Paula Küng: Paris pour toujours (Kurzprosa)

Vier verlorene Tage

oder

Paris pour toujours

Paula Küng

Eigent­lich war’s aus und fer­tig. Sie wusste es. Den­noch hatte sie sich ent­schlos­sen, nach Paris zu fah­ren. Jetzt war sie da. Aber er hatte keine Zeit für sie. Das alte Lied! Aber es war doch der dritt­letzte Tag des Jah­res, und sie wollte unbe­dingt Syl­ves­ter in Paris ver­brin­gen! Von der Schule wusste sie: Cham­pa­gner auf der Strasse, Umar­mun­gen und Küss­chen von Wild­frem­den. Alles viel lus­ti­ger als zu Hause in der bra­ven Schweiz. Waren sie nicht letz­tes Jahr auf einem Acker zwi­schen Biel und Ben­ken mit dem Auto ste­cken geblie­ben? Bitte, keine Wie­der­ho­lung von Syl­ves­ter mit ihrem klei­nen Bru­der und sei­nen Studienkollegen!
In Paris konnte sie in der Woh­nung von Freun­den über­nach­ten. Sie befand sich im Quar­tier Latin, an der Rue Monge mit der sin­ni­gen Haus­num­mer 101; es war eine Par­terre­woh­nung, kalt, dun­kel, muf­fig. Der Kühl­schrank lief nicht, aber das spielte jetzt im Win­ter keine Rolle. Sie brauchte nichts zu bezah­len, das war das Ent­schei­dende. Vier Tage in Paris! Sie war mit dem Nacht­zug in der Gare de l’Est ange­kom­men, und sie würde auch wie­der mit dem Nacht­zug nach Basel über die Grenze zurück­keh­ren, im neuen Jahr.
End­lich erreicht sie Finn am Tele­fon in der Bot­schaft, wo er als Lauf­bur­sche arbei­tet, um sich sein Stu­dium zu finan­zie­ren. Sie tref­fen sich an der Métro­sta­tion Place Saint-Pla­cide, in der Nähe sei­nes Zim­mers. Spä­ter trin­ken sie einen Espresso in der Bar eines Auver­gnat. Die Wir­tin ist nett. Andern­tags geht sie in das glei­che rus­sige Lokal, trinkt einen Espresso und denkt an ihren Freund. In der Küche nebenan hört sie die geile Lache der Wir­tin, wäh­rend sie sich mit dem Wirt und mit Gäs­ten unter­hält. Sicher machen sie Witze über sie und ihren Freund, wie sie auf der Bank geschmust haben. Es war ein Feh­ler gewe­sen zurückzukommen.
An Syl­ves­ter wird sie sich mit Finn zum gemein­sa­men Mit­tag­essen tref­fen. Der Bul­lier ist offen: Es ist das Restau­rant uni­ver­si­taire an der Rue de l’Observatoire. Ganz in der Nähe, am Boul’ Mich’, befin­det sich das Foyer inter­na­tio­nal pour jeu­nes fil­les. Dort, in der Ein­gangs­halle, war­tet sie auf ihren Freund. Der Por­tier hat sie her­ein­ge­las­sen, fragt nach ihren Wün­schen. Sie möchte hier war­ten. Sie setzt sich auf eine Bank, spä­ter legt sie die Beine hoch, legt sich hin. Es ist kalt. Plötz­lich steht der Wäch­ter vor ihr und fragt, ob es ihr schlecht sei. Nein, nein, sie sei nur müde. Sie ent­schul­digt sich, setzt sich ker­zen­ge­rade auf das Bänk­lein. End­lich kommt Finn. Er trägt sei­nen grü­nen Man­tel, den Kra­gen hoch­ge­schla­gen. Im Restau U gibt es eine weih­nacht­li­che Bûche zum Des­sert. Sie freut sich, Finn zu sehen, und ist ganz zufrie­den. Aber mit dem Syl­ves­ter­abend ist nichts. Der Bot­schaf­ter hat ein­ge­la­den, wie sollte er sie vor­stel­len? Die Ange­hö­ri­gen der Bot­schaft sind dort, es wird über Afrika und über Poli­tik gespro­chen. Sie ist eine Weisse.
Am Abend ging sie wie­der zur Eglise Saint-Pla­cide. Sie ver­brachte den Abend in einem moder­nen Lokal mit ver­spie­gel­ten Wän­den und gros­sen, brei­ten Bän­ken, die mit grü­nem Plas­tik über dicken Kunst­stoff­pols­tern bezo­gen waren. Der Plas­tik zeigte bereits Risse. Das Lokal war eines jener, die so sehr das typi­sche Pari­ser Café ver­kör­pern. Dazu die grü­nen Tas­sen in ver­schie­de­nen Grös­sen, mit oder ohne Zier­rand. Um Mit­ter­nacht war es, wie sie es von der Schule her wusste: Cham­pa­gner auf der Strasse, Umar­mun­gen und Küss­chen von Wild­frem­den. Pro­sit Neu­jahr. Ihren Freund würde sie am nächs­ten Abend an der Gare de l’Est wie­der­se­hen. Ihr Zug fuhr um 22.22 Uhr. Es blieb noch Zeit, zusam­men einen Grand crème zu trin­ken, sich zu umar­men, sich zu ver­ab­schie­den, sich Treue zu schwö­ren und ein­an­der das letzte Geld zuzu­ste­cken. Das neue Jahr würde zei­gen, was es brachte. Ach, es lag noch so viel Zeit vor ihnen! Ach, es war noch nicht aus und fer­tig. Ihre erste Liebe liess sich doch nicht an Syl­ves­ter begra­ben, vier Tage in Paris lies­sen die alte Lei­den­schaft auf­le­ben, es waren vier gewon­nene Tage.
Eine Liebe liess sich sehr wohl an Syl­ves­ter begra­ben, wusste sie genau zehn Jahre spä­ter. Aber das ist eine andere Geschichte. ♦


Paula KüngPaula Küng

Geb. 1944 in Budapest/H, Stu­dium der Roma­nis­tik, Ger­ma­nis­tik und Geschichte in Basel und Paris, Dr. phil., Prosa-Ver­öf­fent­li­chun­gen in Zeit­schrif­ten und Antho­lo­gien, wis­sen­schaft­li­che Buch-Publi­ka­tio­nen, lebt in Reinach/CH

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