Alexandra Lavizzari: Flucht aus dem Irisgarten

…und träumte sich die Seele wund

von Karin Afshar

Das Hard­co­ver-Buch “Flucht aus dem Iris­gar­ten” mit den elf Erzäh­lun­gen von Alex­an­dra Lavi­z­zari ist in die­sem Jahr erschie­nen, edel sieht es aus – die bei­den gra­zi­len Iris­blü­ten am rech­ten Rand erwe­cken den Ein­druck, als woll­ten sie sich aus dem Blick­feld steh­len, flüch­tig und nicht von die­ser Welt.

Alex­an­dra Lavi­z­zari (*1953 in Basel) ist eine Schwei­zer Schrift­stel­le­rin und Lite­ra­tur­kri­ti­ke­rin. Aus dem Klap­pen­text erfährt man, dass sie in Rom lebt, ver­hei­ra­tet ist und drei Kin­der hat; frü­her hat sie in Nepal, Paki­stan und Thai­land gelebt.
Die Erzäh­lun­gen zwi­schen den Buch­de­ckeln spie­len in der heu­ti­gen Zeit. Ihre Spra­che ist leicht, was nicht heisst, dass die Sätze ein­fach anein­an­der­ge­reihte Aus­sa­ge­sätze wären. Man­che muss ich mehr­mals lesen, um sie zu ver­ste­hen, denn sie sind lang, ver­schach­telt. Aber das tue ich gerne – sie schme­cken beim zwei­ten Hin­le­sen noch bes­ser, bekom­men eine je eigene Melodie.

Unbehagliche Entfremdung im Alltag

Alexandra Lavizzari: Flucht aus dem Irisgarten - Erzählungen - Zytglogge VerlagLavi­z­zari ent­wirft zunächst einen rea­lis­ti­schen Hin­ter­grund, vor dem sie dann die Gescheh­nisse ent­rollt. Es geht um Frauen, Män­ner, Kin­der, die sich in der eige­nen Haut nicht wohl füh­len, die nir­gends, vor allem nicht im Fami­li­en­kreis, hei­misch sind. Es sind Ent­wur­zelte in Basel oder im Tes­sin, in Schwe­den oder Süd­ita­lien: der jewei­lige Ort – ganz bestimmt nicht zufäl­lig gewählt – ist die Bühne, auf der sich die unbe­hag­li­che Ent­frem­dung im All­tag der Figu­ren abspielt. Flucht ist ihr Motiv, ein­mal als blinde, unbe­wusste Sehn­sucht nach dem Anderswo, ein ander­mal aus Angst, in einer Iden­ti­tät, die nicht als die eigene aner­kannt wird, erstar­ren zu müssen.

Loslassen alter Verletzungen

Es geht um das Los­las­sen alter Ver­let­zun­gen, um die Wei­ge­rung, zu ver­ges­sen (weil z.B. Ver­ges­sen Ver­rat sein könnte), es geht um das Ein­frie­ren in Gewe­se­nem, weil man dem Leben nicht traut, um das Nach­ge­ben einer Begierde gegen­über und den Preis, den man dafür bezah­len muss.
Jen­seits der Schleu­sen ins Unter­be­wusste grei­fen die Worte und Bil­der der Hier-Welt nicht mehr. Dafür braucht es “andere” Bil­der – eben über­na­tür­li­che. Es gelingt Alex­an­dra Lavi­z­zari in jeder Geschichte, im Leser die Ver­bin­dung zu arche­ty­pi­schen mensch­li­chen Geschich­ten her­zu­stel­len, ohne die pro­fa­nen Bezeich­nun­gen der Welt zu benut­zen. Sie tut es detail­reich, aber nie aufdringlich.

Geschichten mit archetypischem Gehalt

Alexandra Lavizzari - Glarean Magazin
Alex­an­dra Lavizzari

In der ers­ten Geschichte – “Schwim­men” – ist es ein Buch, in das sich die von ihrem Mann ‘Forelle’ genannte Else in ihrer Sehn­sucht nach dem Meer ver­senkt. Der erste Satz in die­sem Buch, den wir am Ende der Geschichte erfah­ren, setzt auch schon gleich eine erste Wege­marke durch das vor­lie­gende Buch: Wasser.
Was­ser ist das Ursym­bol des Lebens und lebens­spen­den­des Eli­xier. Es steht für Schöp­fung, Gebor­gen­heit, Rein­heit, Hei­lung und stellt die Ver­bin­dung zu etwas Gött­li­chem dar. Ohne Was­ser ist Leben auf die­ser Erde nicht vor­stell­bar. Was­ser, Meer, Schnee, Was­ser­fall, See – diese Bil­der zie­hen sich durch meh­rere der Geschich­ten – und sie füh­ren alle­samt in die Ver­gan­gen­heit der Prot­ago­nis­ten, in der etwas begra­ben und ver­sun­ken liegt. Das ist schlüs­sig, hat Was­ser doch auch mit dem Unbe­wuss­ten, dem vor der Zeit und dem nicht in der Zeit Lie­gen­den zu tun.

Verzaubernde Sprach-Gemälde

Die Geschichte “Flucht aus dem Iris­gar­ten”, der das Buch den Titel ver­dankt, hat vor­der­grün­dig nichts mit “Was­ser” zu tun, dafür mit einer wei­te­ren Alle­go­rie:  Der Gar­ten ist die Woh­nung der See­len, der Gärt­ner selbst ist der Schöp­fer des Lebens und in einem Gar­ten bil­den Men­schen das Para­dies nach. Doch lesen Sie selbst, was Alex­an­dra Lavi­z­zari mit den Bil­dern zaubert.
Sie zeigt auf die­sen fünf knap­pen Sei­ten das Kön­nen einer Schrift­stel­le­rin, die mit Spra­che malt und umsich­tig und klug genau das unge­sagt lässt, was der Leser in sich selbst fin­den muss. Diese Erzäh­lung ist m.E. die bild­haf­teste von allen.

Schicksalhaft verbundene Figuren

In der Erzäh­lung “In ihren Armen” ist es ein Umschlag mit Samen, der der Erzäh­le­rin über­reicht wird. Nun wer­den wir in eine Geschichte geführt, an deren Ende eine aus eben die­sem Samen her­vor­ge­gan­gene Zim­mer­pflanze in rasend schnel­lem Wachs­tum ein altern­des Ehe­paar umschlingt und erwürgt. Auch hier  das Bild des zur Pflanze wer­den­den Men­schen, des von der Pflanze ver­schlun­ge­nen Men­schen. Die Figu­ren der Geschichte sind auf schick­sal­hafte und unlös­bare Art mit­ein­an­der ver­bun­den. Die Geschichte liest sich nicht ganz so flüs­sig, aber das mag daran lie­gen, dass – obwohl die glei­che Spra­che – das Schwei­ze­ri­sche Aus­drü­cke kennt, die dem Deutsch­land-Deut­schen fremd sind.

Fazit-Banner - Glarean Magazin
Die schau­rig-span­nen­den Erzäh­lun­gen in Alex­an­dra Lavi­z­za­ris “Flucht aus dem Iris­gar­ten” haben mich nicht los­ge­las­sen, bis ich das Buch aus­ge­le­sen hatte. Der Ver­such, es aus der Hand zu legen, schei­terte, aber als ich schliess­lich doch die letzte Zeile gele­sen hatte, war mir, als stünde da: “Ich bin das Meer”. (Karin Afshar)

In “Spie­gel­spiel” geht es um einen Schlüs­sel, von dem der Leser bald ahnt, dass er zum Zim­mer des jün­ge­ren Soh­nes gehört, der acht Jahre zuvor Selbst­mord began­gen hat. Schlüs­sel wie auch Spie­gel – Allegorien.
In den Meta­phern und Alle­go­rien schim­mert Lavi­z­za­ris “per­si­sche Geschichte” durch. Sie hat Über­set­zun­gen aus dem Per­si­schen (Warqa und Gul­schah von Ayy­uqi, lite­ra­ri­sche Über­set­zung aus dem Per­si­schen, 1992) ver­öf­fent­licht und sich als Eth­no­lo­gin und Islam­wis­sen­schaft­le­rin ganz gewiss mit den Meta­phern sowohl des Koran, als auch der per­si­schen Lyrik und Mys­tik auseinandergesetzt.

Schaurig-spannende Erzählungen

Beim Lesen legt sich bald eine melan­cho­li­sche Stim­mung aufs Gemüt, denn fast alle Schick­sale mün­den in Tra­gö­dien, oder blei­ben zumin­dest offen, was nicht unbe­dingt Raum für Hoff­nung lässt. “Cris­tal­lina” – letzte Erzäh­lung des Ban­des – lässt hin­ge­gen nichts offen. Ein Mann, der über eine vor 28 Jah­ren ver­schwun­dene Dich­te­rin seine Dis­ser­ta­tion geschrie­ben hat, kommt in das Berg­dorf, in dem man die Ver­stor­bene zuletzt gese­hen hat. Er recher­chiert vor­sich­tig, unauf­dring­lich, aber doch deut­lich. Und die behin­derte Toch­ter des Her­bergspaa­res, das nicht unver­däch­tig ist, hilft ihm, ohne zunächst zu ahnen, dass beide den­glei­chen Men­schen mei­nen. In sei­nem Ehr­geiz, mehr Infor­ma­tio­nen zu bekom­men, legt der Fremde einen Köder aus, mit dem nun end­gül­tig die die Betei­lig­ten über­for­dernde Ver­gan­gen­heit ans Licht kommt. Enden kann dies nur auf eine ein­zige Weise. Der Kris­tall ist ein peri­odisch geord­ne­tes Sys­tem mit Git­ter­struk­tur – und: Leben heisst Struk­tu­ren wan­deln, Ster­ben heisst, sich nicht mehr zu verändern.

Die schau­rig-span­nen­den Erzäh­lun­gen haben mich nicht los­ge­las­sen, bis ich das Buch aus­ge­le­sen hatte. Der Ver­such, es aus der Hand zu legen, schei­terte, aber als ich schliess­lich doch die letzte Zeile gele­sen hatte, war mir, als stünde da: “Ich bin das Meer”. ♦

Alex­an­dra Lavi­z­zari, Flucht aus dem Iris­gar­ten, Erzäh­lun­gen, 180 Sei­ten, Zyt­glogge-Ver­lag, ISBN 978-3-7296-0802-3

Lesen Sie im Glarean Maga­zin aus dem Zyt­glogge Ver­lag auch über den Roman von The­rese Bich­sel: Gross­fürs­tin Anna

… sowie zum Thema Schwei­zer Autoren über den Roman von Arno Camen­isch: Gol­dene Jahre

Ein Kommentar

  1. Oh das klingt sehr span­nend. Ich werde mir das Buch sicher besor­gen und es lesen.
    Vie­len Dank für die aus­führ­li­che Buchbesprechung!

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)