Walter Eigenmann: Der Chor in der romantischen Oper

Vom “Gefangenen”-Hymnus zum “Zigeuner”-Kolorit

von Wal­ter Eigenmann

Die “ro­man­ti­sche” Oper, also jene mu­sik­thea­tra­li­sche Aus­prä­gung, wel­che die “erns­te” Büh­nen­mu­sik fast des ge­sam­ten 19. Jahr­hun­derts be­herrsch­te, ist so­wohl sti­lis­tisch wie in­halt­lich nicht ein­heit­lich zu fas­sen. Zwi­schen etwa Carl Ma­ria von We­bers “deutsch”-volksliedhaft ge­hal­te­nem “Frei­schütz” (1821 ur­auf­ge­führt) und Bi­zets “französisch”-effektreicher “Car­men” (1875) oder zwi­schen der chro­ma­tisch stark ge­bro­che­nen, “dra­ma­ti­schen” Har­mo­nik in Wag­ners “Tann­häu­ser” (1845) und dem ita­lie­nisch-glut­vol­len, po­pu­lä­ren Ari­en-Me­los z.B. ei­nes Verdi-“Trovatore” lie­gen Welten.

Richard Wagner - Tannhäuser-Aufführung in Bayreuth - Glarean Magazin
Der Chor als Hand­lungs-Es­senz in der Oper: Bay­reu­ther In­sze­nie­rung von Wag­ners “Tann­häu­ser”

Schon der (ur­sprüng­lich li­te­ra­risch ge­mein­te) Be­griff der “Ro­man­tik” ist ideen­ge­schicht­lich wi­der­sprüch­lich. Im­mer­hin sind etwa, in deut­li­chem Un­ter­schied zur vor­aus­ge­gan­ge­nen “Klas­sik”, ein ex­tre­mes Aus­drucks­be­dürf­nis, die Ent­gren­zung des Sub­jekts, eine teils bei­na­he mär­chen-haf­te Welt­sicht, die na­tur­be­zo­ge­ne Idyl­lik, so­wie die For­de­rung nach Ori­gi­na­li­tät und Neu­heit der Wer­ke, ge­kop­pelt mit his­to­ri­sie­ren­den Ten­den­zen, als die we­sent­li­chen ( wenn hier auch stark ver­ein­fach­ten) Stich­wor­te im “Pro­gramm” der Ro­man­ti­ker zu nennen.

Besinnung auf das “geschichtliche Erbe” in den “national-romantischen” Strömungen

Iphigenie in Aulis - Euripides - Chor der Chalkidischen Frauen - Glarean Magazin
Der Chor nicht als Hand­lungs-Trä­ger, son­dern als Er­zähl-In­stanz: Chal­ki­di­sche Frau­en in Eu­ri­pi­des’ “Iphi­ge­nie in Aulis”

Als ein be­son­ders fa­cet­ten­rei­cher Aspekt der Oper im 19. Jahr­hun­dert müs­sen, als Aus­druck der da­ma­li­gen all­ge­mei­nen Be­sin­nung auf das “ge­schicht­li­che Erbe”, noch ihre “na­tio­nal-ro­man­ti­schen” Strö­mun­gen – die ita­lie­ni­schen (Ver­di), deut­schen (Wag­ner), fran­zö­si­schen (Bi­zet) und sla­wi­schen (Sme­ta­na) “Schu­len” – mit je spe­zi­fi­schem Klang- und Me­lo­dien-Ko­lo­rit er­wähnt werden.

Der Opern-Chor als politischer Verkünder

Dem Chor kommt da­bei in der ro­man­ti­schen Oper, aus­ge­hend von sei­ner wich­ti­gen Rol­le in der grie­chi­schen Tra­gö­die, den geist­li­chen und welt­li­chen Spie­len des Mit­tel­al­ters oder den Mas­ken- und Tri­umph­zü­gen der Re­nais­sance, eine be­son­de­re, teils gar tra­gen­de Be­deu­tung zu. Ge­ra­de in der Ro­man­tik wird er nicht sel­ten zum ei­gent­li­chen Ver­kün­der und Trä­ger des “po­li­ti­schen” Ge­halts ei­ner Oper, oft zum tri­um­pha­len Mas­sen-Spek­ta­kel, wel­ches die Botschaft(en) des Wer­kes hun­dert­köp­fig mul­ti­pli­zie­ren soll.

Richard Wagner: Partitur-Auszug des Tannhäusers (Sängerkrieg auf der Wartburg)
Ri­chard Wag­ner: Par­ti­tur-Aus­zug des Tann­häu­sers (Sän­ger­krieg auf der Wartburg)

Flieg, Gedanke”: Heimliche Nationalhymne Italiens

Verdi - Gefangenen-Chor aus Nabucco - Glarean Magazin
Der Chor als po­li­ti­scher Ka­ta­ly­sa­tor: “Ge­fan­ge­nen-Chor” aus Verdi’s “Na­buc­co”

Als bei­spiels­wei­se 1842 in Mai­land erst­mals Ver­dis welt­be­rühm­ter Ge­fan­ge­nen-Chor aus “Na­buc­co” (“Va pen­sie­ro sull’ali do­ra­te” / “Flieg, Ge­dan­ke, auf gold­nen Flü­geln”) er­klang, wuss­te ganz Ita­li­en so­fort, für wel­chen Kampf die­ser Hil­fe­ruf stand; “Va pen­sie­ro” wur­de zum mu­si­ka­li­schen Ban­ner des “Ri­sor­gi­men­to” – und blieb bis heu­te die heim­li­che Na­tio­nal­hym­ne Italiens… ♦

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin auch über die Be­deu­tung des Po­li­ti­schen in der früh­ro­man­ti­schen Oper: La Muet­te de Portici


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