Leó Weiner & Franz Liszt: Orchester-Werke (CD)

Geträumte Ideale vergangener Schönheit

von Markus Gärtner

Als ich 2006 zum Inter­na­tio­na­len Liszt-Wett­be­werb – einer bedeu­ten­den Kla­vier-Com­pe­ti­tion – in Wei­mar weilte, stand auf dem Pro­gramm des die Gross­ver­an­stal­tung beglei­ten­den Fest­kon­zer­tes Leó Wei­ners Orchestra­tion von Franz Liszts h-Moll-Kla­vier­so­nate. Was das wohl sei? Dies frag­ten sich nicht nur Fes­ti­val-Besu­cher, son­dern auch Pro­fes­so­ren der Franz-Liszt-Hoch­schule, Mit­glie­der der Franz Liszt-Gesell­schaft und sons­tige aus­ge­wie­sene Liszt-Exper­ten der so Liszt-hal­ti­gen Kul­tur­stadt Wei­mar. Und wenn schon Fach­leu­ten ein Fra­ge­zei­chen vor Augen steht, wenn es um Leó Wei­ner geht, so ist es umso ver­ständ­li­cher, dass die­ser Kom­po­nist an der Wahr­neh­mung wei­ter musik­in­ter­es­sier­ter Kreise erst recht vor­bei­ge­gan­gen ist. Aus­ser­halb sei­ner unga­ri­schen Hei­mat blieb er bis heute ein Unbe­kann­ter, den das so viel­schich­tige und in sei­nen musi­ka­li­schen Strö­mun­gen so diver­gente 20. Jahr­hun­dert ver­schluckt hatte.

Leo Weiner - Laszlo Kovacz - North Ungarian Symphony OrchestraImre Fabian bemerkt in sei­nem 1965 in The Musi­cal Quar­terly ver­öf­fent­lich­ten Auf­satz “Modern Hun­ga­rian Music”, Leó Wei­ner (1885–1960) “was more a drea­mer about past ide­als of beauty than a map­per of new roads for the future” (S. 206). Er gehörte damit zu dem Strang vor allem ost­eu­ro­päi­scher Kom­po­nis­ten, die sich den Mate­ri­al­ent­wick­lun­gen der ers­ten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts nicht unter­ord­nen woll­ten und des­halb, wie z.B. Josef Suk, Josef Bohus­lav Foers­ter oder – not­ge­drun­gen – die Kom­po­nis­ten des Sowjet­sys­tems, an einer spät­ro­man­ti­schen, mög­li­cher­weise impres­sio­nis­tisch geschärf­ten Ton­spra­che festhielten.

Ganz der Tradition der Nationalen Schulen im 19. Jahrhundert verpflichtet

Leo Weiner
Leo Wei­ner (1885-1960)

Der spä­ter als Musik­päd­agoge ein­fluss­rei­che Wei­ner stu­dierte zusam­men mit Béla Bar­tók und Zol­tán Kodály von 1901 bis 1906 an der Buda­pes­ter Musik­aka­de­mie, wo er 1908 als Theo­rie­leh­rer, dann 1912 als Pro­fes­sor für Kom­po­si­tion ange­stellt wurde. 1920 kam noch eine Pro­fes­sur für Kam­mer­mu­sik (György Kur­tág besuchte diese Klasse) hinzu. Mit Bar­tók und Kodály ver­band ihn zwar das Inter­esse an natio­na­ler Volks­mu­sik – er lei­tete dar­aus aber keine eigene Feld­for­schung, noch weni­ger, wie seine Kol­le­gen, eine Revi­sion des Ton­sys­tems ab. Viel­mehr blieb er der Tra­di­tion der Natio­na­len Schu­len des 19. Jahr­hun­derts ver­pflich­tet, die er z.B. in sei­ner Sym­pho­ni­schen Dich­tung “Toldi” op. 43, sei­nem opus magnum, mus­ter­gül­tig, man könnte auch sagen: for­mel­haft einlöste.

Das Label “Hun­ga­roton Clas­sic” ver­öf­fent­licht nun bereits seit eini­gen Jah­ren das Orches­ter­werk Wei­ners, immer mit dem North Hun­ga­rian Sym­phony Orches­tra unter der Stab­füh­rung László Kovács’ (so z.B. 2008 die bereits erwähnte Sym­pho­ni­sche Dich­tung). Doch bis heute hat es gedau­ert, den wohl viel­ver­spre­chends­ten Link zur eta­blier­ten Musik­ge­schichte, eben die Bear­bei­tung von Liszts h-Moll-Sonate ins Ren­nen zu schi­cken. Ein Grund für solch späte Publi­ka­tion in der Reihe will einem nicht ein­fal­len, viel­mehr ist es ein Ver­säum­nis, nicht gleich von Anfang an auf diese Ver­bin­dungs­stelle hin­ge­wie­sen zu haben. Denn so wert­voll Neu­ent­de­ckun­gen an sich auch sein mögen, sie benö­ti­gen einen Anker­platz im Hafen des musi­ka­li­schen Kanons, um sich von hier aus wei­te­ren Inspek­tion unter­zie­hen zu kön­nen. So greife ich an die­ser Stelle die Frage der oben erwähn­ten Wei­ma­rer Liszt-Kapa­zi­tä­ten nach der künst­le­ri­schen Ver­fasst­heit die­ser 1955 ent­stan­de­nen Orches­ter­tran­skrip­tion auf.

Sinnierende Streicher und Holzbläser in sattes Blech gekleidet

Anfang der Lisztschen h-moll-Klaviersonate:
Anfang der Liszt­schen h-moll-Kla­vier­so­nate: “Chan­gie­ren zwi­schen Strei­chern und Holzbläsern”

Wei­ner lässt Liszts berühm­ten sin­nie­ren­den Anfang zwi­schen Strei­chern und Holz­blä­sern chan­gie­ren, um die fol­gen­den auf­trump­fen­den Ges­ten, die schon im Kla­vier­satz nach Fan­fa­ren klan­gen, in satte Blech­blä­ser zu klei­den. Natür­lich erschei­nen Kan­ti­le­nen mal in der Solo­vio­line, dann in der Kla­ri­nette, und Liszts flir­rende Tas­ten­kas­ka­den lie­fern die Gele­gen­heit, immer wie­der Flö­ten tril­lern zu las­sen. Das hätte Liszt selbst womög­lich gefal­len, legt es doch die Asso­zia­tion zu Vogel­ge­zwit­scher noch näher, als es die Kla­vier­kom­po­si­tion selbst tut und lie­fert damit Hin­weise auf die Ver­bin­dung von Sonate und den Fran­zis­kus-Legen­den, denen nach­zu­ge­hen lohnte.
Doch in solch gut durch­hör­ba­ren Pas­sa­gen liegt auch die Krux einer der­art rou­ti­nier­ten Arbeit, die Liszts dunk­len Orches­ter­sound, den er in so vie­len Sym­pho­ni­schen Dich­tun­gen gepflegt hat, mit­un­ter ein wenig ver­wäs­sert. Unwahr­schein­lich, dass der Meis­ter gerade bei einer der­art schwer­ge­wich­ti­gen Gat­tung wie einer Sonate luf­ti­ger als sonst instru­men­tiert hätte. Inso­fern träumt Wei­ner hier eben nicht den his­to­risch-kri­ti­schen, son­dern den bereits idea­li­sier­ten Traum einer gros­sen Ver­gan­gen­heit, wel­cher Liszts Stör­po­ten­zial in Schön­heit einebnet.

Frankophile Wurzeln eines eigenständigen Impressionismus

Umso erstaun­li­cher, dass Wei­ner in sei­nen eige­nen Schöp­fun­gen einen etwas ande­ren Weg geht. Gerade im frü­hen “Pre­ludio, Not­turno e Scherzo dia­bo­lico” greift er ganz unver­krampft auf die Klang­welt des Impres­sio­nis­mus (Quar­ten­ak­korde, Kurz­mo­ti­vik, Har­fen­ko­lo­rit) zurück. Hier klingt Wei­ner mehr nach Claude Debussy oder Flo­rent Schmitt und zeigt dabei seine fran­ko­phi­len Wur­zeln, die einem eng­stir­ni­gen Natio­na­lis­mus ost­eu­ro­päi­scher Gang­art ent­ge­gen­ste­hen. In der Orches­ter­mi­nia­tur “Toy Sol­diers” setzt Wei­ner dage­gen auf mög­li­cher­weise vor­sätz­lich kli­schee­haft kal­ku­lierte, kind­lich-naive Ton­ma­le­reien in der Tra­di­tion der Bat­ta­glia – inklu­sive mili­tä­risch kon­no­tier­ten Trom­mel­wir­beln zu Beginn.

Das North Hun­ga­rian Sym­phony Orches­tra bie­tet unter dem Diri­gen­ten László Kovács eine sehr lobens­werte Vor­stel­lung. Deut­schen Orches­tern die­ser Grös­sen­ord­nung weit vor­aus, lässt es an kei­ner Stelle der Über­le­gung Platz, hier würde ein Klang­kör­per sich über die eige­nen Fähig­kei­ten hin­aus zu pro­fi­lie­ren ver­su­chen. Der Zugriff ist immer kom­pe­tent, oft­mals ange­mes­sen klang­schwel­ge­risch und immer pro­fes­sio­nell. Orches­ter und Diri­gent stel­len sich damit nach­drück­lich in den Dienst der Wie­der­ent­de­ckung Leó Wei­ners, des­sen Musik­spra­che sicher­lich einer erneu­ten Begut­ach­tung wür­dig ist. Alles wei­tere ent­schei­det nun der Rezipient. ♦

North Hun­ga­rian Sym­phony Orches­tra, Lásló Kavács (Diri­gent): Leó Wei­ner, Pre­ludio – Not­turno e Scherzo dia­bo­lica – Pas­sa­ca­glia – Toy Sol­diers; Orches­ter­fas­sung von Liszts Sonata in B minor, Hun­ga­roton Clas­sic HCD 32634 (2010)

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema Ost­eu­ro­päi­sche Kom­po­nis­ten auch über Hanna Bach­mann (Piano): Janacek, Ull­mann u.a. (CD)

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