Literatur- und Musik-Novitäten – kurz belichtet

Bemerkenswerte neue Bücher

von Wal­ter Eigenmann

Péter Nádas: Aufleuchtende Details (Memoiren)

Der un­ga­ri­sche Schrift­stel­ler und Pho­to­graph Pé­ter Ná­das zählt nicht nur zu den pro­duk­tivs­ten und viel­sei­tig dis­ku­tier­ten, son­dern auch zu den häu­figst ge­ehr­ten Au­toren der Ge­gen­wart. Sein vor­zugs­wei­se er­zäh­len­des Werk so­wohl in Kurz­pro­sa- wie in Ro­man-Form eben­so wie sein be­deu­ten­des es­say­is­ti­sches Schrei­ben kreist ei­ner­seits um den exis­ten­ti­el­len Ein­zel­nen in ge­sell­schaft­lich de­for­mie­ren­den Sys­te­men – bei­spiels­wei­se dem Kom­mu­nis­mus -, an­der­seits be­han­delt es die in­di­vi­du­ell tra­gisch er­fah­re­ne Ge­fähr­dung des Le­bens durch Krank­heit und Tod (bei­spiels­wei­se in “Der ei­ge­ne Tod”).

Stilistische Virtuosität und philosophische Reflexion

In ei­nem um­fang­rei­chen Kon­vo­lut von bei­na­he 1’300 Sei­ten brei­tet Na­das nun un­ter dem Ti­tel “Auf­leuch­ten­de De­tails” in ge­ra­de­zu ful­mi­nan­ter, um nicht zu sa­gen: mons­trö­ser Epik die po­li­ti­schen, kul­tu­rel­len und ge­sell­schaft­li­chen Ver­wer­fun­gen prak­tisch des ge­sam­ten letz­ten Jahr­hun­derts aus. Of­fi­zi­ell nen­nen sich die­se “Le­bens­er­in­ne­run­gen” Me­moi­ren, doch wie sein schrift­stel­le­ri­sches Oeu­vre sind sie durch­drun­gen von gross­ar­ti­ger sti­lis­ti­scher Vir­tuo­si­tät eben­so wie von phi­lo­so­phi­scher Reflexion.
Der aus­drück­li­chen In­ten­ti­on des Au­tors nach sind die “Auf­leuch­ten­den De­tails” je­den­falls zwar ein­dring­lich nar­ra­tiv, doch gleich­zei­tig ge­meint als eine Ab­kehr von al­ler Fik­ti­on und eine Hin­wen­dung zur ge­ra­de­zu en­zy­klo­pä­di­schen Auf­ar­bei­tung sei­ner per­sön­li­chen (un­ga­ri­schen) Fa­mi­li­en­sa­ga in ei­nem be­wun­derns­wer­ten Er­in­ne­rungs-Spie­gel, der zwei Welt­krie­ge und die gros­sen Um­wäl­zun­gen der Mo­der­ne beinhaltet.

Abwendung von der Ich-Aufgeblasenheit der aktuellen Epoche

In der “ZEIT” fass­te die Li­te­ra­tur-Ko­lum­nis­tin Iris Ra­disch, die mit Na­das ein Ge­spräch führ­te, die­se Ziel­set­zung des Schrift­stel­lers fol­gen­der­mas­sen zu­sam­men (Zi­tat):
[Es] “ent­stand der Wunsch, end­lich auf das Fik­ti­ve zu ver­zich­ten und das schrift­stel­le­ri­sche Ego zu eli­mi­nie­ren. Er sagt das mit sei­ner wun­der­bar be­ben­den Ruhe in die­ser Vor­buch­mes­sen-Stil­le: ‘Sich von der schrift­stel­le­ri­schen Ei­tel­keit zu be­frei­en ist ein gros­ses Er­leb­nis.’ Die Ich-Auf­ge­bla­sen­heit der ak­tu­el­len Epo­che, in der die Selbst­ver­wirk­li­chung von Mil­lio­nen so­ge­nann­ter In­di­vi­du­en der letz­te ver­blie­be­ne Le­bens­sinn ist, hält er für eine Ver­ir­rung. In sei­nen Me­moi­ren woll­te er her­aus­fin­den, ‘wie ich bin ohne mein Ich’, woll­te die Grund­mau­ern des Be­wusst­seins er­kun­den, in de­nen sich die Ver­gan­gen­heit in Form von Tat­sa­chen ab­ge­la­gert hat, ‘an de­nen man nicht rüt­teln kann’.” ♦

Pé­ter Ná­das: Auf­leuch­ten­de De­tails, Me­moi­ren ei­nes Er­zäh­lers, 1’280 Sei­ten, Ro­wohlt Ver­lag, ISBN 978-3-498-04697-2

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Ro­man von Ken Fol­lett: Win­ter der Welt


Zürcher Festspiel-Symposium 2016: Das Groteske und die Musik der Moderne

Mit Bei­trä­gen der Mu­sik­theo­re­ti­ker und -his­to­ri­ker Cord-Fried­rich Berg­hahn, Fe­der­i­co Ce­les­ti­ni, Mark De­lae­re, An­dre­as Dorsch, Fried­rich Gei­ger, Inga Mai Groo­te, An­dre­as Ja­cob und Mi­cha­el Mey­er rückt eine Es­say-Samm­lung des Zür­cher Fest­spiel-Sym­po­si­ums 2016 ein Phä­no­men in den Fo­kus, das sei­nen Aus­gang an­fangs des letz­ten Jahr­hun­derts, nach dem Zu­sam­men­bruch al­ler fes­ten Ge­fü­ge durch den 1. Welt­krieg hat­te und in DADA sei­ne theo­re­tisch wich­tigs­te Aus­prä­gung fand: das Groteske.

Groteske Musik im Werk von Mahler bis Walton

Laurenz Lütteken - Das Groteske und die Musik der Moderne - CoverIn acht Ar­ti­keln fasst der Band “Das Gro­tes­ke und die Mu­sik der Mo­der­ne” die Er­ör­te­run­gen des Zür­cher Fe­spiel-Sym­po­si­ums 2016 zu­sam­men, das sich an­läss­lich der 100-Jahr-Fei­er von DADA – die­se in­ter­na­tio­na­le Be­we­gung hat­te just in Zü­rich ihre Ur­sprün­ge – un­ter dem Ti­tel “Zwi­schen Wahn­sinn und Un­sinn” mit den Spu­ren des da­da­is­ti­schen Gro­tes­ken in der Mu­sik der Mo­der­ne-Ex­po­nen­ten Mahler, Schön­berg, Sa­tie, Stra­win­sky, Bar­tok, Walt­on, Strauss und Hin­de­mith auseinandersetzte.

In sei­ner Ein­füh­rung hält Her­aus­ge­ber Lau­renz Lüt­te­ken fest: “Ei­gen­ar­ti­ger­wei­se ist das Gro­tes­ke im Blick auf die Mu­sik bis­her noch nie sys­te­ma­tisch un­ter­sucht wor­den, al­len­falls für das Werk ein­zel­nern Kom­po­nis­ten wie Mahler oder Schost­a­ko­witsch, be­son­ders im Fal­le Schön­bergs. […] Es war da­her das Ziel des Fest­spiel-Sym­po­si­ums 2016, die­ses Mu­si­ka­lisch-Gro­tes­ke nä­her in den Blick zu neh­men. Dar­in lag auch die ei­gent­li­che Ver­bin­dung zum Fest­spiel­the­ma “100 Jah­re Dada”, denn die Dada-Be­we­gung ist ih­rer­seits ein Spie­gel die­ses Wil­lens zur Gro­tes­ke – wenn auch un­ter wei­tes­ge­hen­der mu­si­ka­li­scher Abstinenz”.

Ein Blick auf den Inhalt des Buches

Inhaltsverzeichnis von "Das Groteske und die Musik der Moderne"

…zeigt eine zwangs­läu­fig äus­serst brei­te the­ma­ti­sche Fo­kus­sie­rung hin­sicht­lich so­wohl der Kom­po­nis­ten-Per­sön­lich­kei­ten wie der sti­lis­ti­schen Zu­ord­nun­gen. Wo­bei die Pro­ble­ma­tik des Be­griffs des Gro­tes­ken im Zu­sam­men­hang mit Kunst­mu­sik über­haupt schon längst be­wusst ist. Denn wie be­reits in Barck/Fontius/Schlenstedt’s Band 2 der “Äs­the­ti­sche Grund­be­grif­fe” kon­sta­tiert wird, sind Be­zü­ge auf das Gro­tes­ke in der Mu­sik am sel­tens­ten, “was da­mit zu­sam­men­hängt, dass die vi­su­el­le Re­fe­renz für das Gro­tes­ke eine Vor­rang­stel­lung einnimmt.”

Radikale Infragestellung ästhetischer Normen

Gleich­wohl wird in der vor­lie­gen­den Es­say-Samm­lung ein­drück­lich do­ku­men­tiert, dass auch in der mu­si­ka­li­schen Mo­der­ne bei er­staun­lich vie­len Schlüs­sel­wer­ken dem Gro­tes­ken ein kon­sti­tu­ie­ren­des Mo­ment zu­kommt, das weit über das Ka­ri­kie­ren­de bzw. Per­si­flie­ren­de hin­aus eine äs­the­ti­sche In­fra­ge­stel­lung her­kömm­li­cher äs­the­ti­scher Nor­men dar­stellt und der­art weit vor­an­ge­trie­ben wird, dass es zum vom Neo­klas­si­zis­mus nicht mehr as­si­mi­lier­ba­ren Be­griff wur­de und sei­ne ge­wollt sub­ver­si­ve In­ten­ti­on rea­li­sie­ren konnte.

Das Uneigentliche zum musikalischen Eigenwert erhoben

Um in die­sem Zu­sam­men­hang noch­mals Lüt­te­ken zu zi­tie­ren: “[In der Mu­sik wur­de das Gro­tes­ke zur Mög­lich­keit], aus den Nor­men von kom­po­si­to­ri­scher Syn­tax und Se­man­tik aus­zu­bre­chen. Das 19. Jahr­hun­dert selbst hielt die­se Mög­lich­keit sh­con be­reit, bei Hec­tor Ber­li­oz etwa oder bei Ro­bert Schu­mann, doch am Ende im Sin­ne ei­ner dia­lek­ti­schen Ver­stre­bung mit dem Ei­gent­li­chen. Die­se Ein­heit ist je­doch mit der her­auf­zie­hen­den Mo­der­ne zer­bro­chen. Das Gro­tes­ke als das Ver­scho­be­ne, das Ver­zerr­te, das Ver­frem­de­te und schliess­lich das Un­ei­gent­li­che soll­te ei­nen mu­si­ka­li­schen Ei­gen­wert be­an­spru­chen, der kein Kor­rek­tiv mehr kann­te, son­dern selbst zum Kor­rek­tiv ge­wor­den war”.

Der vor­lie­gen­den Samm­lung ge­bührt das Ver­dienst nicht nur ei­ner neu­er­li­chen, nach­hal­ti­gen In­itia­li­sie­rung brei­ten Dis­ku­tie­rens über die bis­her un­ter­schätz­te Be­deu­tung des Gro­tes­ken in we­sent­li­chen Mu­sik-Mo­der­ne-Wer­ken, son­dern auch ei­ner teils (im Rah­men von Fall­stu­di­en er­staun­lich) tie­fen ana­ly­ti­schen Durch­drin­gung zahl­rei­cher kon­kre­ter Un­ter­su­chun­gen von Strawinsky’s “Sacre” bis zu Strauss’ “Schlag­obers”. Der Band möge zahl­rei­che wei­ter­ge­hen­de Be­trach­tun­gen nach sich ziehen. ♦

Lau­renz Lüt­te­ken (Hrsg.): Das Gro­tes­ke und die Mu­sik der Mo­der­ne (Zür­cher Fest­spiel-Sym­po­si­en, Band 8 / 2017), 162 Sei­ten, Bä­ren­rei­ter Ver­lag, ISBN 978-3-761-82158-9

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Ur­su­la Pe­trik: Von den Kon­takt­schwie­rig­kei­ten der Neu­en Musik

… und le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin auch weitere
“In­ter­es­san­te Buch- und CD-Neu­hei­ten – kurz be­lich­tet” (Juni 2012)

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