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Im Labyrinth der Schachgeschichte
von Mario Ziegler
Kennen Sie Anna Votruba? Oder Theophilus Thompson? Ich gestehe, dass ich die beiden Namen vor dieser Rezension noch nie gehört hatte, und das Fehlen eines Eintrags auf Wikipedia deutet darauf hin, dass es vielen anderen ähnlich geht. Beide sind in einem Werk mit Kapiteln bedacht worden, das bereits durch seinen Titel Ungewöhnliches in Aussicht stellt: “SMadness – Von Schönheit und Schrecken des Schachspiels”. Verfasser sind die beiden Wiener Schachhistoriker Michael Ehn und Ernst Strouhal, die seit 30 Jahren die Schachrubrik der Wiener Zeitung “Der Standard” betreuen.
Weit mehr als 1’500 Artikel aus der Feder der beiden Autoren Ehn und Strouhal sind so bisher entstanden, von denen 180 im Werk “S/Madness” vereinigt wurden. Aus der gleichen Quelle, doch in gänzlich anderer Form, entstand das Werk “en passant” (Wien 2010), in dem auf einer beigelegten DVD Digitalisate aller Kolumnen des Zeitraums 1990-2010 bereitgestellt werden; das gedruckte Werk liefert lediglich die Register und Lösungen der Aufgaben.
“Zettel’s Traum” als Titelgeber
Der ungewöhnliche Titel wurde nach einem Kunstwort aus dem 1970 erschienenen Roman “Zettel’s Traum” des deutschen Schriftstellers Arno Schmidt gewählt: “…ein Wort, das gleichzeitig lesbar ist als Verrücktheit und Melancholie. Wie kein anderes charakterisiert es in idealer Weise auch das Schachspiel: Es vermittelt die Simultaneität von Überschwang und Traurigkeit, es ist gefährliche Leidenschaft und pure Freude, in manchen Lebenslagen Trost, in anderen Droge” (S. 7). Dieser gelegentlich manisch-depressive Charakter des Schachs und seiner Protagonisten spiegelt sich auf vielen Seiten des Werks wider.
Das Erscheinungsbild des Buches ist in jeder Hinsicht erstklassig: Hardcover-Einband in Ganzleinen, 604 Seiten mit zahlreichen Abbildungen; auch die beiden Lese-Bändchen tragen zu dem äußerst erfreulichen optischen Eindruck bei.

Inhaltlich sind die Kapitel in acht Abschnitte aufgeteilt, in denen sie aber keiner erkennbaren chronologischen oder thematischen Ordnung folgen. So finden sich in Abschnitt 1 unter dem Titel “Keine Angst” Vera Menchik, Fernando Arrabal, das “Buch der Spiele” von Alfons dem Weisen, Adolf Anderssen, Sonja Graf-Stevenson, Lew Tolstoi und der lebenslang inhaftierte Mörder Claude Bloodgood vor 14 weiteren, ähnlich disparaten Themen.
Der Anfang im Wiener Vorstadt-Schachklub
Ausgangspunkt der Zusammenarbeit beider Autoren ist ihr sehr persönlicher Zugang zum Schach im Jahre 1971, als sie sich in einem Wiener Vorstadt-Schachklub begegneten. “Bald begleiteten uns statt Janis Joplin und George Harrison zwei andere Lichtgestalten durch die Tage und Nächte: Da war Boris Spasski, der König, der Künstler, der Unbeschwerte, und da war vor allem Michail Tal, der große Zauberer. (Den schlaksigen Amerikaner, der mit schierer Gewalt alle in Grund und Boden kämpfte, mochten wir nicht)” (S. 19). Es folgen zwei Partien des Schachzauberers Tal.
Diesem Schema entsprechen alle Kapitel: Ein Text stellt ein bestimmtes Thema – oft eine Person – in den Mittelpunkt, danach folgen Partien oder Schachprobleme, die in aller Regel im Zusammenhang mit dem Text stehen. Abgerundet wird das Werk durch ein umfangreiches Verzeichnis der Literatur und Quellen, der Abbildungen sowie ein Personenregister.
Die Hinterhöfe des Spiels

“Wir haben uns in unserer Darstellung eher auf die Hinterhöfe des Spiels konzentriert – einerseits weil sie weniger beleuchtet wurden, andererseits weil dort erfahrungsgemäß die interessanteren Geschichten erzählt werden” (S. 7). Und so kommen viele Personen und Aspekte zur Sprache, die selbst für eingefleischte Schachexperten noch Neues bieten. Neben der erwähnten Anna Votruba, der “wohl talentierteste[n] Wiener Schachspielerin des 19. Jahrhunderts”), tauchen Namen wie Philipp Stamma, George Koltanowski, Pierre Saint-Amant, Hugh O‘Donel Alexander oder Duncan Suttles auf, ebenso viele Literaten, Musiker und bildende Künstler, die eine Neigung fürs Schach verspürten. Die verurteilten Schwerverbrecher Claude Bloodgood und Norman Tweet Whitaker finden sich neben dem Schweden Rolf Martens, der durch seine unkonventionellen Eröffnungsideen eine gewisse Berühmtheit erlangte. Gleiches blieb Hermann Bermadinger verwehrt: Der Wiener Taxifahrer fasste in fortgeschrittenem Alter den Entschluss, Großmeister werden zu wollen. Dieses Unterfangen, obgleich wenig überraschend nicht von Erfolg gekrönt, brachte ihm ein einfühlsames literarisches Denkmal in “S/Madness” ein.
Von Benjamin Franklin bis zu Jan Donner

Ähnlich vielfältig sind die Kapitel, die nicht Personen, sondern Sachverhalte in den Blick nehmen: neben aktuellen Phänomenen des Internet-Schachs wie der Plattform PogChamps oder dem Bongcloud-Angriff finden sich Abhandlungen über Benjamin Franklins “The Morals of Chess”, die Geschichte der Ben-Oni-Verteidigung (sogar in zwei Kapiteln), den Pan-Amerikanischen Schachkongress 1945 und die “Arbeitskleidung der Schachmeister” (mit dem bemerkenswerten Satz über den holländischen Großmeister Jan Hein Donner: “Neben der Sizilianischen Verteidigung war der Geruch seine schärfste Waffe”).
Grenzen des Buch-Konzepts

Hier zeigen sich jedoch auch die Grenzen des Konzepts von “S/Madness”: Es werden nun einmal “nur” Kolumnen zusammengefügt, in denen – nolens volens – der Raum zu begrenzt ist, als dass ein Thema vertieft behandelt werden könnte. Solch eine Vertiefung hätte sich bei der Arbeitskleidung der Schachmeister mit den Themen Dresscode, Bekleidungsvorschriften für Spieler/innen und den daraus resultierenden Kontroversen in den letzten Jahren durchaus angeboten.
Der gleiche Gedanke kam mir bei einem Kapitel zum Elo-System und seinem Namensgeber. Da wird Prof. Arpad Elo mit dem Satz zitiert: “Manchmal denke ich, ich habe Frankensteins Monster erschaffen! Die jungen Spieler interessieren sich mehr für die Elo-Wertung als für die Dinge auf dem Brett” (S. 121). Es hätte sich ganz logisch die Fortsetzung angeboten: “Aber dabei hat das Elo-System durchaus Schwächen, etwa die folgenden… Übrigens gab es in den letzten Jahren eine regelrechte Explosion der Elo-Zahlen in der Weltspitze, die folgende Gründe hat… Die Bedeutung der Elo-Zahlen manifestiert sich nicht zuletzt dadurch, dass viele Turnierveranstalter eine bestimmte Kategorie erreichen wollen. Dadurch fallen einige interessante Spieler mittlerweile regelmäßig durch das Sieb.” Die Fortsetzung im Kapitel lautet jedoch: “Trotz alledem: In der folgenden Partie vom Eliteturnier in Dortmund interessierte sich Magnus Carlsen sehr für die Dinge auf dem Brett.”, was die Überleitung zur Partie darstellt.
Diskrepanzen zwischen Text und Partie

Apropos Partie: Gelegentlich stellt diese einen regelrechten Bruch zum vorangegangenen Text dar. Auf S. 287 wird die Geschichte der berühmten Lewis-Schachfiguren erzählt. Anlass war die Versteigerung einer dieser Figuren im Sommer 2019 für einen horrenden Betrag. Einen zweiten, damals ebenso aktuellen Anlass präsentieren die Autoren durch die Partie, nämlich den Tod des amerikanischen Großmeisters Pál Benkő. Es gibt natürlich absolut keine Möglichkeit, die Versteigerung einer Schachfigur und das Ableben eines Großmeisters in einem Kapitel sinnvoll zusammen zu fassen. Das liest sich im Kapitel dann so: “Vergänglicher als das Ein-Millionen-Dollar-Ding aus Walrosszahn ist leider der Mensch: Pál Benkö (1928-2019) wurde aber immerhin 91 Jahre alt.” Für eine Zeitungskolumne ist der ziemlich an den Haaren herbeigezogene Übergang sicher in Ordnung, für ein Buch wäre es aus meiner Sicht in solch einem Fall geschickter gewesen, auf die Partie komplett zu verzichten und den Text für sich wirken zu lassen.
Exzellentes Schach-Lesebuch
Die Zielgruppe des Buchs sind ganz sicher die “typischen Schachamateure”, die auch die Schachkolumne im “Standard” lesen würden. Bereits die Tatsache, dass im Anhang in aller Kürze noch einmal die Regeln des Spiels erläutert werden, und ebenso die Art der Partiekommentierung zeigen, dass Ehn und Strouhal den Kreis ihrer Leser nicht auf geübte Spieler verengen wollen. Dazu gibt es auch keine Notwendigkeit, denn “S/Madness” bietet alles, was ein exzellentes “Schach-Lesebuch” ausmacht: Hervorragende Haptik, tadelloses Druckbild, viele Abbildungen, spannende Storys und Partien bzw. Probleme, die zum eigenen Nachdenken anregen, sowie ein origineller Schreibstil der Autoren. Man kann sich in solch einem Buch leicht verlieren, ist immer wieder versucht, weiterzublättern und Neues zu entdecken. Es ist ein Labyrinth aus Bildern, die trotz des etwas düsteren Untertons nie ihre Strahlkraft verlieren.

Was mir trotz allem etwas fehlt, ist der rote Faden. Da reihen sich historische Betrachtungen neben aktuelle Episoden aus dem lokalen und dem Weltschach und fiktive Begebenheiten. Angesichts der Fülle an Material, aus der die Autoren wählen konnten, hätte mir für das vorliegende Werk eine etwas stärkere Stringenz besser gefallen, etwa eine noch konsequentere Konzentration auf die Spieler und Themen der “zweite Reihe”, die für sich ja ausgesprochen charmant ist.
Doch dies war nicht die Intention der Autoren, und viele Leser werden sich gerade an der thematischen Vielfalt des Werkes erfreuen. In jedem Fall ist es ein Buch, das sowohl zum Schmökern an kalten Winterabenden einlädt als auch hervorragend als Weihnachtsgeschenk für den kulturell interessierten Schachliebhaber geeignet ist.♦
Michael Ehn & Ernst Strouhal: SMadness – Von Schönheit und Schrecken des Schachspiels, 608 Seiten, Album Verlag, ISBN 978-3-85164-212-4
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