Bernd Giehl: Die Zeitungsente (Parabel)

Die Zeitungsente

Bernd Giehl

Dr. Con­rad von Mayr sass gerade mit sei­ner Gelieb­ten, der Baro­nin von Schar­fen­stein-Ohlen­horst, beim Früh­stück, als es an der Tür klin­gelte und eine halbe Minute spä­ter ein Zei­tungs­junge, halb ohn­mäch­tig vor Auf­re­gung durch die Tür zum Ess­zim­mer witschte. “Der Herr Dok­tor wünscht beim Früh­stück…” konnte der Die­ner, der hin­ter ihm her­ge­lau­fen und ihn gerade noch am Ärmel sei­nes Jacketts zu fas­sen bekom­men hatte, noch her­vor­brin­gen, aber der Junge in der kur­zen Hose, die Bal­lon­mütze immer noch auf dem Kopf, war schon ins Zim­mer gestürzt, wo der Dok­tor und die Baro­nin beim Früh­stück sas­sen. “Herr Dok­tor, ver­zei­hens bitte, der Herr Chef­re­dak­teur…” – “…ich bin der Chef­re­dak­teur” fiel ihm Mayr ins Wort –  “…der Herr Gene­ral­di­rek­tor…” – “den gibt es bei uns nicht…” Der arme Kerl war jetzt so sehr den Trä­nen nahe, dass Mayr nicht anders konnte als auf­zu­ste­hen und dem Die­ner ein Zei­chen zu geben, er solle ihn los­las­sen, was der auch tat, wor­auf­hin er selbst den Ben­gel am Arm nahm und auf einen Stuhl setzte, den er vom Tisch weg­ge­zo­gen hatte. “Magst a Sem­mel?” fragte er den ver­dut­zen Jun­gen, dem schon ver­däch­tige Spu­ren im Gesicht schim­mer­ten. Mit einer Hand­be­we­gung wies er den Die­ner an, noch ein Gedeck auf­zu­le­gen. Der Junge – er mochte viel­leicht vier­zehn Jahre alt sein – holte sein Taschen­tuch her­aus und wischte sich die Trä­nen vom Gesicht.
Dann nahm er einen neuen Anlauf. “Der Herr Dr. Moel­len­dorff schickt mich, weil der Erz­her­zog ist tot, steht in der Zei­tung und kei­ner hat’s gewusst.” Im nächs­ten Moment zog er die reich­lich zer­knit­terte “Illus­trierte Kro­nen Zei­tung” aus der Tasche sei­ner Jacke und reichte sie dem ver­dat­ter­ten Mayr. Ein Blick auf die Titel­seite genügte. In gros­sen Let­tern stand dort: “Thron­fol­ger in Sara­jewo durch Bom­ben­at­ten­tat ermor­det.” Dar­un­ter ein Foto der Limou­sine, in der Erz­her­zog Franz-Fer­di­nand und seine Gemah­lin Sophie durch eine Haupt­strasse Sara­je­wos fuh­ren. Sowohl der Wagen als auch seine vier Insas­sen sahen noch unver­sehrt aus. “Warum weiss ich nichts davon?” don­nerte der Chef­re­dak­teur. Alle drei, die Baro­nin, der Zei­tungs­junge und der Die­ner fuh­ren zusam­men; so hef­tig don­nerte Mayrs Faust auf den Tisch. Dem Jun­gen stan­den schon wie­der die Trä­nen im Gesicht. “Am Nach­mit­tag des 27. Juni”, las er mit lau­ter Stimme vor, “wurde der öster­rei­chi­sche Thron­fol­ger und seine Gat­tin Sophie von Hohen­berg durch den zwan­zig­jäh­ri­gen Bos­nier Gabriel Prinz – kein Bos­nier heisst Gabriel Prinz – ermor­det. Der Thron­fol­ger und seine Gemah­lin fuh­ren im offe­nen Wagen, als Prinz, der am Stras­sen­rand stand, unter sei­nen Man­tel griff und eine selbst­ge­baute Bombe in den Fonds des Wagens schleu­derte, in dem Seine Kai­ser­li­che Hoheit und Prin­zes­sin Sophie …” Im nächs­ten Augen­blick ver­sagte Mayr die Stimme. Die Baro­nin sass wie ver­stei­nert auf ihrem Stuhl, der Die­ner bückte sich nach den Scher­ben des Gedecks, das er fal­len gelas­sen hatte, aber auch er erstarrte in der Bewe­gung, nur der Zei­tungs­junge schluchzte hem­mungs­los. “Sie sind tot.” “Eine Droschke”, brüllte Mayr den Die­ner an, der sich lang­sam wie­der auf­rich­tete; “eine Droschke zur Redak­tion. Aber subito. – Ver­zei­hen Sie, meine Liebe,”, wandte er sich dann an die Baro­nin. “Aber ich bitte dich”, erwi­derte die und fügte hinzu: “Seit wann sie­zen wir uns?” Im nächs­ten Moment lief sie feu­er­rot an. “Aber natür­lich. Neh­men Sie auf mich keine Rück­sicht. Tun Sie so, als wäre ich gar nicht da.”

*

Hoch­rot im Gesicht, als ob er kurz vor einem Schlag­an­fall stünde, stürzte Chef­re­dak­teur Con­rad von Mayr durch die Redak­ti­ons­räume der “Illus­trier­ten Kro­nen Zei­tung”. Die Redak­teure und Sekre­tä­rin­nen bück­ten sich tief über ihre Schreib­ma­schi­nen und For­mu­lare. “Wo ist der Schuft? Wer hat das ver­bro­chen? Wo ist Moel­len­dorff?” Im nächs­ten Augen­blick wurde eine Tür auf­ge­ris­sen und die unter­setzte Gestalt des stell­ver­tre­ten­den Chef­re­dak­teurs Kon­stan­tin Moel­len­dorff wurde sicht­bar. “Hier bin ich, Herr Geheim­rat”. “Warum haben Sie mich nicht…” – und dann brach Mayr ab, als sei ihm jetzt erst bewusst gewor­den, dass die ganze Redak­tion sei­nen Aus­bruch mit­be­kam. “Kom­men Sie mit in mein Büro”.
“Warum weiss ich nichts davon?” fuhr er sei­nen Stell­ver­tre­ter an, als sie im Zim­mer des Chef­re­dak­teurs stan­den und Moel­len­dorff die Tür hin­ter sich geschlos­sen hatte. Er hielt sei­nem Stell­ver­tre­ter die Zei­tung, die der Bote ihm gebracht hatte, so dicht unter die Nase, dass die­ser zurück­wich, als ob der andere ihm die Zei­tung ins Gesicht geschla­gen hätte. “Herr Geheim­rat hat­ten aus­drück­li­che Anwei­sung gege­ben, an die­sem Abend nicht gestört zu wer­den.” “… aus­ser im Fall, dass der Krieg aus­bricht”, hatte der Herr Geheim­rat noch hin­zu­ge­fügt, und sie hat­ten beide gelacht. Es musste schliess­lich nie­mand von sei­nem Tech­tel­mech­tel mit Baro­nin Carla erfah­ren, deren Mann für ein paar Tage zum Manö­ver in Baden weilte. Der Zei­tungs­junge, er musste unbe­dingt noch ein­mal mit dem Zei­tungs­jun­gen spre­chen. Ein paar Kro­nen wür­den die Sache wahr­schein­lich regeln. Falls er die Dame über­haupt kannte. So eine Duell­for­de­rung konnte unan­ge­nehm wer­den. Später.
“In so einem Fall möchte ich unver­züg­lich infor­miert wer­den.” Seine Stimme klang jetzt fast schon wie­der amt­lich. “Ich hoffe zumin­dest, dass Sie Ihres Amtes gewal­tet haben.”
“Was mei­nen Herr Geheim­rat mit ‚mei­nes Amtes gewal­tet‘?” Mayr regis­trierte, dass Moel­len­dorffs Stimme gepresst klang. “Ich meine damit, dass Sie sich unver­züg­lich mit unse­rem Kor­re­spon­den­ten in Sara­jevo und dem Hof hier in Wien in Ver­bin­dung gesetzt haben. Schliess­lich kann so eine Mel­dung auch eine plumpe Fäl­schung sein. Von inter­es­sier­ten Krei­sen in die Welt gesetzt.”
Moel­len­dorffs Schwei­gen sagte alles.
“Dann wer­den Sie das jetzt unver­züg­lich tun. Über die Kon­se­quen­zen für Ihr unver­zeih­li­ches Ver­hal­ten reden wir spä­ter.” Haupt­sa­che, das alles hatte keine Kon­se­quen­zen für ihn.

*

Die Tele­gra­fen in der Redak­tion rat­ter­ten auf Hoch­tou­ren. Eine halbe Stunde spä­ter war die Ver­wir­rung voll­kom­men. Der Kor­re­spon­dent in Sara­jevo hatte bestä­tigt, dass er das Atten­tat zwar nicht mit eige­nen Augen gese­hen hatte; er hatte etwa 500 Meter von dem Ort, an dem es pas­siert war, gestan­den, dass er aber die Auf­re­gung und die Panik der Menge bemerkt und ver­sucht hatte, sich durch­zu­drän­gen. Das Durch­ein­an­der sei unbe­schreib­lich gewe­sen. Zunächst habe es für ihn und den Foto­gra­fen kein Durch­kom­men gege­ben, und als sie schliess­lich am Ort des Gesche­hens ange­kom­men seien, hät­ten sie das schwer beschä­digte Auto­mo­bil, in dem der Erz­her­zog und seine Gemah­lin geses­sen hat­ten, mit eige­nen Augen gese­hen. Die bei­den Toten seien aller­dings zu die­sem Zeit­punkt schon abtrans­por­tiert worden.
Anders dage­gen der kai­ser­li­che Hof. Kron­prinz Franz-Fer­di­nand und seine Gemah­lin, die Grä­fin von Hohen­burg befän­den sich tat­säch­lich in Sara­jevo, aber die Trup­pen­pa­rade der Armee sei­ner Kai­ser­li­chen Majes­tät, die Seine kai­ser­li­che Hoheit abneh­men werde, finde erst am heu­ti­gen Tag, dem 28. Juni statt und von einem Atten­tat sei dem Hof nichts bekannt. Man werde sich jedoch unver­züg­lich mit der Dienst­stelle der k.u..k. Poli­zei in Sara­jevo in Ver­bin­dung set­zen und emp­fehle der Redak­tion der “Illus­trier­ten Kro­nen­zei­tung” das eben­falls zu tun. Mit vor­züg­li­cher Hoch­ach­tung. Gez. v. Mey­rink, Ers­ter Sekretär.

*

Die kom­for­ta­ble Gräf-&Stift-Limousine mit dem Kron­prin­zen­paar im offe­nen Fonds rollt den Äppel­kai von Sara­jevo ent­lang. Grä­fin Sophie beugt sich zu ihrem Gat­ten. “Es gibt Gerüchte von einem Atten­tat, das ges­tern auf uns ver­übt wor­den sei. Glaubst du, wir sind wirk­lich sicher?” Der Erz­her­zog legt beru­hi­gend die Hand auf ihren Arm. “Ach, Sophie, du musst nicht immer allen Dumm­schwät­zern und Zei­tungs­schrei­bern glau­ben. Du kannst ganz beru­higt sein; die Poli­zei wird schon für unsere Sicher­heit sorgen.”
In die­sem Moment biegt die Wagen­ko­lonne auf die Latei­ner­brü­cke ein. ♦


Bernd Giehl

Geb. 1953 in Marienberg/D, Stu­dium der Theo­lo­gie in Mar­burg, ver­schie­dene lite­ra­ri­sche und theo­lo­gi­sche Publi­ka­tio­nen, lebt als evang. Pfar­rer in Nauheim

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