Angela Mund: Hektor (Philosophische Satire)

Schlaf gut, mein Freund Hektor

Angela Mund

Ver­ab­schie­den sie sich end­lich von ihrem Idea­lis­mus. Den­ken sie wis­sen­schaft­lich!” Er sah mich über seine dick­ge­rahm­ten Bril­len­glä­ser hin­weg an. Ich glaubte zumin­dest, dass er mich ansah. Die Gar­di­nen waren zuge­zo­gen, in Kom­bi­na­tion mit den schwar­zen Möbeln glich sein Büro eher dem Vor­raum eines Bestat­tungs­in­sti­tu­tes, und eine matte Dun­kel­heit hatte sich auf unsere Gesich­ter gelegt. Ich hatte ein Stück Fin­ger­na­gel zwi­schen den Zäh­nen und schob es mit der Zunge hin und her. “Viel­leicht soll­ten sie mit dem Stu­dium doch lie­ber auf­hö­ren.” Erst jetzt fiel mir ein Bild auf, wel­ches schräg hin­ter ihm an der Wand hing: Achil­les steht auf dem Sie­ger­wa­gen, die Zügel zwei­mal um die Hände geschlun­gen, das Kinn vol­ler Stolz gegen Troja gerich­tet, Hek­tor unkennt­lich im Staub hin­ter sich her­zie­hend. Ich suchte in der Dun­kel­heit seine Augen und erwi­derte zöger­lich: “Das hatte ich heute eigent­lich vor.” Der Fin­ger­na­gel schwamm nun etwas ver­lo­ren auf mei­ner Zunge und machte mich nervös.
Das Mäd­chen neben ihm lächelte lako­nisch vor sich hin und wackelte bei jedem sei­ner Sätze bedroh­lich weit mit dem Kopf, als wolle ihr Hals jeden Moment umkni­cken wie eine über­dehnte Lanze. Hek­tor war ein Held, er war der ein­zige Krie­ger gewe­sen, dem es nicht um das Mäd­chen gegan­gen war. Er hatte ledig­lich seine Hei­mat schüt­zen wol­len, sei­nem Vater Ehre erwei­sen, den fei­gen Bru­der Paris vor der Schande der Nie­der­lage bewah­ren und sei­ner Frau das Schick­sal erspa­ren wol­len, Skla­vin der Achäer zu wer­den. Er war ein Held, weil er nach sei­nen Prin­zi­pien gehan­delt hatte, und trotz die­ser unum­stöss­li­chen Wahr­heit hatte man sei­nen toten Kör­per über das Schlacht­feld gezo­gen, anstatt ihn mit Öl zu sal­ben, damit die Haut wie Bronze glän­zen konnte.
“Wis­sen sie eigent­lich, was sie da gerade gesagt haben?”, dröhnte seine Stimme ble­chern, als würde ein Pferd in eine Metal­lu­ren röh­ren. Unauf­fäl­lig nahm ich den Fin­ger­na­gel aus mei­nem Mund und klemmte ihn zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger. “Ich habe ihnen zu erklä­ren ver­sucht, worin das Pro­blem des Seins besteht.” Das Mäd­chen kicherte, er zog die Luft scharf ein, Hek­tor drehte mir den Rücken zu, und der Fin­ger­na­gel lag nun etwas ein­sam vor mir auf der grauen PVC-Auslage.
“Das Pro­blem des Seins besteht darin, dass es ein Pro­blem der Wis­sen­schaft gewor­den ist.” Man stelle sich ein­mal das Sein in der Mitte vor – ich hatte für diese Erklä­rung extra eine Skizze ange­fer­tigt -, neben dem Sein befan­den sich die wis­sen­schaft­li­chen Fach­be­rei­che fächer­ar­tig auf­ge­reiht. Jeder Wis­sen­schaft ord­nete ich die jewei­li­gen Pro­blem­fel­der zu, bei­spiels­weise der Psy­cho­lo­gie. Ihr Pro­blem ist, dass sie die Per­sön­lich­keit auf­teilt in 50% Gene, 40% Umwelt und einen Feh­ler­an­teil von 10%, den man als freien Wil­len bezeich­nen musste, weil man sonst nichts wei­ter damit anzu­fan­gen wusste. Auf der ande­ren Seite befand sich die Theo­lo­gie, die ich des­halb als Wis­sen­schaft ange­führt hatte, weil sie ein umfas­sen­des Erklä­rungs­sys­tem bereit­stellt, indem die Instanz Gott das Sein legi­ti­miert. Gott offen­bart sich jedoch als eine Instanz, von der man bis heute nur sagen kann, was sie nicht ist; auch die Theo­lo­gie ver­sucht ihre Defi­ni­ti­ons­lü­cken durch nega­tive Kate­go­rien zu retu­schie­ren. Hinzu kommt die Mathe­ma­tik, die zwar exakte For­meln auf­stel­len kann, wel­che aber nur unter Aus­schluss unbe­kann­ter Varia­blen funk­tio­nie­ren. Zum Schluss hatte ich noch die Phi­lo­so­phie ange­führt, die daran schei­tert, dass sie nicht erklä­ren kann, wor­auf die Wahr­neh­mung des Seins beruht und Des­car­tes daher einen Homun­ku­lus annahm, der im Kopf des Men­schen sitzt und für die­sen wahr­nimmt. Diese war von allen Erklä­rungs­fan­ta­sien noch die netteste.
Hek­tor fum­melte ner­vös an sei­nen Fuss­fes­seln. Die Dun­kel­heit brei­tete sich bis in die hin­ters­ten Win­kel des Rau­mes aus, und ich musste meine Augen fest zusam­men­knei­fen, um das Bild an der Wand noch erken­nen zu kön­nen. Ich holte tief Luft und zer­brach die Stille: “Egal, ob 10 Pro­zent Feh­ler­an­teil, Gott, redu­zierte For­meln oder Homun­ku­lus – das alles sind nur Hilfs­kon­struk­tio­nen der Wis­sen­schaf­ten, die über­spie­len sol­len, dass sie etwas Ent­schei­den­des nicht erklä­ren kön­nen: Das Sein.” Er zog eine Augen­braue nach oben. Am liebs­ten wäre ich auf­ge­sprun­gen und hätte Achil­les vom Wagen gestos­sen, um sein Sie­ger­kinn in den Boden zu pres­sen. Statt­des­sen kratzte ich mit dem lin­ken Fuss den Fin­ger­na­gel unter mei­nen Stuhl und flüs­terte: “Wenn man das Pro­blem nicht kennt, fin­det man auch keine Lösung.” Die andere Augen­braue schob sich eben­falls nach oben, das Mäd­chen mit dem Lan­zen­hals rutschte ängst­lich auf ihrem Stuhl hin und her, das Zim­mer kannte kei­nen Licht­strahl mehr und ich stand breit­bei­nig über dem gefal­le­nen Achil­les, der mir mit dreck­ver­schmier­tem Gesicht erstaunt ent­ge­gen­blickte. Da trat Hek­tor hin­ter mich und legte seine Hand ruhig auf meine Schul­ter. “Wozu das alles?” Und weil ich ihm die Frage nicht beant­wor­ten konnte, mur­melte ich mehr zu mir selbst: “Das macht die alte Wis­sen­schaft über­flüs­sig.”, wäh­rend ich das Schwert in Achil­les Ferse stiess. Hek­tor senkte lang­sam den Kopf. Ent­ge­gen mei­ner Erwar­tun­gen beugte sich der Dozent eher gemäch­lich nach vorn, soweit bis die Tisch­kante hart gegen seine Ein­ge­weide hätte drü­cken müs­sen, und fragte in einem Tempo, als würde seine Zunge eine Apfel­sine bear­bei­ten, indem er jedes Wort im reins­ten Hoch­deutsch noch ein­mal zer­schälte: “Und wel­che Lösung schla­gen sie vor?” Sche­men­haft konnte ich erken­nen, wie er mit sei­nem Stift einen ein­fa­chen Strich quer über das Blatt Papier zog, wel­ches vor ihm lag, und den Stift in genüss­li­cher Ruhe wie­der auf den Tisch par­al­lel zu sei­ner Hand legte.
Ich hatte 14 Semes­ter Phi­lo­so­phie stu­diert und mich dem­entspre­chend lange auf diese Frage vor­be­rei­ten kön­nen. Meine Erklä­rung war ein­fach, sie musste es sein, damit sie auch von jedem ver­stan­den wird. Ich war mir sicher, dass selbst das Mäd­chen mit dem Lan­zen­hals mei­nen Erklä­run­gen fol­gen könnte. Es ist näm­lich so, dass sich das Sein im All­ge­mei­nen nur auf das Mensch­sein bezie­hen kann. Und was ist der Mensch? Er ist ein Tier. “Um das Pro­blem des Mensch­seins zu lösen, muss man sein Tier­sein defi­nie­ren. Weil aber der Mensch im Zuge der Zivi­li­sie­rung, Indus­tria­li­sie­rung und Urba­ni­sie­rung sein Tier­sein ver­leug­net hat, kann er auch kein voll­kom­me­ner Mensch sein.”
Mein Dozent sah mich für einen Augen­blick lang ent­setzt an, kehrte aber recht schnell wie­der zu sei­nen alten Gesichts­zü­gen zurück, indem er einen Mund­win­kel nach oben und den ande­ren nach unten schob und die Augen­brauen ele­gant über der Nasen­wur­zel jus­tierte. Wäh­rend er also seine Mimik sor­tierte, reichte er mir mit­tels rech­tem Arm, der durch den hoch­ge­zo­ge­nen Hemds­är­mel nackt war und sich wie ein ster­ben­der Wurm vor mir auf­bäumte, das Blatt Papier mit dem nicht ganz akku­rat gezo­ge­nem Strich dar­auf. Das Mäd­chen zwir­belte unab­läs­sig eine Strähne ihres dün­nen und farb­lo­sen Haars und starrte unbe­tei­ligt wie ein Pas­sant am Unfall­ort auf die ande­ren Fin­ger­nä­gel, die neben mei­nem Stuhl ver­streut wie Blu­men­sa­men her­um­la­gen. “Und ich hatte schon befürch­tet, sie sagen etwas zum Thema. Sie kön­nen gehen. Sie haben zwar keine Note, aber dafür ihren Abschluss.” Er neigte sich zu sei­ner Assis­ten­tin, die ihren Kopf kaum noch in der Senk­rech­ten hal­ten konnte und raunte ihr zu, als würde ich seine leise Stimme in der Stille nicht hören kön­nen: “Hat sie was zu Auf­gabe zwei gesagt?” Die Assis­ten­tin wis­perte: “Nein, nichts, glaube ich.”
Als ich die schwere Tür des Insti­tuts auf­stiess, strahlte mir eine kühle Win­ter­sonne unver­hoh­len ins Gesicht, und ich hielt mir die Hand vor die Augen. Hek­tor würgte das Blatt Papier in sei­nen Hän­den, unschlüs­sig, ob er es auf den Boden oder doch lie­ber in die Müll­tonne schmeis­sen sollte. Ohne sich ent­schie­den zu haben, zupfte er mir sogleich am Ärmel und blickte mich aus sei­nen brau­nen Augen zwei­felnd an, indem er seine Stirn in Fal­ten legte. Ich blin­zelte durch meine gespreiz­ten Fin­ger hin­durch zu ihm und fragte mich, ob er solch ein Gesicht auch auf dem Schlacht­feld gezeigt hatte und er des­halb sei­nen Fein­den unter­le­gen gewe­sen war. Er war unru­hig, er zog und schob mich wie­der in Rich­tung Tür, wäh­rend seine Arme nun hek­tisch um sei­nen Kör­per flat­ter­ten. Ich lächelte ihn nach­sich­tig an: “Nein, den Achil­les beer­di­gen wir nicht, auch wenn es bei euch so Brauch ist. Bei uns lässt man die Toten lie­gen. Das erle­digt näm­lich ein Fach­mann.” Immer hef­ti­ger bedrängte er mich und blickte dabei so ver­zwei­felt, wie nur Kin­der bli­cken kön­nen. Ich wand mich aus sei­nem Griff und drehte ihm, da ich mir nicht anders zu hel­fen wusste, den Arm auf den Rücken, so dass sein Kör­per abrupt in sich zusam­men sackte.
Mein Lösungs­vor­schlag war nicht sehr umfang­reich, aber es war ein Anfang und nur darum ging es ja. Einer musste den Anfang machen, einer musste für die, die ihm fol­gen wer­den, den Weg ebnen, sozu­sa­gen mit sei­ner Fan­ta­sie eine Schneise für die kom­men­den Gene­ra­tio­nen schla­gen. Ich war bereit. Nur musste ich zunächst ein­mal Hek­tor davon über­zeu­gen, sich von mir nicht nur die Strasse ent­lang zie­hen zu las­sen, son­dern auf eige­nen Bei­nen zu ste­hen und mit denen mög­lichst schnell neben mir her zu lau­fen. Von einem grie­chi­schen Hel­den hatte ich mehr Wage­mut erwar­tet. Wir durf­ten keine Zeit ver­lie­ren, schliess­lich lag schon der erste braune Schnee­schlamm zwi­schen Fahr­bahn und Bür­ger­steig, der Him­mel war ergraut wie das melierte Haar altern­der Män­ner und die Men­schen zogen sich die Kapu­zen über die frie­ren­den Köpfe. Es würde nicht mehr lange dau­ern und das Dröh­nen der Streu­ma­schi­nen würde sich über der Stadt aus­brei­ten und alles unter sich begra­ben. Der Win­ter in gros­sen Städ­ten war die Zeit der Selbst­er­kennt­nis und Anti­de­pres­siva. Ich hatte dazu eine Sta­tis­tik gelesen.
Trotz des Wider­stan­des von Hek­tor gelang­ten wir zügig in meine von blatt­lo­sen Rot­bu­chen gesäumte Strasse. Um sich dem Tier­sein zu nähern, müsste man das tun, was ein Tier tut, in unse­rem Falle ein Säu­ge­tier. Mit einer Hand hielt ich Hek­tor fest, der sich immer weni­ger zur Wehr setzte, mit der ande­ren schloss ich die Tür zu mei­ner Woh­nung auf. Es war nicht nur ein­fach dun­kel im Zim­mer, son­dern nahezu so schwarz wie die hin­terste Win­dung eines Fuchs­baus. Hek­tor ver­suchte ver­geb­lich, den Licht­schal­ter im Flur zu betä­ti­gen, ein sinn­lo­ses Unter­fan­gen, schliess­lich hatte ich schon vor Wochen die Glüh­bir­nen raus­ge­schraubt, zusätz­lich dicke Tep­pich­vor­le­ger über die Fens­ter gespannt und mit Gaf­fa­band abge­dich­tet. Um wenigs­tens die Sau­er­stoff­zu­fuhr in der Woh­nung zu sichern, blieb nur das kleine Fens­ter im Bad geöff­net, was nicht wei­ter störte, da es sowieso zum Hin­ter­hof zeigte und die­ser von den Schat­ten umlie­gen­der Häu­ser abge­dun­kelt wurde. Kurz und gut, es herrschte kaum eine Andeu­tung von Licht, und so tas­te­ten wir uns blind wie Wel­pen an der Wand ent­lang zu mei­nem Schlaf­zim­mer. Hek­tor stol­perte mir wil­len­los hin­ter­her und schien jeg­li­che Kraft ver­lo­ren zu haben. Seine Hand lag schlaff in mei­ner und hätte ich ihn nicht an den Schul­tern fest­ge­hal­ten, er wäre wohl zu Boden gegan­gen. Was war von sei­ner Stärke noch übrig­ge­blie­ben? Ich lehnte ihn behut­sam gegen den Tür­rah­men und betas­tete seine Stirn, die viel schma­ler wirkte, als ich sie von heute Nach­mit­tag in Erin­ne­run­gen hatte. Seine Haut war kalt und fühlte sich fremd an. “Wenn uns der Ver­stand nicht zu bes­se­ren Men­schen macht, herrscht das Gesetz des Instink­tes.” Am liebs­ten hätte ich ihn fest in meine Arme geschlos­sen und ihm durch sein gelock­tes Grie­chen­haar “Ver­trau mir” zuge­flüs­tert, aber ich konnte diese Leere, die mit einem Mal zwi­schen uns auf­ge­kom­men war, nicht überwinden.
So stan­den wir uns lange schwei­gend gegen­über, fan­den in der Dun­kel­heit nicht den Blick des ande­ren, und ich konnte nichts wei­ter tun als sei­nem Atmen zu lau­schen, wel­ches immer schwe­rer wurde, als hätte Achil­les sei­nen Fuss auf Hek­tors Brust­korb gesetzt und würde nun nach und nach sein Gewicht nach vorn ver­la­gern. Ich war­tete auf ein Zei­chen des Ein­ver­ständ­nis­ses von ihm, er war mein Freund, ich konnte ihn nicht ein­fach dazu zwin­gen, mit mir den Anfang zu machen, die Schneise zu schlagen.
Ein Geräusch riss mich aus den Gedan­ken her­aus, bes­ser gesagt, es war das Feh­len eines Geräu­sches, wel­ches mich irri­tierte; ich begriff zunächst nicht, was genau an die­sem Moment selt­sam war. Hek­tor hatte kurz­zei­tig auf­ge­hört zu atmen, ich wusste, dass er dies mit Absicht getan hatte, und so schlug ich ihm mit der fla­chen Hand gegen die Rip­pen, erst erschro­cken und dann aus Wut. “Also los” rief ich ihm zu und schob ihn bestimmt in mein Zim­mer, in dem etli­che Kis­sen und Decken wild ver­streut her­um­la­gen und uns mit den ers­ten Schrit­ten ein­sin­ken lies­sen. Die Möbel hatte ich schon im März an die Stu­den­ten, die ein Stock­werk unter mir ein­ge­zo­gen waren, ver­schenkt. Danach wurde mir ein Platz auf ihrem kaput­ten Sofa ange­bo­ten und eine Fla­sche Bier in die Hand gedrückt. Der Abend begann recht ange­nehm und es wur­den nach und nach wei­tere Wein­fla­schen entkorkt.
Ich war gerade dabei, ihnen meine Theo­rie des Mensch­seins zu erläu­tern, immer bestrebt darin, wei­tere Wege­ge­fähr­ten für die Sache zu gewin­nen, als mir ein ziem­lich betrun­ke­ner Lehr­amts­stu­dent ins Wort fiel, in dem er lachend ver­kün­dete: “Das ist doch nicht neu. Tar­zan hat es vor­ge­macht!” Nach dem das dar­auf fol­gende Hand­ge­menge von den umste­hen­den Zuhö­rern auf­ge­löst wurde, glät­tete ich bedäch­tig mein Shirt und über­liess diese Mensch­heit sich selbst. Die Möbel soll­ten sie trotz­dem behal­ten. Ich hatte schliess­lich keine Ver­wen­dung mehr dafür. Zwi­schen den Kis­sen sta­pel­ten sich Thun­fisch­do­sen, dut­zende Packun­gen ver­schie­de­ner Tro­cken­keks­sor­ten und Wasserflaschen.
Eine funk­tio­nie­rende Rück­be­sin­nung auf das Tier in uns muss gut vor­be­rei­tet sein. Ich drückte Hek­tor sanft in die Kis­sen und warf einige Decken über uns. Dann hielt ich ihm meine geöff­nete Hand­flä­che ent­ge­gen, in der sich zwei kleine, weisse Tablet­ten ver­steck­ten und dar­auf war­te­ten, ver­daut zu wer­den: “Du eine, ich eine”. Hek­tor berührte vor­sich­tig meine zer­furch­ten Fin­ger­kup­pen, und für einen kur­zen Augen­blick fühlte es sich wie ein Strei­cheln an. Ich tas­tete wie­der nach sei­ner Stirn und stellte trau­rig fest, dass er seine Augen­brauen miss­trau­isch zusam­men­ge­zo­gen hatte. “Wenn du auf­wachst, nimmst du gleich zwei. Ich hab das genau berech­net.” Nun zwang ich ihm die erste Tablette in den Mund, schluckte auch meine hin­un­ter und legte die kleine Metall­dose hin­ter mich. Ich wollte, dass er mir ver­traut und sprach ihm auf­mun­ternd zu: “Du kannst auch was von dem Thun­fisch essen, wenn du Hun­ger hast.” Hek­tor war ein Held, weil er nach sei­nen Prin­zi­pien han­delte, und doch lag er nun teil­nahms­los neben mir, als würde sein Kör­per wie­der der Leich­nam sein, den man bis zum Son­nen­auf­gang über das Schlacht­feld gezo­gen hatte. Ich emp­fand plötz­lich einen Schmerz irgendwo zwi­schen Bauch und Hals, ohne mir recht erklä­ren zu kön­nen, warum die­ser Schmerz da, war und der Umstand, dass ich es mir eben nicht erklä­ren konnte, stürzte mich in eine selt­same Ver­zweif­lung. Er hatte damit begon­nen, sei­nen Kopf von einer Seite auf die andere zu wer­fen, gleich­zei­tig hob und senkte er seine Schul­tern, alles ver­krampfte sich in ihm und aus sei­nem Mund kam ein tie­fes Grol­len, was mir Angst ein­flösste. Es war ein Beben und Erzit­tern, so stark, dass es sich auf mich über­trug, und weil ich mir nicht anders zu hel­fen wusste, drückte ich ihm mit zwei Fin­gern die Augen­li­der zu, umschlang ihn fest mit Armen und Bei­nen und flüs­terte ihm ins Ohr: “Träum`, Hek­tor, schlafe und träume etwas Gutes. Wir sehen uns in zwei Mona­ten wie­der, wenn der Win­ter­schlaf zu Ende ist.” ♦


Angela Mund - Autorin - Glarean MagazinAngela Mund

Geb. 1986 in Illmenau/D, Stu­den­tin der Psy­cho­lo­gie, Kul­tur­wis­sen­schaf­ten und Medi­en­päd­ago­gik, Arbeit im Thea­ter­be­trieb als Regis­seu­rin und Autorin, lebt in Leipzig

Lesen Sie im Glarean Maga­zin auch von Angela Mund: Hun­de­ge­sprä­che (Fabel)

aus­ser­dem im GLAREAN zum Thema Satire von Ernst-Edmund Keil: Milch und Blut

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