei­ten besteht, son­dern in der Ver­mitt­lung zwi­schen Kunst­werk und Publi­kum: “Nen­nen Sie mich jetzt einen Träu­mer, einen Uto­pis­ten, wenn ich mir wün­sche, dass ein jeder in sei­nem Leben unab­hän­gig von Bil­dungs­stand und Her­kunft die sinn­stif­tende Kraft der Kunst erfah­ren kön­nen soll.”

Kindheit ohne neue Medien

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Zwei­fel­los ist Kent Naga­nos Klas­sik-Plä­doyer “Erwar­ten Sie Wun­der” das rich­tige Buch zur rech­ten Zeit – in sei­ner gesell­schafts­po­li­ti­schen Ver­ant­wor­tung weit­rei­chend, in sei­nen Ziel­set­zun­gen ehr­gei­zig. Den Autoren gebüh­ren Dank und Beachtung!

So beginnt Nagano seine Aus­füh­run­gen in sei­ner Kind­heit an und erzählt von den Anfän­gen in Morro Bay, einem in den 50er Jah­ren mul­ti­kul­tu­rell besie­del­ten Fischer­dorf an der kali­for­ni­schen Pazi­fik­küste, und von sei­nem ers­ten musi­ka­li­schen Erzie­her, dem Pro­fes­sor Koris­heli. Im Vor­der­grund ste­hen dabei von Beginn an nie per­sön­li­che Erfolge, öffent­li­che Aner­ken­nun­gen oder gar Preis­ver­lei­hun­gen, son­dern stets die unge­trübte Freude am gemein­schaft­li­chen Musi­zie­ren, am Gemein­sinn stif­ten­den Kon­zert- oder Pro­ben­er­leb­nis, bei dem Kon­flikte und Unter­schiede an Bedeu­tung ver­lo­ren: “Alle Men­schen wer­den Brü­der, wo dein sanf­ter Flü­gel weilt”. Wel­che Zeit hätte des­sen nicht bedurft, so könnte man fra­gen – lie­fert Nagano hier doch einen ent­schie­de­nen Gegen­ent­wurf zu den stets von mani­pu­la­ti­ver Spra­che der Medien und leicht kon­su­mier­ba­rer Unter­hal­tungs­elek­tro­nik gepräg­ten aktu­el­len Kultur-Landschaft.

Strauss’ “Heldenleben” in der Eishockey-Arena

Hier und da blit­zen die Erfah­run­gen aus sei­nen vie­len Sta­tio­nen (Lyon, Man­ches­ter, Los Ange­les, Ber­lin, Mün­chen, Mont­real, Ham­burg) auf, offen­bart er den Lesern in ein­ge­streu­ten Inter­mezzi sei­nen eige­nen Zugang zu den gros­sen Kom­po­nis­ten, von Bach, Beet­ho­ven und Bruck­ner bis zu Schön­berg, Mes­siaen, Ives und Bern­stein. Wenn er über das Rät­sel­hafte in Beet­ho­vens ach­ter Sym­pho­nie spricht, ent­hüllt sich neben­bei: Der Weg ist das Ziel, das auch unge­wöhn­li­che Wege recht­fer­tigt, indem Nagano mit sei­nem OSM (Orchestre sym­pho­ni­que de Mont­real) volks­nah in der Eis­ho­ckey-Arena Richard Strauss’ “Hel­den­le­ben” prä­sen­tiert. Abge­run­det wird sein Auf­ruf durch die Gesprä­che mit Zeit­ge­nos­sen wie Hel­mut Schmidt (Poli­tik), Kar­di­nal R. Marx (Kir­che), Yann Matei (Lite­ra­tur), Julie Pay­ette (Wis­sen­schaft) und Wil­liam Fried­kin (Film). Was letz­te­rer über Beet­ho­vens Sym­pho­nien sagt, gilt für die ganze Klas­sik: “Wer ein­mal […] die Tiefe der Musik erah­nen konnte, wird sich ein Leben lang nach die­ser Erfah­rung seh­nen. Es wird ihn immer wie­der dort­hin zurückziehen.”
Zwei­fel­los ist Kent Naga­nos Klas­sik-Plä­doyer “Erwar­ten Sie Wun­der” das rich­tige Buch zur rech­ten Zeit – in sei­ner gesell­schafts­po­li­ti­schen Ver­ant­wor­tung weit­rei­chend, in sei­nen Ziel­set­zun­gen ehr­gei­zig. Den Autoren gebüh­ren Dank und Beachtung! ♦

Kent Nagano (Inge Kloep­fer): Erwar­ten Sie Wun­der – Expect the Unex­pec­ted, Ber­lin Ver­lag, 320 Sei­ten, ISBN 978-3827012333

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema “Klas­sik” auch über Ingo Har­den: Klas­si­sche Musik

Außer­dem zum Thema Klas­si­ker über das Beet­ho­ven-Album des Pia­nis­ten See Siang Wong: “Fan­ta­sia”

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