Anne Carson: Decreation (Gedichte – Oper – Essays)

Die Liebe ist immer du

von Günter Nawe

Den Ti­tel ih­res neu­en Bu­ches hat die ka­na­di­sche Au­torin Anne Carson von der fran­zö­si­schen Phi­lo­so­phin Si­mo­ne Weil über­nom­men. Für Weil – sie hat die­sen Be­griff ge­prägt –, von der sich die Carson stark be­ein­flusst sieht, be­deu­tet „dé­créa­ti­on“ ei­ner­seits Ana­ly­se der Selbst­re­fle­xi­on des Men­schen und zu­gleich „Rück­schöp­fung“, also eine „Ent-Schaf­fung“; an­ders: al­les Er­schaf­fe­ne noch ein­mal ins Un­er­schaf­fe­ne zu überführen.

Im Kontext der Simone Weil

Anne Carson: Decreation - Gedichte, Oper, Essays (S. Fischer Verlag)Aus die­sem phi­los­phisch-re­li­giö­sen Ge­dan­ken­gut und in die­sem Kon­text der Si­mo­ne Weil speist sich im We­sent­li­chen die Li­te­ra­tur der Anne Carson – vor al­lem, was das neue Buch „Dé­créa­ti­on“ be­trifft. Es ent­hält Ge­dich­te, Es­says und ein Opern­li­bret­to (nicht zu ver­glei­chen mit ei­nem her­kömm­li­chen Li­bret­to). Sehr un­ter­schied­li­che Spiel­ar­ten der Li­te­ra­tur also, die je­doch bei Anne Carson in ih­rem In­ners­ten zu­sam­men­hän­gen. Auch der Ly­ri­ke­rin geht es dar­um, eine Art „Rück-schöp­fung“ zu „in­sze­nie­ren“, in­dem sie ihre Vor­stel­lung da­von als Fra­ge for­mu­liert. Und dies Gen­re-über­grei­fend, so­zu­sa­gen als Brückenschläge.
So in den Ge­dich­ten, die vor al­lem ih­rer Mut­ter ge­wid­met sind. Sie ist „die Lie­be mei­nes Le­bens“. Mit ihr re­det sie in ih­ren Ver­sen: „Wenn ich mit mei­ner Muter spre­che, ma­che ich es schön…“. Von ihr hat die Dich­te­rin ge­lernt: „Die letz­te Lek­ti­on ei­ner Mut­ter in ei­nem Haus im letz­ten Licht / bringt den Ruin der Welt und den Han­del zum Er­lie­gen…“. „Die­se Stär­ke, Mut­ter: her­vor­ge­wühlt. Ge­häm­mert, ge­ket­tet, / ge­schwärzt, ge­sprengt, heult, holt aus…“.

Poetische Klangkraft, intensive Sprache

Die Dichterin an einer Lesung in Minneapolis/USA (2011)
Die Dich­te­rin an ei­ner Le­sung in Minneapolis/USA (2011)

Anne Carson, 1950 in To­ron­to ge­bo­ren, ist im deut­schen Sprach­raum bis­her durch die Bü­cher „Glas, Iro­nie und Gott“ (Ge­dich­te, 2000) und „Rot: Ein Ro­man in Ver­sen“ (2001) be­kannt ge­wor­den  Jetzt also „Dé­créa­ti­on“, und im Herbst wird der Band „An­thro­po­lo­gie des Was­sers“ er­schei­nen. Alle Bü­cher die­ser Dich­te­rin über­zeu­gen durch die Klang- und Aus­sa­ge­kraft ih­rer Poe­sie, durch die In­ten­si­tät ihre Spra­che, durch den Ver­zicht auf jeg­li­ches Pa­thos und die Band­brei­te ih­rer The­men. Gros­ses Lob an die­ser Stel­le für Anja Ut­ler, die „De­crea­ti­on“ aus dem Ame­ri­ka­ni­schen sehr fein­füh­lig ins Deut­sche über­setzt hat. „De­crea­ti­on“ ist so eine wei­te­re Mög­lich­keit, ein Ver­such der An­nä­he­rung an eine der be­deu­tends­ten Ly­ri­ke­rin­nen un­se­rer Zeit.
Die ly­ri­sche Dik­ti­on die­ser Au­torin ist oft ex­pe­ri­men­tell – auch von der for­ma­len Struk­tur der Ge­dich­te her.  Ihr poe­ti­sches Cre­do: „Du kannst nie ge­nug wis­sen, nie ge­nug ar­bei­ten, nie­mals die In­fi­ni­ti­ve und Par­ti­zi­pi­en auf ge­nü­gend be­fremd­li­che Art ver­wen­den, nie die Be­we­gung brüsk ge­nug aus­brem­sen, nie den Geist schnell ge­nug hin­ter dir las­sen.“ Das gilt – her­vor­ra­gend um­ge­setzt –  für die Ver­se, für ihre Es­says und das Opern­li­bret­to:  zu­sam­men­ge­fasst in die­sem wun­der­schö­nen Band.
In dem klei­nen Text „Je­des Ab­ge­hen ist ein An­fang“ de­kli­niert Anne Carson zum Bei­spiel die ver­schie­de­nen Les­ar­ten des Schlafs. Und be­müht da­bei Aris­to­te­les, Kant und Keats, um sich am Ende aus­führ­lich Vir­gi­nia Woolf zu wid­men. Und so le­sen wir „O zar­ter Sal­ber stil­ler Mit­ter­nacht… Be­schütz mich dann, dass nicht der Tag er­neut / Aufs Kis­sen scheint, der mich so lei­den liess; …“.

Die Liebe im Fokus

„Dé­créa­ti­on“ ist ein aus­ser­ge­wöhn­li­ches Buch ei­ner aus­ser­ge­wöhn­li­chen Dich­te­rin. Klug, an­re­gend und vol­ler sub­li­mer Er­kennt­nis­se. Anne Carson ge­hört zwei­fel­los zu den be­deu­tends­ten zeit­ge­nös­si­schen Ly­ri­ke­rin­nen – und „De­crea­ti­on“ ist bis jetzt ei­nes ih­rer wich­tigs­ten Werke.

Ihr gross­ar­ti­ger Es­say „De­crea­ti­on – Wie Sap­pho, Mar­gue­ri­te Po­re­te und Si­mo­ne Weil Gott sa­gen“ setzt die ge­lern­te Grä­zis­tin sich mit drei gros­sen Frau­en und ih­ren „spi­ri­tu­el­len Er­leb­nis­sen“ aus­ein­an­der. Sap­pho, die die Lie­be pries und die­sen Lob­preis der Göt­tin Aphro­di­te weih­te; Mar­gue­ri­te Po­re­te hat über die Lie­be Got­tes ge­schrie­ben und wur­de da­für 1310 als Ket­ze­rin ver­bannt; Si­mo­ne Weil, die „Er­fin­de­rin“ des Be­griffs der „dé­créa­ti­on“, Alt­phi­lo­lo­gin und Phi­lo­so­phin hat­te, wie die Carson schreibt, „ein Pro­gramm, mit dem sie ihr Selbst aus dem Weg schaf­fen woll­te, um zu Gott zu ge­lan­gen. Um Lie­be also geht es die­sen drei Frau­en, um Lie­be auch geht es auch Anne Carson. Auch im Opern­text, der eben­falls den Ti­tel „De­crea­ti­on“ trägt. So lässt sie He­phais­tos sin­gen: „Die Lie­be ist im­mer du, / wenn sie frisch ist. / Wenn du da bist, wenn sie frisch ist, wenn sie frisch ist, wenn du da bist, / die Lie­be ist im­mer, / im­mer / wenn du da bist.“. Oder, wenn im 3. Teil des Li­bret­tos Si­mo­ne die „Arie des Rück­schöp­fens“ singt.
Und um „Er­ha­be­nes“, ei­ner Art Ge­dicht­zy­klus, in dem die Au­torin in teil­wei­se enig­ma­ti­sche „Ver­sen“ Kant eine Fra­ge zu Mo­ni­ca Vitti stel­len  und Lon­gi­nus von An­to­nio­ni träu­men lässt.
Was aber ist die­ses Er­ha­be­ne, was ist die See­le und wel­cher Schlaf ist Be­frei­ung vom Selbst? Zu er­fah­ren viel­leicht im Ge­spräch mit Gott, das wie Si­mo­ne Weil auf an­de­re Art auch Anne Carson führt. Es ist ein na­he­zu un­durch­dring­li­ches Ge­flecht, das Anne Carson an­bie­tet. Für den Le­ser aber, der sich le­send an die „Ent­flech­tung“ wagt, ein un­end­li­cher Gewinn. ♦

Anne Carson: De­crea­ti­on – Ge­dich­te, Oper, Es­says, 250 Sei­ten, S. Fi­scher Ver­lag, ISBN 978-3-10-010243-0

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