Christa Degen: Isla de Los Lobos (Kurzprosa)

Isla de Los Lobos

Christa Degen

Ein blei­grauer Mor­gen. Ich suche einen Park­platz auf dem rie­si­gen Büro­ge­lände, stelle mei­nen Fir­men­wa­gen ab, eile an all den Men­schen vor­bei, die pflicht­be­wusst zur Arbeit schrei­ten, grüsse aus der Ferne bekannte Gesich­ter und ver­liere für Sekun­den­bruch­teile das Bewusstsein.
Wo bin ich? Ach so, ja. Auf dem Weg zum Flug­ha­fen, in den Urlaub. Und das hier ist meine Firma. Nein, Ex-Firma – und das meine Ex-Kol­le­gen, die ich gerade gegrüsst habe. Alles wirkt so unwirk­lich wie ein Film, den ich nur noch aus den Augen­win­keln wahr­nehme, wäh­rend ich mich schon etwas ande­rem zuwende. Die Ver­bin­dung zu die­sen Büro­ge­bäu­den, der Firma, den Men­schen, mit denen ich fünf Jahre zusam­men­ge­ar­bei­tet habe, ist nicht mehr. Auf einen Schlag, mit mei­ner Unter­schrift unter die Kün­di­gung, sind alle Fäden durch­ge­schnit­ten. Schwe­re­los und ohne Ver­an­ke­rung eile ich zur U-Bahn.
Am Flug­ha­fen Tegel herrscht mor­gens um halb zehn Hoch­be­trieb. In der Mitte der lan­gen Schlange vor Schal­ter 12 war­tet Eva schon, begrüsst mich mit ihrem war­men Lächeln. Sie sieht müde aus. Ihr lin­kes Auge hin­ter der Brille ist ent­zün­det, ihre Haare erschei­nen mir grauer als sonst. Wahr­schein­lich sehe ich so ähn­lich aus.
Sie lächelt tap­fer in mein sor­gen­vol­les Gesicht: “Das wird schon wie­der. Ein­fach mal zwei Tage durch­schla­fen, dann bin ich wie­der fit”.
“Nur Sonne und Nichts­tun. Das wird uns gut tun”, kalauere ich.
Der Rest der Schlange ist schnell abge­fer­tigt. Wir geben unser Gepäck ab, bekom­men unsere Bord­kar­ten und lau­fen durch den lan­gen, kreis­för­mi­gen Gang. Rau­chend und Kaf­fee trin­kend sit­zen wir an einem der Bis­tro-Tisch­chen in der Vor­halle. Ich erzähle, dass ich seit einer Woche arbeits­los bin.
“Ja, das kam über­ra­schend. Ich habe die Kün­di­gung akzep­tiert, weil ich die Zusage für einen neuen Job hatte. Aber dann wurde sie plötz­lich zurück­ge­nom­men… Mal sehen, was jetzt kommt. Viel­leicht habe ich es so gewollt. Ein Sab­bat­jahr, eine Aus­zeit, die Kar­ten neu mischen.”
Eva sieht mich mit­lei­dig an, nicht über­zeugt von mei­nem Opti­mis­mus. Das wird mir jetzt noch öfter so gehen. Ich werde mir Worte, glaub­hafte Sätze für meine Situa­tion zurecht­le­gen müs­sen, damit ich Fra­gen wie: “Was treibst du so? Was machen Sie beruf­lich?” schnell und pro­blem­los beant­wor­ten kann.
Im Flug­zeug über­lässt mir Eva gross­zü­gig den Fens­ter­platz. Wir bekom­men zu essen, trin­ken Sekt und stos­sen auf unse­ren Urlaub an, wäh­rend der Flug­ka­pi­tän die Route auf Säch­sisch erläu­tert: “Zürich – Lyon – die Pyre­näen – Gibral­tar – Cas­sablanca – Aga­dir…” Ich lehne mich zurück. End­lich alles hin­ter mir las­sen. Das ganze letzte Jahr, den Ter­ror in der Firma, das “Stahl­bad kol­lek­ti­ven Män­ner­mob­bings”, wie es eine “Spiegel”-Redakteurin nennt, die rigi­den Ver­hal­tens­re­geln im Ver­trieb. Von Ferne höre ich die Sicher­heits­er­läu­te­run­gen der Ste­war­dess: “Sau­er­stoff­maske über Ihnen, Schwimm­weste unter Ihrem Sitz.”
Als ich die Augen wie­der öffne, sehe ich durch die Fens­ter­luke die Meer­enge von Gibral­tar. Tief­blaues Meer, steif wie ein Brett, Schiff­chen, die im Zeit­lu­pen­tempo ihre zar­ten Spu­ren zie­hen. Dann die rie­si­gen, kha­ki­brau­nen Gebirgs­ket­ten des Hohen Atlas, und wie­der Meer, end­lo­ses Meer…
Plötz­lich redet jemand auf­ge­regt auf mich ein: “Sau­er­stoff­maske, Schwimm­weste!” Eva zieht hef­tig an den Schnü­ren ihrer oran­ge­ro­ten Plastikweste.
“Was ist denn los?”
“Keine Ahnung. Sie sagen, nur eine Vorsichtsmassnahme.”
Ein Knall betäubt mein Trom­mel­fell, ein unge­heu­rer Druck schleu­dert mich gegen etwas Har­tes, ich sehe Flam­men, und falle in ein schwar­zes Loch. Dann ist es kalt, eiskalt. –
Als ich wie­der zu mir komme, treibe ich allein in einer blauen Weite. Ich sehe mich um. Das Meer. Ich scheine zu leben. Meine Glie­der hän­gen wie leb­los im Was­ser. Ich hebe den rech­ten Arm. Er lässt sich trotz des schwe­ren, nas­sen Kos­tüm­stof­fes bewe­gen. Auch der andere Arm rührt sich. Meine Zähne klap­pern. Die auf­ge­bla­sene Schwimm­weste ist fest um meine Brust gezurrt. Ich muss die schwe­ren Klei­der­fet­zen los­wer­den, sonst kann ich nicht schwim­men. Der linke, zeris­sene Ärmel hängt nur noch an ein paar Fäden und lässt sich leicht lösen. Oh, mein Gott! Was mache ich eigent­lich? Wohin will ich denn schwim­men? Weit und breit ist nichts zu sehen. Ich treibe wie ein win­zi­ger Kork im Ozean.
Werde ich je irgendwo lan­den, bevor ich vor Kälte, Durst, Hun­ger…? Ich schliesse die Augen. Es hat kei­nen Zweck. Ich kann auch gleich auf das Ende war­ten. Meine Toch­ter fällt mir ein, mein Ex-Mann, den ich immer noch liebe.
Da bewegt sich ein brau­nes Etwas am Rand mei­ner Netz­haut. Eine Fata Mor­gana? Ein gros­ser Fisch? Es wird grös­ser, scheint auf mich zuzu­steu­ern. Ein Boot? Mein Herz häm­mert in mei­nem erstarr­ten Kör­per. Ich erkenne Ruder. Ret­tung? Kann man mich denn sehen?
Ich reisse den ande­ren Ärmel­fet­zen ab und ver­su­che das trie­fende Ding in die Höhe zu hal­ten. Aber mein Arm sinkt kraft­los ins Was­ser zurück. Ich will rufen. Aber aus mei­ner Kehle kommt nur ein Keu­chen, meine Stimme gehorcht mir nicht mehr. Ich kann nur abwar­ten. Noch nie bin ich dem Schick­sal­sen­gel so direkt gegen­über­ge­stan­den. Was hat er oder sie mit mir vor? Ich spüre nur noch einen Wunsch: Die­ser unend­li­chen Ver­las­sen­heit, die­sem ver­nich­ten­den Gefühl von Win­zig­keit zu entkommen.
Das Boot wird grös­ser. Jetzt erkenne ich eine Gestalt, die mit kräf­ti­gen Schlä­gen in meine Rich­tung rudert.
“Hola?”
Eine Män­ner­stimme schallt über das Meer. Wo bin ich? Ist das Spa­nisch oder Arabisch?
“Hola, hola!” Meine Stimme funk­tio­niert wie­der. Ich schreie vor Freude, kann gar nicht mehr aufhören:
“Hola, Ola, Ola…”
Ein Lachen quillt aus mei­ner ver­eis­ten Brust. Habe ich den Ver­stand ver­lo­ren? Das Boot ist jetzt fast in Reich­weite. Ich paddle dar­auf zu.
“Venga, venga!”
Ein dun­kel­häu­ti­ger Mann beugt sich über den Boots­rand und streckt mir die Hand ent­ge­gen. Als ich sie ergrei­fen will, fühle ich mich schwer wie ein Mühlstein.
“Dé me una mano!”
Er deu­tet mit dem Kinn auf meine andere Hand und zerrt mich aller Kraft über den Boots­rand. Ich plumpse auf den Holz­bo­den und bleibe lie­gen wie ein Fisch, der aus sei­nem Ele­ment gezo­gen wurde und in sei­nen letz­ten Zuckun­gen liegt. Der Mann legt eine Art Bur­nus um mich, kramt eine Fla­sche her­vor und hält sie mir an den Mund.
“Beba!”
Mein Gehirn gibt mir den Befehl zuzu­grei­fen. Aber mein Arm bewegt sich nicht. Hilf­los bli­cke ihn an. In sei­nen dunk­len Augen blitzt es auf. Er schiebt einen Arm unter mei­nen Nacken, rich­tet mich auf und hält mir die Fla­sche an die Lip­pen. Fri­sches, kla­res, salz­lo­ses Was­ser rinnt in meine Kehle. Als die Fla­sche leer ist, schenke ich ihm mit mei­nen ris­si­gen Lip­pen ein müh­sa­mes Lächeln und sinke zurück auf den Boden. Beim Weg­däm­mern spüre ich, wie er mir die nass­kal­ten Klei­der­reste vom Leib schält. Die Berüh­rung sei­ner Hände ver­wan­delt meine kör­nige Fisch­haut wie­der in glat­tes Fleisch. Ich atme, lebe, habe über­lebt. Ein­ge­hüllt in sei­nen Umhang aus Zie­gen­haar schlafe ich ein.
Als ich wie­der auf­wa­che, sehe ich einen Ober­schen­kel. Meine Augen fol­gen sei­nen mus­ku­lö­sen Linien, den in der Sonne schim­mern­den Här­chen auf der brau­nen Haut. Der Mann spürt mei­nen Blick, dreht sich um, sieht meine ver­grös­ser­ten Pupil­len und lächelt. Ich lasse den Umhang von mei­nen Schul­tern glei­ten. Er legt die Ruder auf die Boots­plan­ken und streckt mir die Arme ent­ge­gen. Boot und Meer schau­keln in einem gleich­mäs­si­gem Rhyth­mus. Wind über unse­ren Kör­pern. Wir sind Teil der Ele­mente, Sonne, Was­ser und… Ist Liebe ein Element?
Wie­der ein­ge­hüllt in den Zie­gen­um­hang sehe ich Guancho (ich habe ihm einen Namen gege­ben) zu, der jetzt ein Ziel ansteuert.
“Isla de Los Lobos.”
Er zeigt nach vorn:.

Isla de Los Lobos - Fuerteventura - Glarean Magazin

Die Insel sieht aus wie eine Mond­land­schaft. Schwarz­braune Berge, deren gezackte Hänge nur aus Stei­nen bestehen. Das Licht auf dem Geröll wirkt über­klar wie unter Was­ser. Davor gold­gelbe Dünen, die in hell­grüne Wel­len über­ge­hen. Im Innern der Insel Pal­men und ein paar weisse Wür­fel, deren Mau­ern vor dem tief­blauen Him­mel vibrie­ren, als schweb­ten sie im mil­chi­gen Licht.
Guancho steu­ert das Boot an den Strand. Wir waten durch knie­ho­hes Was­ser in Rich­tung Oase. Ich ziehe den Umhang fes­ter um mich, als wir das kühle Dun­kel eines Hau­ses betre­ten, erkenne Holz­ti­sche, Män­ner, die her­um­sit­zen. Guancho schiebt mich in den hin­te­ren Teil des Rau­mes und bedeu­tet mir, Platz zu neh­men. Er streift flüch­tig mit der Hand meine Wange und ver­schwin­det hin­ter einer Tür. Die Män­ner star­ren mich an.
Nach einer Weile kommt eine Frau mit einem Tel­ler und einem Glas Wasser.
“Sopa de Marisco. Coma!”
Gie­rig löffle ich die damp­fende Fisch­suppe, schlürfe das Muschel­fleisch, nage an den Krab­ben­bei­nen. Meine letzte Mahl­zeit war in einem andern Zeitalter.
Als ich das Glas Was­ser hin­un­ter­kippe, setzt sie sich zu mir:
“El barco a Fuer­te­ven­tura viene den­tro de poco.”
Ich ver­stehe. Das Schiff nach Fuer­te­ven­tura. Ich sehe mich um. Der nied­rige Raum ist leer gewor­den. Guancho ist ver­schwun­den und die Män­ner sind zur Arbeit gegan­gen. Die Frau nickt mir auf­mun­ternd zu und geht hin­ter einem bun­ten Tuch ins Freie. Ich folge ihr. Blind von dem strah­len­den Licht lehne ich mich an die Haus­wand, schliesse die Augen.
Als ich sie wie­der öffne, ist kein Mensch mehr zu sehen. Ich laufe in Rich­tung Strand. Zu mei­ner Rech­ten und Lin­ken die Wüste, vor mir das grüne Meer, das am Hori­zont mit dem Blau des Him­mel ver­schmilzt. Durch­sich­tige Wel­len umspie­len meine nack­ten Füsse.
Nein, nein, nein. Ich will nicht mit dem Schiff zurück in die Zivi­li­sa­tion! Das Meer hat mich geschluckt und wie­der aus­ge­spuckt, Wind und Liebe mich gewärmt und getrock­net. Meine Fuss­spu­ren ver­lie­ren sich im Sand.
“Puerto del Rosario!”
Eva lächelt mich an: “Wir sind da.” ♦


Christa DegenChrista Degen

Geb. 1951 in Karls­ruhe, Stu­dium der Ger­ma­nis­tik und des Crea­tive Wri­ting; lang­jäh­rige Tätig­keit als Leh­re­rin und im EDV-Ver­trieb, Kurz­prosa in Zei­tun­gen und Antho­lo­gien, arbei­tet heute als freie Autorin und Anlei­te­rin lite­ra­ri­scher Schreib­werk­stät­ten in Tübin­gen, Ber­lin und Italien

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